14. Sonntag nach Trinitatis

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht,
was er dir Gutes getan hat.

Die Psalmen 103, 2

Als ich einmal an einem Sonntagmorgen die Heilbronner Kilianskirche
betrat, kam ich an einem älteren Mann vorbei, der spät, aber zu
seiner großen Freude, Großvater geworden war. Doch hatte er einen
schweren Kummer: der kleine Enkelsohn kam auf die Welt ohne
Daumen. An beiden Händchen je vier Finger, aber keine Daumen.
Nun hatten die Eltern des Kindes doch den Mut gefasst, ihr Kind
zunächst an einer Hand, operieren zu lassen. Ein Münchener Spezialist
schaffte es tatsächlich, den Zeigefinger in die Position des fehlenden
Daumens zu verlegen. Nach der Operation zeigte mir der dankbare
Großvater detaillierte Fotos von der kleinen Hand, die zweite
Hand sollte in einem halben Jahr dran kommen.
Je mehr Menschen ich mit einer Behinderung erlebe, desto dankbarer
singe ich Paul Gerhardts Strophe (EG 447,3):
Dass unsere Sinnen wir noch brauchen können
und Händ und Füße, Zung und Lippen regen,
das haben wir zu danken seinem Segen.
Lobet den Herren!
Besonders bedanke ich mich für die immense Arbeit, die meine inneren
Organe regelmäßig und pünktlich tun, ohne dass mein Wille sie
in irgendeiner Weise dazu anleitet und in der Regel ohne dass ich
überhaupt etwas davon merke.
Martin Luther hat im »Kleinen Katechismus« in seiner Auslegung
zum ersten Glaubensartikel aufgezählt, was im kreatürlichen Bereich
an uns und um uns her Grund zum Danken sein sollte. Ich wundere
mich nicht darüber, dass der Historiker Leopold von Ranke in den
Sätzen von Luthers Erklärung zu den drei Glaubensartikeln die
schönsten Sätze in deutscher Sprache sieht: »Ich glaube, dass mich
Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen,
Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und
noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und
Hof, Weib und Kind, Äcker, Vieh und alle Güter; mit allem, was Not
tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen
Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und
das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit,
ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken
und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.
Das ist gewisslich wahr.«
Im Psalm 103, aus dem dieses Wort stammt, wird als Grund zum
Danken zuerst die Vergebung unserer Sünden erwähnt: »Der dir alle
deine Sünde vergibt« (Ps 103,3) und später:
Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden
und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
So fern der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsere Übertretungen von uns sein.
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.
(Psalm 103,10–13)
Er heilt alle unsere Gebrechen, heißt es weiter. Wenn ich das im
Krankenhaus oder im Altenheim mit einem kranken, gebrechlichen
Menschen zusammen bete, dann wird er mich still fragen, wie das
speziell mit seinen Gebrechen sei. Wahrscheinlich lebt der Beter des
Psalms 103 so sehr in der Hoffnung, dass er jetzt schon danken kann
für das, was wir für »alle unsere Gebrechen« von Gottes Vollendung
erhoffen.
So verstehe ich auch die beiden folgenden Hoffnungssätze: »der
dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und
Barmherzigkeit« (Ps 103,4). Wir danken Gott, dass wir im Licht dieser
Hoffnung leben können. Unsere Gebrechen tragen wir, unser irdisches
Leben, so sehr es dem Verderblichen ausgesetzt ist, leben wir.
Manchem Zweifel an unserer eigenen Ehrbarkeit begegnen wir in der
Hoffnung darauf, dass Gott uns dereinst nicht nur so irgendwie die
Kontrollschleusen zum Ewigen Leben mit einem halbabschätzigen
Blick passieren lassen wird, dass er vielmehr vorhat, die Seinen in seiner
großen Barmherzigkeit zu gekrönten Häuptern zu machen. Das
heißt doch wohl, dass die Art und Würde des königlich freien Menschen
Jesus auf uns übergehen wird und wir aus gedrückten und
kompromittierten Wesen zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes
verwandelt werden. Dass wir in dieser Hoffnung unser Leben zubringen
können, dafür können wir nicht genug dankbar sein.
