15. Sonntag nach Trinitatis

Alle eure Sorge werfet auf ihn,
denn er sorgt für euch!

Der erste Brief des Petrus 5, 7

Zum Thema Sorge zuerst eine Szene aus Goethes »Faust II«, fünfter
Akt, Mitternacht. »Vier graue Weiber« treten auf, die erste heißt der
Mangel, die zweite die Schuld, die dritte die Sorge, die vierte die Not.
Hier der Auftritt von Frau Sorge.

Sorge: Wen ich einmal mir besitze
Dem ist alle Welt nichts nütze,
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen.
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle,
Sei es Wonne, sei es Plage
Schiebt ers zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig
Und so wird er niemals fertig.

Faust: Hör auf! so kommst du mir nicht bei!
Ich mag nicht solchen Unsinn hören.
Fahr hin! die schlechte Litanei!
Sie könnte selbst den klügsten Mann betören.

(Sorge – sie lässt sich von der Abwehr Fausts durchaus nicht beeindrucken,
sie singt ihr Sorgenlied einfach weiter.)

Soll er gehen? soll er kommen?
Der Entschluss ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte
Wankt er tastend halbe Schritte.
Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend,
Atem holend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
Nicht verzweifelnd, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald befreien, bald erdrücken,
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.

Faust: Unselige Gespenster! so behandelt ihr
Das menschliche Geschlecht zu tausend Malen;
Gleichgültige Tage selbst verwandelt ihr
In garstigen Wirrwarr netzumstrickter Qualen.
Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;
Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß,
Ich werde sie nicht anerkennen!
Sorge: Erfahre sie, wie ich geschwind
Mich mit Verwünschung von dir wende!
Die Menschen sind im ganzen Leben blind,
Nun Fauste! werde du’s am Ende!

Die Sorge macht Faust am Ende blind. Nicht nur Faust, jeden Menschen,
der ihr verfällt.
Es bringt nichts, die Sorgen zu bagatellisieren im Sinne des Liedes
»Trink, Brüderlein, trink, lasset die Sorgen zu Haus.« Denn der Trunkene
wird ja irgendwann nach Hause kommen. Dann werden ihn die
Sorgen umso grimmiger überfallen.
Was bereitet Menschen Sorge? Die eigene Gesundheit wohl vor allem.
Oft noch mehr die Gesundheit nächster Angehöriger. Was tun,
wenn das Herz verrückt spielt? Was tun, wenn sich Metastasen gebildet
haben? Oder die Firma, für die ich Verantwortung trage, steht vor
dem Ruin. Was tun, wenn die Konkurrenz uns die Kunden abjagt?
Was wird aus den Arbeitsplätzen so vieler Mitarbeitender? Auch die
Vorstandspersonen und Aufsichtsräte diakonischer Einrichtungen
schlagen sich mit solchen Sorgen herum. Was, wenn auch in der Diakonie
eine Einrichtung nach der anderen auf Ausweitung setzt in der
stillen Voraussetzung, dass sie der anderen das Wasser abgraben kann?
Was, wenn die Frage »wer verbündet sich zu größerer Marktmacht
mit wem?« wie ein Gespenst unter den Diakonikern umgeht? Was
wird aus unserem christlichen Leitbild, wenn wir mit ganz anderen
Einrichtungen paktieren oder fusionieren, deren Mitarbeitende von
diesem Leitbild im Grunde nichts halten?
Sorgen machen sich Verantwortliche kirchlicher Einrichtungen,
wenn der Spardruck in der Kirche dazu führt, dass angesehene Einrichtungen,
die gute Arbeit tun, geschlossen werden.
Sorgen macht sich mancher Christ, dem seine Kirche wichtig ist,
wenn er sich fragt, ob in ihr die Glaubenskraft lebt, die sie brauchen
wird, um im 21. Jahrhundert den Auftrag Jesu Christi an den verschiedensten
Menschen zu erfüllen? Sorgen beschleichen einen Prälaten,
wenn er am Ende seiner Dienstzeit sich fragt, ob er die richtigen
Zeichen gesetzt hat und ob Menschen, die er vernachlässigt hat, diese
Vernachlässigung als Ausdruck der Gleichgültigkeit gedeutet und womöglich
an ihrer Landeskirche Ärgernis genommen haben. Sorgen
vor der Frage, ob diese oder jene Personalentscheidung richtig war
und ob sie nicht in Menschen die Achtung vor ihrer Kirche erschüttert
habe.

