Erntedank

Aller Augen warten auf dich,
und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Du tust deine Hand auf und sättigst alles,
was da lebt, nach deinem Wohlgefallen.

Die Psalmen 145, 15-16

Aller Augen! Da sind nicht nur Juden und Christen gemeint. Und
überhaupt nicht nur alle Menschen, sondern das meint auch die Tiere
in ihrer unendlichen Vielfalt und Vielzahl. Sie alle warten darauf, dass
Gott »zur rechten Zeit«, das heißt in der Zeit, in der er ihnen das Leben
gewährt, seine Hand auftut und sie Nahrung finden lässt.
Sie warten auf Gottes sich öffnende Hand. Es entspricht dieser
Vorstellung, wenn wir, wo wir können, den Begriff »Natur« vermeiden
und lieber von der Kreatur, von Gottes Schöpfung sprechen. Der
Begriff der Natur bekommt leicht die Bedeutung einer in sich ruhenden
Natur, die ohne Gott sich selbst erneuert und selbst zur Lebensspenderin
wird. Oft wird sie dann auch gleich als Gottheit verehrt,
mit Gott gleichgesetzt, wie beim dem Philosophen Spinoza: »Deus sive
natura«, Gott ist gleich Natur.
Gott kann seine Hand auch schließen oder zuhalten. »Verbirgst du
dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du weg ihren Odem, so
vergehen sie und werden wieder Staub. Du sendest aus deinen Odem,
so werden sie geschaffen, und du machst neu die Gestalt der Erde« (Ps
104,29. 30). Alles Geschaffene befindet sich in schlechthinniger Abhängigkeit
von Gott, dem Schöpfer und Erhalter.
Wir Menschen machen hier letztlich keine Ausnahme. Wir können
durch große Fortschritte in der Züchtung der Pflanzen, in der
Kultivierung der Böden, in der Lagerung und Konservierung der
Früchte, in der Verteilung der Nahrungsmittel über weite Entfernungen
hin unsere Ernährung weitgehend selbst in die Hand nehmen.
Aber wir werden immer abhängig von den Faktoren, die wir nicht in
der Hand haben: vom Wetter, von Wasser, Wind und Sonne. Und es
ist auch gar nicht zu wünschen, dass der Mensch eines Tages »das
Wetter machen« kann. Es würden mit großer Wahrscheinlichkeit böse
Kriege ausbrechen um die Vorherrschaft in Sachen Wetter. Besser, wir
bleiben in dieser grundsätzlichen Abhängigkeit und versuchen, durch
Vorsorge und bessere Verteilung den Widrigkeiten des Wetters entgegenzuwirken.
Freilich unterscheiden wir Menschen uns von den Tieren grundsätzlich
darin, dass wir die Möglichkeiten hätten, die Nahrung, die
Gott uns üppig gedeihen lässt, global so zu verteilen, dass niemand
hungern müsste. Die Mengen der Nahrung, die vernichtet wird, weil
unsere Marktordnung es offenbar so gebietet, sind immens. Und
wenn wir daran denken, dass Bauern Prämien dafür bekommen, dass
sie weniger von ihren hochwertigen Nahrungsmitteln erzeugen, während
an anderen Orten der Erde Menschen zu Hunderttausenden
sterben, dann spüren wir, dass die politische Weltwirtschaftsordnung,
die wir mitverantworten müssen, eine Weltwirtschaftsunordnung ist.
Es ist durch nichts zu rechtfertigen, dass unzählige Menschen an
Hunger sterben, während die Nahrungsmittel, die ihnen das Leben
erhalten könnten, planmäßig vernichtet werden und bei uns darüber
sinniert wird, ob man nicht auch mit Getreide Öfen heizen könnte.
In früheren Zeiten konnte man angesichts des Hungers in fernen Erdteilen
mit einem gewissen Recht sagen: »Wir können ihnen nicht helfen.
Sie wohnen zu weit weg.« Heute zählt diese Ausrede nicht mehr.
Wer in wenigen Stunden jedes Land der Erde zu Urlaubsreisen besuchen
kann, der kann, wenn er sich mit anderen Menschen in der
rechten Weise zusammentut und die politische Ordnung entsprechend
verändert, sehr viel tun, dass der ferne Nächste leben kann.
Das erste Wörtchen dieses Spruches zum Erntedankfest, das Wörtchen
»aller« erinnert uns daran.
Doch feiern wir das Erntedankfest vor allem, um Gott für das, was
auf unseren Feldern gewachsen ist, zu danken. Die Sitte des Dankens
ist wenig verbreitet. Auf das Tischgebet wird von vielen Menschen
verzichtet. Sie betrachten die Nahrungsmittel als Erzeugnisse, die produziert
und für Geld gekauft wurden. Sie sehen nur das an ihnen, was
Menschen gemacht haben. Sie können das Lied des Matthias Claudius
allenfalls in der ersten Zeile mitsingen »Wir pflügen, und wir
streuen den Samen auf das Land« und sie könnten allenfalls weitersingen,
wenn im Lied weiter das Ernten und Verarbeiten der Früchte zu
leckeren Speisen besungen würde. Ausgeblendet wird, was Claudius
weitergedichtet hat:

… doch Wachstum und Gedeihen
steht in des Himmels Hand:
Der tut mit leisem Wehen
sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn heim wir gehen,
Wuchs und Gedeihen drauf.
Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt,
drum dankt ihm, dankt,
und hofft auf ihn.
(EG 508)

