18. Sonntag nach Trinitatis

Dies Gebot haben wir von ihm,
dass wer Gott liebt, dass der
auch seinen Bruder liebe.

Der erste Brief des Johannes 4, 21

Es ist ein Gebot, an das uns der Verfasser des Johannesbriefes erinnert.
Ein Gebot, nicht lediglich eine Anregung, die wir aufnehmen oder auch
beiseite lassen könnten. Und das Gebot ist von keinem Geringeren
als von ihm, dem Herrn der Kirche. Kein Apostel, kein Bischof, keine
Synode, kein Papst, kein Konzil hat es erlassen, sondern er, der Herr.
Johannes wird wohl das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37ff.) meinen,
aber auch die Gesamtaussage des Lebens und der Lehre Jesu.
»Ihr Lieben, hat Gott uns so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander
lieben« (1. Joh 4,11).
Ein solches Gebot sollen wir erfüllen. Wir riskieren unser Verhältnis
zu Jesus Christus, wenn wir das nicht erfüllen. Die Frage, wie wir
zu unseren Schwestern und Brüdern stehen, ist nicht in unser Belieben
gestellt, als dürften wir sie nach Lust und Laune – »ich mag sie«
oder »ich mag sie leider nicht« – entscheiden.
Was ist der Inhalt seines Gebotes? »Dass, wer Gott liebt, dass der
auch seinen Bruder liebe.« Das betont der alte Presbyter Johannes, der
einzige im Neuen Testament, der die Gemeindeglieder mit dem großväterlichen
Wort »Teknia«, Kindchen, anreden darf. »Wer sagt, er sei
im Licht, und hasst doch den Bruder, der ist noch in der Finsternis.
Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht« (1. Joh 2,9). Oder:
»Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben,
den er nicht sieht?« (1. Joh 4,20).
Freilich sollten wir, ehe wir uns für unfähig erklären, dieses Gebot
zu erfüllen, da wir doch unseren Gefühlen nicht gebieten könnten, da
das mit Sympathie und Antipathie so eine Sache und nicht in unsere
Verfügung gestellt sei, klären, was im Neuen Testament mit »lieben«
gemeint ist. Das Wort meint nicht irgendein starkes Gefühl, das mich
zum anderen hinzieht, es meint vielmehr, dass ich immer neu versuche,
mich in seine Haut hineinzuversetzen. Mit seinen Augen zu se-
hen oder, wie die Indianer sagen, in seinen Mokassins zu gehen. Es
bedeutet, den Anderen höher zu achten als mich selbst, auch auf das
zu sehen, was des Anderen ist (Phil 2,4), seine Interessen wahrzunehmen,
für ihn einzutreten, wenn ihm Unrecht getan wird, ihm auszuhelfen,
wenn er in irgendeiner Verlegenheit ist. Es dreht sich hier sehr
viel mehr um eine praktische als um eine emotionale Liebe. Wobei
freilich die Liebe Christi auf die Dauer auch an unseren Emotionen
etwas verändern könnte, sodass wir dem Bruder, der Schwester, nicht
kalte Werke servieren, sondern sie in ihrer anstrengenden, vielleicht
auch anstößigen Art auch immer mehr verstehen werden.
Was hat Johannes in den Gemeinden erlebt, dass er diesen Zusammenhang
von Gottesliebe und Bruderliebe so nachdrücklich betont?
Gab es damals schon Entwicklungen, in welchen Christen ihre
Beziehung zu Gott ganz eigentümlich pflegten, etwa als eine Beziehung
mystischer Innigkeit, als Gottesminne, die keinen Zutritt Anderer
verträgt, oder als eine Beziehung des üppigen Lobpreises, sodass
sie sich damit von anderen Christen, die da nicht so mitkonnten,
unterschieden? Haben sie diese ihre spezielle Ausprägung der Gottesbeziehung
als ihren eigenen Weg besonders betont, sodass sie sich einiges
darauf eingebildet und sich so vor der restlichen Gemeinde isoliert
haben? Gab es Gräben und Konflikte, in deren Verlauf einzelne
Vertreter dieser fortgeschrittenen Spiritualität gegenüber ihren Kritikern
geradezu gehässig wurden im Sinne von »Ihr versteht das sowieso
nicht! Ihr werdet das nie verstehen! Ihr werdet nie soweit kommen!«?