Sorgen haben Menschen oft auch als Eltern ihrer Kinder, nicht zuletzt
der erwachsenen Kinder. »Kleine Kinder kleine Sorgen, große
Kinder große Sorgen« heißt ein Sprichwort. Söhne und Töchter aus
christlichen Häusern geraten immer wieder in die Drogenszene. Wie
mit ihnen umgehen? Ist es möglich, sie dort wieder so herauszubringen,
dass sie ein tüchtiges Leben führen können?
Und freilich auch Sorgen um Deutschland. Heinrich Heines Worte
»Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf
gebracht« kennt mancher, der gern ein Deutschland hätte, das sich an
den christlichen Werten und Richtungsvorgaben orientiert.
Sorgen können uns im Blick auf das schnell gewachsene Europa
kommen. So viel »Freude schöner Götterfunken« bei europäischen
Anlässen, dabei ein Europa, das seine christlichen Wurzeln verleugnet.
Ein Europa, das bis zur Stunde nicht dazu fähig ist, das Christentum
als mitprägende Macht in der Präambel seiner Verfassung zu nennen.
Kann ein Gebilde, das seine Wurzeln verleugnet, zu einem gesunden
Organismus wachsen? Ein Gebilde, das angeblich seine Seele sucht
und doch gar nicht finden will?
Die Sorge angesichts der Frage, ob und wann der Krisenherd Naher
Osten zur Ruhe kommen wird und welche politische Lösung den
Menschen in Israel, den Palästinensern und denen im Libanon Wege
zum Frieden bietet. Dass die Sorge, in welche Weltlage uns die Atombewaffnung
führen wird, nachdem in Heilbronn und Neu-Ulm keine
Raketen mehr stehen, keineswegs vom Tisch ist, daran erinnert die
weltweite Aufregung über das Atomprogramm des Iran.
Die Sorge vor der Frage, wohin uns religiöse Gotteskrieger, die sich
dem Tod verschrieben haben, bringen. Und in alledem die nicht geringe
Sorge: Was sollen wir Christen tun? Wie unser Wächteramt
wahrnehmen? Wie sollen wir mit Menschen anderer Religion umgehen?
Was erwarten mit Recht unsere Mitmenschen von einer Kirche,
die ihre Mitverantwortung für den Weltlauf ernst nimmt und die sich
nicht in irgendeine sturmfreie Nische flüchtet? Finden wir als Kirche
die rechte Haltung zwischen einer Geschwätzigkeit, die zu jeder politischen
Frage eine Stellungnahme bereithält und die den Eindruck erweckt,
sie melde sich mehr um ihrer selbst willen zu Wort, und einer
Kirche, die bequem schweigt, wo sie schreien oder doch jedenfalls
deutlich reden müsste? Finden und halten wir die rechte Spur? Das
sind Sorgen.
Seine Sorgen sollte man gelegentlich im vertrauten Kreis aussprechen.
Nicht ständig. Damit man sich nicht in sie hineinredet und vor
lauter finsteren Wolken vergisst, dass die Sonne scheint. Aber es ist
besser, wenn wir uns gegenseitig dann und wann unsere Sorgen sagen
und wenn dann keiner die Sorge des anderen bagatellisiert. In der
Konkurrenzgesellschaft, in der wir leben, wird vom erfolgreichen
Menschen erwartet, dass er mit allem, was schwierig ist, klarkommt.
Wir sind versucht, uns diesem Druck anzupassen und in diesem Sinn
den Erfolgreichen zu spielen, der spielend mit den Problemen fertig
wird. Hinter der Maske des Erfolgreichen verbirgt sich oft der von
seinen Sorgen Gepeinigte und mit seinen Sorgen allein Gelassene.
In der Gemeinde der Schwestern und Brüder soll dieser Druck
