7. Sonntag nach Trinitatis

So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.

Der Brief des Paulus an die Epheser 2, 19

Gast sein kann bei gastfreien Freunden schön sein. Wenn ich wissen
darf, sie haben ihre Einladung wirklich so gemeint. Sie freuen sich,
wenn ich komme. Aber sie haben noch anderes zu tun, als mir aufzuwarten.
Weshalb ich damit rechnen muss, dass sie sich auch freuen,
wenn ich wieder gehe. Es kann bei solchen Besuchen irgendwann geradezu
eine peinliche Spannung aufkommen. Die Gastgeberin sollte
wissen, wann ich wieder gehe. Sie möchte wissen, wie sie disponieren
kann im Blick auf das Essen, im Blick auf ihre häuslichen Arbeiten,
zu denen sie erst wirklich frei ist, wenn der Gast weg ist. Im Blick auf
die Freundin, die etwas mit ihr unternehmen will. Im Blick auf die
erwachsenen Kinder, die mit ihren Kindern kommen wollen und die
das Zimmer brauchen. Und ein paar Tage Ruhe brauchen die Gastgebenden
dann auch. Es ist alles nur ein Weilchen schön. Aber die Gastgeberin
möchte den Gast nicht verletzen, weshalb sie ihn nach dem
Datum seiner Abreise nicht fragt.
Auch hat der Gast seinerseits sich an seine Rolle als Gast zu halten.
Es geht nicht an, dass er, wenn in der Familie schwierige Entscheidungen
getroffen werden, mitredet. Selbst wenn er um seine Meinung
dazu gefragt wird, tut er gut daran, sich sehr zurückhaltend zu
äußern. Er gehört nicht dazu. Und allzu leicht könnte sein Rat Mitglieder
der Familie gegeneinander aufbringen. Es ist das Beste, er hält
sich da ganz heraus. Es ist ein großer Unterschied, ob ich Gast bin
oder ob ich ganz dazugehöre.
Sehr viel schwerer hat es der Fremde oder der Fremdling. Kein Wunder,
dass unsere Dichter die Nöte des Fremdlings beredt zur Sprache
bringen. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, singt
Franz Schubert mit Texten von Wilhelm Müller in seiner »Winterreise«.