Nun wird der alte milde Mann aber doch hellhörig. Diese Töne
stimmen nicht zur Liebe Christi. Er erinnert die »Kindchen« klipp
und klar an Jesus und sein Gebot: »Das Gebot haben wir von ihm,
dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.«
Warum gehören die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Geschwistern
untrennbar zusammen? Weil der Gott, den wir verehren und mit
unserer Liebe suchen, in Jesus ein Mensch wurde, einer wie wir. Weil
Jesus die Liebe Gottes zu den Menschen verkörpert, gelebt, im Leiden
und Sterben bewährt hat. Weil er seine Gemeinde um sich sammelt,
weil er so sehr sich mit seiner Gemeinde identifiziert, dass man seine
Gemeinde auch seinen Leib nennen kann. Die Glieder dieses Leibes gehören
unmittelbar zusammen. Das Leben in diesem Organismus dul-
det keine fromme Absonderung von den Anderen. Sie würde das Leben
dieses Leibes empfindlich kränken, sodass dieser Leib zur Ausübung seines
Auftrages erheblich geschwächt wäre. Daher dieser elementare Zusammenhang:
Liebe zu Gott und Liebe zu den Geschwistern.
Wir können es auch mit einem Bild sagen, das Karl Barth gebraucht
hat: Ist die Liebe zu Gott die Quelle unserer Liebe – aus Gottes
Liebe, die wir mit unserer Liebe zu ihm aufnehmen, strömt uns alle
Kraft zu, so ist die Liebe zu den uns begegnenden Menschen der Bach.
Wir können auf die Dauer die Geschwister nicht lieben, ohne dass wir
in unserem Gottesverhältnis immer wieder neu die Kraft dazu schöpfen.
Denn die Brüder – und Schwestern! – sind oft etwas sperrig, sie
machen es uns nicht unbedingt leicht. Von uns werden sie vermutlich
dasselbe sagen. Wir sind zu verschieden gestrickt. Die Wellenlängen
wollen nicht zusammenpassen, die Geschmäcker, die Mentalitäten, die
Temperamente, die Verhaltensweisen, die Spontanreaktionen. Wir ticken
verschieden. Es ist oft fast so, wie im Verhältnis zweier Berliner,
die einander sagten: »Auf die Ferne hab ick dir gerne, in die Nähe tuste
mich wehe.« Unter diesen Umständen zu erwarten, dass wir aus der
Liebe zu unseren geistlichen Geschwistern die Kraft zu ihr schöpfen,
das ist nicht realistisch. Der Bach, der sich selbst Quelle sein will,
überfordert sich. Er braucht anderswo eine Quelle. Das ist ein Naturgesetz.
Du kannst den Bach nicht ohne die Quelle haben.
Und andererseits: Ein Gottesverhältnis, das ich ganz allein mit
Gott habe, in welchem die Anderen draußen bleiben müssen wie die
Hündlein vor dem guten Salon, eine Gottesliebe, in der die Schwester
und der Bruder gar nicht vorkommen, weil ich das Mysterium meiner
Spiritualität nur für mich genieße, sie mag noch so hoch entwickelt
und gepflegt sein, sie hat längst das, was man in Württemberg »a
Gschmäckle« nennt. Sie wird zum Kunstobjekt, das Elementare wird
bald abgehen. Wer sich immer nur um Gott und die Seele dreht, der
macht aus der Beziehung zu Gott ein Feld, auf dem sich unsere spirituell
getünchte Eitelkeit selbst feiert. Dann geht es in diesem unserem
Gottesverhältnis in einem Maß um die Höherentwicklung unserer
Innerlichkeit oder Spiritualität, das Gott fremd bleibt, solange so viele
Menschen vom Evangelium unerreicht in ihren Sünden, Nöten, Ängsten
leben und sterben.
Darum: Auch damit unser Gottesverhältnis frisch und gesund
bleibt, muss das Wasser der Quelle immer neu abfließen in den Bach
der geschwisterlichen Liebe. Aber wer sind die Geschwister? Im
Gegensatz zum Alten Testament, in welchem der Bruder der leibliche
Bruder, mindestens der Angehörige des gleichen Stammes oder des
Bundesvolkes ist, bezeichnen die Worte Bruder, Schwester, Mutter,
Vater eine Nähe der Blutsverwandtschaft. In dem Augenblick, in dem
der Messias geboren wurde, werden die Begriffe stark verändert: Nun
bezeichnen die Worte Bruder, Schwester, Vater, Mutter Beziehungen,
die der Herr geschaffen hat, indem er ganz verschiedene Menschen
aus verschiedenen Herkünften in seine Gemeinde, in die neue Familie
Jesu, zusammengerufen hat.
Aber die Brüder und Schwestern sind noch nicht gleich allgemein
alle Menschen. In 1. Johannes 5,1 wird deutlich, wie Johannes die Bezeichnung
Brüder versteht: »Wer da glaubt, dass Jesus der Christus
sei, der ist von Gott geboren, der liebt auch den, der von ihm geboren
ist.« Die Brüder sind also die, die durch Jesu Geist zum Glauben an
ihn gekommen sind.