nicht herrschen. Hier soll ein Mensch seine Sorgen mit anderen teilen
können, ohne fürchten zu müssen, er werde als krank, lästig oder untüchtig
abqualifiziert.
Gelingt es uns auch, unsere Sorgen im Gebet vor Gott zur Sprache
zu bringen, sie auf diese Weise loszuwerden? Das ist gewiss die beste
Art, mit den eigenen Sorgen umzugehen. Der Wochenspruch »Alle
eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch!« ist eine Einladung
dazu. Ähnlich rät uns der Beter des 55. Psalms: »Wirf dein Anliegen
auf den Herrn; der wird dich versorgen und wird den Gerechten in
Ewigkeit nicht wanken lassen« (Ps 55,23). Mancher von uns hört
diese Worte in der bekannten Vertonung, in der sie in unseren Kirchenchören
populär geworden sind, hat sie vielleicht selbst schon gesungen.
In den Klageliedern Jeremias lesen wir den Rat: »Steh des
Nachts auf und schrei zu Beginn jeder Nachtwache, schütte dein
Herz aus vor dem Herrn wie Wasser« (Klgl 2,19).
Dieses Angebot können wir nicht genug nützen. Dann wird auch
unser Reden von den Sorgen, die uns umtreiben, immer in einem
Hoffnungshorizont geschehen, der wohl zeitenweise fern und verdunkelt
ist, der aber da ist. Und dann werden wir auch »mit den Müden
zur rechten Zeit« (Jes 50,4) reden, »die lässigen Hände und die müden
Knie wieder aufrichten« (Hebr 12,12) können.
Je ungenierter wir unsere Sorge vor Gott ablegen, desto freier werden
wir auch, Jesu Zuspruch zu hören »Sorget nicht um euer Leben … sehet
die Vögel unter dem Himmel an … schauet die Lilien auf dem Feld
… sorget nicht für den anderen Morgen, der morgige Tag wird für
das seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine Plage habe« (aus
Mt 6,25–34).
Mit solchen Zurufen werden wir weder entmündigt noch in romantisierender
Weise mit den Vögeln und den Blumen in eine Linie
gestellt. Wir bleiben in unseren Aufgaben und bleiben herausgefordert,
füreinander zu tun, was wir tun können. Aber Jesus will uns
den Mut stärken, mit Gottes weiser Fürsorge zu rechnen. Er ist am
Wirken.
Es kann uns helfen, wenn »Frau Sorge« über uns kommt, uns von
Paul Gerhardt helfen zu lassen mit seinem unvergänglichen Lied (EG
361) »Befiehl du deine Wege«. Er lehrt uns von dem, was unseren
Blick fixiert, die Augen zu erheben zum Himmel: »der Wolken, Luft
und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann«. Oder »… auf sein Werk musst du schauen,
wenn dein Werk soll bestehen. Mit Sorgen und mit Grämen und mit
selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen. Es muss erbeten
sein«. Oder eine Erinnerung für Menschen, die an ihrer Führungsverantwortung
leiden: »… bist du doch nicht Regente, der alles führen
soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl«. Oft ist die
Schwere unserer Sorgen nur die Rückseite unseres unbewussten Allzuständigkeits-
und Allmachtswahns, des Gotteskomplexes, den Horst-
Eberhard Richter in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Mit diesem
freilich können wir nur scheitern. Freier wird es uns, wenn wir
uns daran erinnern lassen, wer eigentlich im Regimente sitzt.

Wegworte zum Herunterladen: 49_15.So.n.Trinitatis (pdf)