Septuagesimae

Wir liegen vor dir mit unserem Gebet
und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit,
sondern auf deine große Barmherzigkeit.

Der Prophet Daniel 9, 18

Es gibt evangelische Christen, die, wenn sie an einem katholischen
Gottesdienst teilnehmen, durch nichts auf die Knie zu zwingen sind.
Während die katholischen Mitchristen knien, stehen sie da, aufrecht
und unbeugsam, als hätten sie einen preußischen Ladestock verschluckt.
Und gelegentlich hatte ich auch schon Brautpaare zu trauen, die
beim Gebet nach der Einsegnung partout nicht knien wollten. Nicht,
weil die Braut einen Knieschaden hätte, sondern grundsätzlich: Wir
können vor unseren Herrgott auch aufrecht hinstehen, haben sie gesagt.
Was sollte ich tun? Sie überreden? Sie nötigen? Sie nicht trauen?
Heute finden wir diese Haltung gelegentlich, wenn ein Christ sich
von den Muslimen unterscheiden will: Seht die Muslime an, wie sie
der Reihe nach am Boden liegen, die Stirn im Staub oder auf dem
Gebetsteppich. Was ist das für eine unterwürfige Religion und wie
froh bin ich, ein aufrechter Protestant zu sein.
Die Haltung, die sich hier ausdrückt, ist mir aus meiner Jugend
nicht ganz fremd. Damals vor allem in der Abgrenzung gegen die Katholiken,
bei denen überhaupt alles viel mehr auf Gehorchen und
Untertänigkeit abgestellt sei.
Dann gab mir das Wort von Rainer Maria Rilke zu denken: »Der
Kniende ist größer als der Stehende.«
Daniel kniet sonst dreimal am Tag in seinem Obergemach, die
Fenster in Richtung Jerusalem geöffnet (Dan 6,11). Hier, in diesem
großen Bußgebet (Dan 9), das er für sein ganzes Volk spricht, liegt er
vor Gott.
Wobei ich – um der Genauigkeit willen – nicht verschweigen will,
dass das Wort »liegen« im hebräischen Text gar nicht vorkommt. Den
hebräischen Text übersetzt Norman W. Porteous in seinem Kommentar
wörtlich so: »Nicht um unserer eigenen Heilstaten, sondern um
deiner großen Barmherzigkeit willen bringen wir unser Flehen vor
dich« (Dan 9,18). Und dann die folgenden Worte: »O Herr, höre; o
Herr, vergib; o Herr, gib acht und handle; um deiner selbst willen
säume nicht! O Gott, denn deine Stadt und dein Volk waren dir geweiht« (Dan 9,19).
Luther hat hier frei – aber aus dem Zusammenhang sinngemäß –
übersetzt. Das Bußgebet des Daniel ist das Gebet eines Menschen, der
wirklich vor seinem Gott in der flehendlichsten Haltung liegt: »Ach
Herr, du großer und heiliger Gott, (…) wir haben gesündigt, Unrecht
getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von
deinen Geboten und Rechten abgewichen, (…) du, Herr, bist gerecht,
wir aber müssen uns alle heute schämen, (…) dass wir uns an
dir versündigt haben« (aus Dan 9).
Keine Anklage gegen Gott, weil er sein Volk in Knechtschaft und
Demütigung hat geraten lassen. Mit dem großen Unglück, das über
uns kam, geschah uns, was durch Mose und die Propheten uns angekündigt
worden war als Folge unseres Abirrens von Gottes Recht.
»Wir, unsere Könige, unsere Fürsten und unsere Väter müssen uns
schämen, dass wir uns an dir versündigt haben« (Dan 9,8).
Das erinnert, gerade auch weil es ein politisches Bußgebet ist, an
das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945, das in unserem
evangelischem Gesangbuch (S. 1510) abgedruckt ist: »Mit großem
Schmerz sagen wir: durch uns ist unendliches Leid über viele Völker
und Länder gebracht worden (…) Wir klagen uns an, dass wir nicht
mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und
nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer
Anfang gemacht werden.«
Verglichen mit dem »Schuldbekenntnis der Kirche«, das Dietrich
Bonhoeffer wohl im Jahr 1942 niedergeschrieben hat und das wir in
seiner »Ethik« finden, ist die »Stuttgarter Schulderklärung« noch milde.
Und mit Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Völkermord
an den Juden in dieser Erklärung nicht einmal erwähnt wird.
Doch haben unsere Väter und Mütter größte Schwierigkeiten gehabt,
im Nachkriegsdeutschland zu dieser Schulderklärung zu stehen.
Ein großer Teil des Kirchenvolkes wollte von dieser Schuld überhaupt
nichts wissen. Selbst ein Bischof hat sich davon distanziert. Es wurde
der Kirche vorgeworfen, sie würde in der Stunde der Niederlage dem
eigenen Volk in den Rücken fallen, statt es aufzurichten. Sie würde
sich bei den Siegermächten einschmeicheln – der Text sei überhaupt
von den Bischöfen der Alliierten diktiert – statt diesen die Bombardierung
Dresdens und die Ungerechtigkeit der Entnazifierungs-Maßnahmen
vorzuhalten. Pfarrer, die sich entschieden zu dieser Schulderklärung
bekannt haben, hatten in ihren Gemeinden ein schweres
Leben. Ich denke in diesem Zusammenhang mit Wehmut und Hochachtung
an meine Eltern und ihre Freunde von der Sozietät und der
Kirchlichen Bruderschaft. Zu dieser Schulderklärung zu stehen, das
wurde zum teuren Bekenntnis.
Und selbst Leute meiner Generation (geb. 1941, ordiniert 1968)
hatten ihre ganze Amtszeit über zu tun mit Gemeindegliedern – auch