Was ist dann aber mit den vielen Menschen, an denen das noch
nicht geschehen ist, für die der Glaube an Jesus Christus noch fremd
ist? In 2. Petrus 1,7 wird der Bach der Bruderliebe sozusagen weitergeleitet
in den Fluss der Liebe zu allen Menschen: »So wendet allen
eueren Fleiß daran und beweist in euerem Glauben Tugend … und in
der Gottesfurcht brüderliche Liebe und in der brüderlichen Liebe die
Liebe zu allen Menschen.« Was deutlich macht: So wenig die Liebe zu
Gott ein Selbstzweck ist, so wenig ist es die Liebe zu den Geschwistern
innerhalb der Gemeinde. Wir sind als Glieder des Leibes Christi
dazu da, seine Liebe »allen Menschen« zu bringen, selbstverständlich
auch denen, die der Gemeinde Jesu Christi noch ganz fern sind, ihr
vielleicht sogar höhnisch oder feindlich gegenüberstehen.
Was sagt dieses Wort unseren Gemeinden? Es leitet uns an zu fragen,
ob wir in unseren Gemeinden verschiedenen Brüdern und Schwestern
wirklich wohl gesonnen sind, ob wir füreinander einstehen oder
ob die Gemeinden leiden an innerkirchlichem Separatismus, der sich
nach dem Wort vollzieht: »Gleich und gleich gesellt sich gern.«
Es soll pietistische Gemeinden geben, in denen ein liberaler Christ
keinen Fuß auf den Boden bekommt, geschweige denn, dass man
ihm in dieser Gemeinde eine geistliche Aufgabe zutrauen würde. Man
hält ihn für ein Irrlicht und achtet im Sinne der Schadensbegrenzung
darauf, dass sein Einfluss minimal bleibt. Wenn er dann irgendwann
wegbleibt, dann nimmt man das billigend hin: »Das war fällig; es ist
besser so; der passt nicht zu uns.« Und es soll liberale Gemeinden geben,
in denen ein Pietist ausgegrenzt wird und seinerseits keinen Fuß
auf den Boden bekommt. Man rümpft die Nase über seine Frömmigkeit
und zeigt ihm bei Gelegenheit, dass sie einem nicht passt. Man
lässt es achselzuckend geschehen, wenn er dann anderswo seine geistliche
Heimat findet, und sagt: »Nun gut, das war ja vorauszusehen.«
Und da die evangelische Kirche oder der Protestantismus, wie er sich
derzeit gerne nennt, immer schon gerne aus der Not eine Tugend
macht, gibt es längst EKD-weit propagierte Modelle, durch welche
dieses Verhalten und sein Ergebnis als besonderes Profil und als Stärke
des Protestantismus vorgestellt werden. Was würde der gütige Johannes
den »Teknia« dazu sagen?
Sie wollen sich in ihren Machtspielen nicht in die Karten sehen
lassen. Sie grenzen aus, isolieren, deprimieren, weil ihnen ihre kirchenpolitischen
Gruppierungen letztlich wichtiger sind als das Wohl
und das Heil einzelner Menschen und der Landeskirche. Eine Gemeinde,
in der es so zugeht, stolpert über ihre eigenen Füße. Es ist
fraglich, ob der Herr der Kirche durch sie tun kann, was er tun will.
Nüchtern zu prüfen wäre in diesem Zusammenhang, was in der
neuen Programmschrift der EKD »Kirche der Freiheit. Perspektiven
für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert« zur Gründung von
Profilgemeinden gesagt wird, in denen Menschen sich sammeln sollen,
die durch eine besondere spirituelle Prägung oder durch besondere
Interessen an dieser oder jener Aufgabe zusammengebracht werden. Es
muss gefragt werden, ob Gemeindegründungen unter diesem Aspekt
nicht fast notwendig jene Konzentration auf die besondere Prägung
der Gemeinde bewirken, die verhindern wird, dass die Brüder und
Schwestern in ihrer Vielfalt füreinander einstehen. Es könnte sein, dass
man, indem man besonders auf solche Ausdifferenzierungen der Profile
setzt, ein trojanisches Pferd in die Gemeinde Jesu Christi einführt,
das sich bald durchaus nicht mehr als Element des Gemeindeaufbaus
erweisen wird. Eine starke Betonung der Profile, wie sie in dieser Programmschrift
ständig geschieht, entbindet Eigengesetzlichkeiten und
Gruppenmechanismen, die der geschwisterlichen Liebe innerhalb des
Leibes Christi entgegenstehen. Sie verführen eine Gemeinde dazu, ihren
Existenzberechtigungsnachweis nicht in der freien Gnade Jesu
Christi, sondern in ihrem besonderen Profil zu suchen. Ich nenne das
einen Aufbruch in die falsche Richtung.

Wegworte zum Herunterladen: 52_18.So.n.Trinitatis (pdf)