Nun sind wir also nicht mehr Gäste und Fremdlinge. Das waren
wir. Das ist vorbei. Das Wort »nun« oder »nun aber« bezeichnet im
Neuen Testament oft: Etwas Neues hat begonnen. Die Situation hat
sich grundlegend geändert. Es ist etwas geschehen, das wie eine Zeitenwende
ist. Wir stehen jetzt auf dem Boden ganz neuer Tatsachen.
Das hängt mit dem zusammen, was durch Jesus Christus in die
Welt und in unsere ganz persönliche Geschichte kam. Gott wurde einer
von uns, ein Mensch. Nicht wie ein Kirchenvater gesagt hat, um
uns Menschen göttlich zu machen oder gar zu Göttern werden zu lassen.
Er hat uns als Menschen geschaffen. Und wir haben keine größere
Bestimmung als die, wirkliche Menschen zu sein, miteinander
menschlich, geschwisterlich zu leben.
Das können wir aber erst, wenn die Grenze zwischen drinnen und
draußen vor der Tür, zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen
dem Hausgenossen, der dazu gehört, und dem Gast, der nur
vorübergehend da ist, überwunden, wird.
Wenige Verse vorher ist davon die Rede, dass Jesus Christus »den
Zaun abgebrochen hat«, »der dazwischen war«. Es ist der Zaun, der
Gott und Mensch trennt, ebenso wie der Zaun, der die Glieder des
von Gott erwählten Volkes, des »Volkes seiner ersten Liebe« (Friedrich
Heer) von den Menschen aus den Heidenvölkern trennt.
Weil das ein Faktum ist, das Jesus Christus mit seinem Leben und
Sterben besiegelt hat, darum gibt es nun einen ganz anderen Status
für die Menschen, die sich in ihrem Leben und Sterben an ihn halten.
Nun sind sie nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger
der Heiligen und Gottes Hausgenossen.
Mitbürger der Heiligen werden wir zuerst genannt. Das Bild einer
Stadt, wie es uns von den letzten beiden Kapiteln der Bibel (Offb 21
und 22) vertraut ist, taucht zuerst auf. Mitten in der Weltgesellschaft
der Milliarden Menschen jeder Hautfarbe und verschiedenster Kultur
die Stadt Gottes, das neue Jerusalem, das wir Menschen nicht schaffen,
das »von Gott aus dem Himmel herab fährt«; das heißt mitten in
der alten Weltgesellschaft die neue Gesellschaft, die allein durch das
Wirken seines Geistes entstanden ist. Auch diese Stadt nicht etwa
kleinstädtisch eng, eine abgezirkelte fromm introvertierte Gemein-
schaft von Menschen, welche die Köpfe zusammenstecken und den
Außenstehenden die kalte Schulter oder ihren verlängerten Rücken
zeigen. Wer die Maße ernst nimmt, die in Offenbarung 21,16 genannt
werden, kommt auf eine Stadt von nie dagewesener Weite und
Breite. Sie ist etwa zweitausend Kilometer lang und ebenso breit. Eine
Breite, in der sehr viel Platz ist! Gottes neue Gesellschaft, durch die er
die Weltgesellschaft erneuern will, durch die er der Gesellschaft dieser
Welt zuerst einmal ein gültiges, verlockendes Modell vor Augen stellt,
ist so weit, dass sie getrost alle Völker zu sich einladen kann.
In dieser neuen Gesellschaft Gottes, zu der wir gehören dürfen, haben
wir Bürgerrecht. Wer von der Wiege an sein Leben lang in seinem
Heimatland Bürgerrecht hatte, zuerst das Recht des Kindes,
dann das Recht des mündigen Bürgers, der kann gar nicht empfinden,
was es heißt, als Fremder das Bürgerrecht zu erhalten. Einmal
besuchte mich ein Mann aus Anatolien, der durch Fürsprache und
vor allem durch seine zuverlässige Art, auch durch bestandene Tests,
es erreicht hat, dass ihm die deutsche Staatsbürgerschaft gegeben wurde.
Er kam, schwerkrank, um sich zu bedanken. Eine zu Herzen gehende
Szene spielte sich in meinem Studierzimmer ab, die ich nie vergessen
werde. Endlich, endlich war der Schwerkranke das, was er
immer erhofft hatte: ein Mitbürger mit allem, was dazugehört an
Rechten und Pflichten. Endlich nicht mehr ein von der Abschiebung
bedrohter Fremder! Er brachte mir in einem hübschen Bilderrahmen
das Vaterunser in aramäischer Sprache. Es hängt inzwischen neben
meinem Schreibtisch. Es erinnert mich an die Dankbarkeit dieses
Mannes, nun nach so vielen Jahren ein Mitbürger geworden zu sein.
Einer, der nun ganz dazugehört.
Mitbürger der Heiligen dürfen wir sein. Christus allein ist der Fürsprecher,
der sich mit Leib und Leben für uns einsetzt. Das genügt.
Und vor allem: wenn Paulus seine Briefe »allen Geliebten Gottes und
berufenen Heiligen zu Rom« (Röm 1,7), »den berufenen Heiligen« in
Korinth (1. Kor 1,2), den »Heiligen zu Ephesus« (Eph 1,1) schreibt,
dann meint er gewiss nicht eine Upperclass, eine Elite in diesen Gemeinden;
vielmehr gilt sein Brief allen, die sich von Jesus Christus in
die Gemeinde rufen ließen.