Es ist unser Vorrecht als Menschen gegenüber allen anderen Kreaturen,
dass wir Gott bewusst danken können für die Früchte, die er für
Mensch und Vieh in verschwenderischer Fülle und Vielfalt wachsen
lässt. Und wir Christen haben im Besonderen die Aufgabe, diesen
Dank an den Schöpfer und Erhalter immer neu einzuüben bei Alt und
Jung. Besonders bei unseren Kindern, weshalb es eine wohlbegründete
Sitte ist, dass am Erntedankfest die Kinder des Kindergartens den Gottesdienst
mitgestalten. Das sollte nicht ins Belieben der Erzieherinnen
gestellt sein. Hier könnte und sollte der Träger des Kindergartens von
Anfang an deutlich machen: Damit rechnen wir und das wollen wir.
Es gehört zur erzieherischen Aufgabe, um deretwillen wir unsere Kindergärten
trotz des allseits bekannten Finanzdrucks halten. Kinder, Eltern,
Großeltern, die ganze Gemeinde soll sich am Erntedankfest zum
festlichen Dankgottesdienst versammeln und Gott danken für seine
spürbare Güte. Sie sollen dabei sich gegenseitig daran erinnern, welche
unverdiente Gnade es ist, dass wir satt werden. Sie sollen Jung und Alt
deutlich machen, wie ungehörig und dumm es ist, wohlbereitete Speisen
herummäkelnd zu verschmähen, und sollen miteinander neue Vorsätze
fassen, denen, die hungern in der Nähe und in der Ferne, mit
spürbarer Hilfe zu helfen.
Wenn es heißt: »Du tust deine Hand auf und erfüllst alles, was lebt,
nach deinem Wohlgefallen«, dann ist dieser Satz kein Anlass zu fragen,
warum Gott das offenbar bei vielen Menschen nicht tut. Es ist ein An-
lass, dass wir Menschen, die wir uns so gerne als Krone der Schöpfung
verstehen und unsere technischen Errungenschaften rühmen, fragen,
warum wir es als Beauftragte Gottes auf dieser Erde noch nicht so weit
gebracht haben, dass dies wirklich durch uns geschieht.
Besonders im Blick stehen am Erntedankfest auch unsere Bauern.
Ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Rahmen nicht nur der europäischen,
sondern auch der globalen Konkurrenz sind bekannt. Sie
kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben. Wenn während meiner
Schulzeit in den fünfziger Jahren der durchschnittlich verdienende
deutsche Bundesbürger für seine und seiner Familie Ernährung über
fünfzig Prozent seines Einkommens ausgegeben hat, so heute etwa
zwölf Prozent. Diese Zahlen erklären so ziemlich die Lage der Bauern
am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Wir danken Gott für seine Gaben, die er uns mit Hilfe der Arbeit der
Bauern wachsen lässt. Ist unser Dank nur ein oberflächlicher Dank der
Lippen? Danken wir von Herzen? Geht unser Dank noch tiefer, bis in
die Hosentasche, wo der Geldbeutel sitzt? Dann werden wir uns dafür
einsetzen, dass die landwirtschaftlichen Produkte besser bezahlt werden.
Erst dann haben wir auch ein Recht, Bauern zu bitten, in Sachen
Chemikalien bei der Unkrautbekämpfung und bei der Düngung des
Bodens behutsam zu sein. Und erst dann wird der Bauer es hören
können, wenn wir – wie das Evangelische Bauernwerk das beharrlich
aus guten Gründen tut – unsere skeptischen Fragen stellen an die
Ausweitung der Gentechnik zur Entwicklung neuer Pflanzenarten.
Wir Menschen sind berufen, als Züchter, Heger und Pfleger die
uns anvertraute Erde zu bearbeiten. Ein Mandat, als Mitschöpfer aufzutreten,
finden wir in der Bibel nicht. Zwischen Züchtung und Kreation
neuer Arten ist eine deutliche Grenze. Sie zu überschreiten, das
ist ein folgenreicher Schritt. Selbst wenn die Motivation derer, die
hier etwas entwickeln, durch und durch humanitär wäre – Kartoffeln
für die Sahelzone, Erdbeeren für Alaska, resistente Getreidesorten für
das Hochland Tibets, durch neue Pflanzenarten der Ernährung der
hungernden Menschheit dienen – sollten uns die ablehnenden Stimmen
aus Afrika warnen. Sie zeigen auf, wie durch die Gentechnik die
Bauern ihrer Freiheit und Selbstständigkeit beraubt werden und ganz
abhängig werden von den Großkonzernen. Von den Folgen für die
Veränderung des hochsensiblen Organismus der Kreatur ganz zu
schweigen.
Vielleicht gehört die Frage der Gentechnik nicht zu den Fragen,
die wir mit einem kategorischen Nein beantworten können. Der
Sachverstand der damit Befassten darf durch die Bedenken des Theologen
nicht für gleichgültig erklärt werden. Man wird diese Frage in
Gemeindeforen, etwa auch im Distrikt oder auf Kirchenbezirksebene,
in Rede und Gegenrede zu diskutieren haben. Aber dass der Schritt
vom Züchter zum Mitschöpfer ein sehr folgenreicher Schritt ist, das
zumindest sollte von Seiten der christlichen Gemeinde in allem Nachdruck
deutlich gemacht werden.

Wegworte zum Herunterladen: 54_Erntedankfest (pdf)