mit Kollegen, und diese waren gelegentlich am uneinsichtigsten, denen
dieses Bekenntnis der Schuld ein schweres Ärgernis war. Noch in den
siebziger Jahren stand ich vor der Frage, ob ich Leute beerdigen solle,
die wegen dieser Schulderklärung einst aus der Kirche ausgetreten waren.
Das Problem hat sich immer wieder in Variationen wiederholt,
besonders in den Gedenkjahren. Es konnte sich so äußern, dass Goldene
Konfirmandinnen, als ich ihnen am Abend ihres Festes Briefe
ihrer Mitkonfirmandin Sophie Scholl vorlas, wild ausgerastet sind.
Oder dass gegen die »Wehrmachtsausstellung«, die zeigte, wie auch
die Deutsche Wehrmacht in böse Verbrechen verstrickt war, wütend
protestiert wurde mit der Forderung: »Haltet den Ehrenschild der
Deutschen Wehrmacht blank!« »Wollen Sie sagen, dass mein Vater,
der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, ein Verbrecher war?« Das
konnte ich gelegentlich gefragt werden.
Es kann schwierig sein, Schuld des eigenen Volkes beim Namen zu
nennen. Das ist auch verständlich, wenn man daran denkt, wie notvoll die
Generation der Väter und der Mütter in diese Schuld hineingeraten ist
und wie sie in der Kriegsgefangenschaft, etwa im Bombensturm von
Dresden, in Trümmerlandschaften diese Schuld büßen musste.
Das Volk Israel hat dieses Bußgebet des Daniel in den Kanon seiner
heiligen Schriften aufgenommen. Wohl im Wissen, dass Neuan-
fänge nur möglich werden, wenn Schuld rückhaltlos in der Form des
Schuldbekenntnisses benannt wird. Freilich nicht einfach in der Form
einer »Schulderklärung«, sondern im Bußgebet, das wohl öffentlich ist,
das aber ganz an Gott gerichtet ist, der allein der Richter sein kann.
Das muss hier ganz deutlich in den Blick genommen werden, dass
es sich um ein Gebet handelt. Ein Gebet richtet sich an Gott, nicht
an den Herrn X und die Frau Y, die sich dann herausgefordert fühlen,
in der Sache, die hier genannt wird, Richter zu spielen. Und vielleicht
hätte man im Nachkriegsdeutschland mehr versuchen sollen, dem
entgegenzuwirken, dass die Frage der Schuld viel mehr in öffentlichen
Erklärungen abgehandelt wurde als im Bußgebet. Indem entweder
die Form der Erklärung gewählt oder das Bußgebet oft sehr schnell
umfunktioniert wurde in eine Erklärung, wurde es bald üblich, dass
ein gegenseitiges Rechten und Richten entstand. Später Geborene
schwangen sich zu Richtern über die Generation vor ihnen auf und
haben oft schnell, leicht und sehr pauschal geurteilt, ohne sich ehrlich
zu fragen, wie denn sie sich, wären sie zwanzig Jahre früher zur Welt
gekommen, in diesen Versuchungen und Zwängen verhalten hätten.
Menschen der vorigen Generation traten als Verteidiger der beschuldigten
Generation auf, oder sie sprachen Recht in eigener Sache. Mitgefühl
auch mit den Tätern wurde als Komplizenschaft gedeutet.
Selbst im kirchlichen Märtyrergedenken gelang es oft nicht, in das
Gebet auch die Täter miteinzuschließen. Die Schwiegertochter des
SS-Richters Otto Torbeck, der Dietrich Bonhoeffer und vier seiner
Mitverschwörer im völlig unrechtmäßigen Standgerichtsverfahren
zum Tode verurteilt hat, konnte es nicht erreichen, dass in Bonhoeffer-
Gedenkfeiern ein Kyrie eleison für den Schwiegervater gesprochen
wurde (vgl. dazu Elke Endraß: Bonhoeffer und seine Richter).
Freilich ist das Gebet Daniels kein Gebet im stillen Kämmerlein.
Es ist ein öffentliches Gebet. Und wenn er hier als »wir« spricht, dann
eben als Vertreter seines Volkes.
Kann er das? Darf er das? Und dürfen wir am 9. November, am
Buß- und Bettag, am 8. Mai in der Wir-Form Bußgebete sprechen für
unser Volk, von denen wir annehmen müssen, dass die meisten Zeitungsleser,
wenn sie es morgen so in der Zeitung lesen, sich davon
distanzieren, dass wohl auch diesem oder jenem Mitchristen, der im
Gottesdienst sitzt, bei solchen Formulierungen im Gebet sozusagen
das Messer in der Hosentasche aufgeht, weil er nicht bereit ist zu diesem
Gebet?
Wir werden aus der Schwierigkeit dieser Frage wohl nie herauskommen.
Und wir können auch niemanden nötigen, einem solchen
Bußgebet einfach ohne eigene Überzeugung zuzustimmen. Wir werden
es uns gefallen lassen müssen, dass wir kritisch hinterfragt werden,
und wir müssen bereit sein, auf kritische Rückfragen, auch wenn
sie heftig und böse klingen, einzugehen. Aber wir Christen haben
auch ein Mandat, stellvertretend für unser Volk Schuld zu bekennen,
so gewiss wir die Aufgabe haben, nicht nur für uns selbst, sondern
auch für die vielen Mitchristen in unserem Volk um die Vergebung
der Sünden zu bitten. Insofern gibt es ein legitimes und notwendiges
»Wir«, mit dem wir unserem Volk im Gebet vorangehen.
Daniel spricht sein Gebet im Vertrauen, nicht einfach in der Verzweiflung.
Luther würde vielleicht sagen »in getroster Verzweiflung«.
Aber dass er es zu dem Gott spricht, dem er vertraut, das ist sehr wesentlich.
Er spricht es zu dem Gott, von dem der Beter des Bußpsalmes
130 bekennt:

Denn bei dem Herrn ist die Gnade
und viel Erlösung bei ihm.
Und er wird Israel erlösen
aus allen seinen Sünden.
(Psalm 130,7.8)

Das Vertrauen hat also nicht im Geringsten seinen Grund in irgendetwas,
was man zur Rechtfertigung oder Entschuldigung seines Volkes
vorbringen könnte. Daniel ist weit davon entfernt, »auf unsere Gerechtigkeit
« zu vertrauen. Er macht also die ganze Diskussion, die in
dieser Frage durch die Jahrzehnte geführt wird, wer hier mehr und
wer weniger Unrecht getan hat, nicht mit. Unsere Gerechtigkeit liegt
keineswegs in diesen oder jenen erfreulichen Taten, die man von uns
auch melden und zu unserer Entlastung in die Waagschale werfen
könnte. Nichts davon! Sein Vertrauen setzt Daniel allein »auf deine
große Barmherzigkeit«.
Das ist ein Begriff, der ein starkes, geradezu tief im Körper empfundenes
Mitgefühl bezeichnet. Der Vater im Himmel, der sein Volk
schuldig werden und seine Schuld büßen sieht, leidet zutiefst mit.
Und er hat die Freiheit, sein Mitgefühl sprechen zu lassen. Er ist der
Gott, von dem es in der Mitte der hebräischen Bibel heißt: »Barmherzig
und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte« (Ps
103,8).
Es könnte sein, dass in unserer bisherigen Lebenszeit im Zusammenhang
mit der unerhörten Schuld, die unser Volk noch heute
belastet, zu wenig vom barmherzigen Gott und von der Vergebung
gesprochen wurde, vor allem, dass wir ihn und seine Vergebung zu
wenig oder zu wenig überzeugend bezeugt haben.
Ein Kirchenhistoriker, Angehöriger der »Flakhelfer-Generation«,
den die Frage, wie unsere Kirche mit der Schuld der Menschen seiner
Generation umgeht, noch immer sehr umtreibt, schrieb mir einmal.
Fast nie hätte er in all den Jahrzehnten im Zusammenhang mit der
Schuld, die Menschen seiner oder früherer Generationen auf sich genommen
hätten, den schlichten Zuspruch der Vergebung gehört.
Das ist eine harte Feststellung, getroffen im Blick auf eine Kirche,
welche die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders aus reiner
Gnade als Zentrum ihres Glaubens bekennt. Hat er diese Botschaft
überhört? Oder bekam er sie nicht zu hören?

Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben.
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
So fern der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsere Übertretungen von uns sein …

Daniel führt uns mit seinem Gebet zu dem Gott, in dessen Namen
wir einander ganz persönlich bezeugen dürfen: Dir sind deine Sünden
vergeben.

Wegworte zum Herunterladen: 16_3.So_v.d_Passions (pdf)