Mitbürger der Heiligen sein, was kann das heißen? Es bedeutet,
dass wir zu einer engen Gemeinschaft bestimmt sind mit allen Menschen,
die bewusst von der Gnade Jesu Christi leben, die auf ihn als
die Hoffnung ihres Lebens sehen, die auf ihn hören und die sich redlich
bemühen, ihr Leben nach seiner Weisung zu führen.
Gemeinschaft mit ihnen heißt durchaus, dass wir, wenn wir beten,
nicht nur als Einzelseele vor Gott treten, sondern als Volk Gottes, verbunden
mit Menschen aller Kulturkreise, die durch Jesus Christus mit
uns verbunden sind. Und das gilt auch für Christen, die lang vor uns
gelebt, geglaubt, gehofft, gestritten, gelitten und dabei Gottes barmherzige
Durchhilfe erfahren haben. Die »Communio Sanctorum«, die
Gemeinschaft der Heiligen, so hat Jürgen Moltmann es einmal formuliert,
ist ein großer Kreis von Menschen, die durch Jesus Christus aus
allen Nationen zusammengerufen und bei ihm zusammengehalten
wurden. Die Todeslinie zerteilt diesen Kreis. Keiner von uns kann sie
überwinden. Der Kreis ist durch den Tod in zwei Halbkreise zerschnitten.
Doch Jesus Christus ist die Mitte beider Halbkreise. Und durch
ihn sind wir, die irdisch Lebenden, mit denen unlösbar verbunden, die
dieses Erdenleben hinter sich gebracht haben.
Dieses Wissen soll uns nicht zu irgendeinem parapsychologischen
Verkehr mit den Toten verlocken. Die Verbindung geht allein über Jesus
Christus. Wir wissen uns als Glieder in einer langen Kette. Wir
haben das Evangelium von unseren Vätern und Müttern im Geist
empfangen und haben mit ihm unsere eigenen Erfahrungen gemacht.
Wir geben es weiter an die kommenden Generationen. Den Glauben
können wir nicht weitergeben, aber die Botschaft, die in der Kraft des
Heiligen Geistes Glauben weckt. Dieses Leben in der Gemeinschaft
der Heiligen, gerade auch der Heiligen, die vor uns geglaubt, gezweifelt,
geliebt und gehofft haben, kann uns ebenso ein gewisses ruhiges
Selbstbewusstsein geben, wie es uns entlastet von dem Druck, wir
müssten und könnten in unserer Generation ganz außergewöhnliche
Verwirklichungen des Christentums hervorbringen.
Mitbürger der Heiligen: Diese Würde soll uns ja nicht dazu verführen,
unsere Bürgerpflichten auf dieser Erde, in der Kommune, im
Staat, in der Völkerwelt gering zu achten. Im Gegenteil. »Suchet der
Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn; denn wenn ihr’s wohl
geht, so geht’s auch euch wohl.« Wir Christen haben allen Grund,
redlich mitzuarbeiten in Stadträten, Kreistagen, in Parlamenten, in
Bürgerinitiativen, die dem menschlichen Zusammenleben dienen.
Wer Zeit und Kraft findet, soll einer politischen Partei beitreten und
dort die Weisheit des Evangeliums zur Sprache bringen, so gut es ihm
gelingt. Das heißt nicht, dass wir Christen uns am besten alle in derselben
Partei wiederfinden sollten. Aber es wird zwischen Christen in
verschiedenen Parteien immer eine Art Wiedererkennungseffekt geben.
Und vielleicht können Christen auf diese Weise das Miteinander
der Parteien, von dem die Demokratie lebt, befördern und der Selbstgerechtigkeit,
die in den Parteien und zwischen den Parteien die politische
Arbeit erschwert, entgegenwirken.
Und Gottes Hausgenossen. »Gutes und Barmherzigkeit werden
mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Haus des
Herrn immerdar« (Ps 23,6), darin gipfelt der Psalm, den man neben
dem Vaterunser und den Seligpreisungen wohl zu den bekanntesten
Stücken religiöser Weltliteratur zählen kann. Das Bleiberecht ist in
den letzten Jahren im politischen Bereich zu einem von vielen Menschen
über alles ersehnten Ziel geworden. Und es sieht so aus, als
würde diese Entwicklung sich noch verschärfen. »Bleiben im Haus
des Herrn für immer«. Bei Paul Gerhardt finden wir oft Verse, in denen
er diese Hoffnung ausdrückt. Gelegentlich, wie etwa in seinem
Lied »Ich bin ein Gast auf Erden«, verwendet der mit erdrückendem
Leid und Ärger konfrontierte Dichter auch Ausdrücke, in denen er
seine Ungeduld über das, was er erlebt, ausdrückt. Darf man das? Riskiert
man damit nicht, als weltflüchtig abgestempelt zu werden? Paul
Gerhardt steht zu seinen Gefühlen, zu seiner Enttäuschung, seinem
Zorn, wenn er schreibt:

Die Welt bin ich durchgangen,
dass ich’s fast müde bin.
Je länger ich hier walle,
je wen’ger find ich Lust,
die meinem Geist gefalle;
das meist ist Stank und Wust.
Die Herberg ist zu böse,
der Trübsal ist zu viel…


Wahrscheinlich ist es gesünder, man steht immer wieder zu seiner
Enttäuschung, als dass man sich, weil irgendwer das von uns erwartet,
zum »positiven Denken« unter allen Umständen zwingt. Und akzeptieren
wir auch ein gewisses Heimweh nach dem, was wir in Ermangelung
eines besseren Ausdrucks Himmel nennen! Auch zu ihm steht
Paul Gerhardt, derselbe, der die Schönheit dieser Erde in dem Lied
über die »liebe Sommerzeit« wie kein anderer beschrieben hat:

Da will ich immer wohnen,
und nicht nur als ein Gast,
bei denen, die mit Kronen
du ausgeschmücket hast;
da will ich herrlich singen
von deinem großen Tun
und frei von schnöden Dingen
in meinem Erbteil ruhn.

(EG 529)

Wegworte zum Herunterladen: 41_7.So.n.Trinitatis (pdf)