Das Evangelium auf den 14. Sonntag nach Trinitatis, Lukas 17,
11–19, berichtet von den zehn Aussätzigen, die aus der Ferne – Aussätzige
durften niemandem nahe kommen – zu Jesus riefen: »Jesu, lieber
Meister, erbarme dich unser!« Jesus hat sie alle zehn zum Priester
geschickt – die Priester waren damals zugleich Medizinmänner und
eine Art Gesundheitsamt –, sie sollten sich von ihm untersuchen lassen.
Auf dem Weg zu ihm wurden sie gesund. Der hoffende Glaube
in Folge der Begegnung mit dem Heiland Jesus hat sie »rein« gemacht,
was immer das heißen mag. Aber nur einer kehrt um zu Jesus
und dankt ihm für die Heilung. Worauf Jesus fragt: »Wo sind aber die
neun?« Er vermisst an den neun anderen, dass sie umkehren und Gott
die Ehre geben. Ausgerechnet dieser eine, der dankbar umgekehrt ist,
ist ein Samaritaner, das heißt er gehört zu denen, die ein frommer Jude
wegen ihrer mangelnden Glaubenskultur meinte gering achten zu
können. Zu diesem – und nur zu diesem – sagt Jesus: »Dein Glaube
hat dir geholfen.« Womit gesagt wird: die anderen neun sind nicht
wirklich gesund geworden. Mag ihre äußere Haut sich gebessert haben,
sie selbst sind krank geblieben. Denn nur der Mensch, der umkehrt,
um zu danken, hat zurückgefunden in den Zustand des wirklich
Genesenen.
Albert Schweitzer hat diese Erzählung so ausgelegt, dass alle zehn
für ihre Heilung dankbar gewesen seien. Nur habe eben allein dieser
Eine seiner Dankbarkeit gegen Jesus Ausdruck verliehen. So seien wir.
Wir seien alle im Grunde dankbar für empfangene Hilfe. Nur würden
wir den Rang nicht finden, einander unsere Dankbarkeit zu zeigen.
Die neun Geheilten, die nach der Gesundsprechung durch den Priester
nicht zu Jesus gekommen seien, hätten den Fehler gemacht, vom
Priesterhaus gleich nach Hause zu gehen. Dort seien sie gleich dermaßen
mit Pflichten, sozusagen mit Liegengebliebenem, überhäuft wor-
den, dass sie ihre eigentliche Absicht, zu Jesus zu gehen und ihm zu
danken, nicht mehr hätten wahrnehmen können.
Hat Albert Schweitzer recht? Oder ist bei seiner Auslegung der
Wunsch der Vater des Gedankens? Wir müssen und können das nicht
klären. Nachdenken sollten wir, wenn er schreibt, jeder von uns habe
in seinem Leben sehr viel an Güte durch Menschen empfangen, oft
geradezu im Augenblick. Uns unbekannte Menschen seien aus dem
Nebel aufgetaucht, hätten uns ein gutes Wort gesagt, eine wirkliche
Hilfe geleistet, ein feines Beispiel gegeben, das uns seither begleite,
und seien wieder in den Nebel des Unbekannten entschwunden.
Ihnen könnten wir nur so danken, dass wir uns solcher Hilfen würdig
erwiesen. Denen aber, die wir kennen und die noch leben, sollten wir
unseren Dank ausdrücken, solange wir das noch können. Wir sollten
nicht erst an ihrem Grab denken oder sagen, wie viel Gutes wir von
ihnen empfangen haben.
Die Menschen, die uns auf dem Weg geholfen haben mit ihrem
Mut machenden Zuspruch oder mit ihrer spürbaren Güte, hat uns
Gott geschickt. Wir tun gut daran, ebenso ihnen wie dem, der sie uns
geschickt hat, zu danken.
In diesem Zusammenhang sollten wir prüfen, ob es unter uns im
zwischenmenschlichen Zusammenleben (noch?) eine Kultur des
Dankens gibt. Eine ältere Erzieherin sagte mir im Rückblick auf ihre
Arbeit im Kindergarten: »Wenn früher ein Kind nicht ›danke‹ gesagt
hat, fiel es auf. Wenn heute ein Kind ›danke‹ sagt, fällt es auf.« Da
scheint sich etwas geändert zu haben. Es hängt wohl auch mit der
Frage zusammen, ob wir zu Tisch beten oder ob wir ohne einen Dank
an den Geber aller guten Gaben uns über die Speisen hermachen.
Wollen wir unsere Kinder neu zur Dankbarkeit erziehen, dann
werden wir das nur können, wenn wir selbst ihnen mit gutem Beispiel
vorangehen. Unvergesslich ist es mir, wie einst unser Kind Eva einer
älteren Mesnerin geholfen hat, die Kirche zu putzen. Die Mesnerin
schickte Eva mit dem Eimer, das Putzwasser zu erneuern. Eva brachte
das frische Wasser, stellte den Eimer vor die am Boden arbeitende
Mesnerin hin und wartete. Als die Mesnerin fragend zu ihr aufblickte,
fragte Eva ganz unschuldig: »Wie sagt m’r?«
Sie hatte ja recht. Auch Kinder können uns Erwachsene an das er-
innern, was wir den Kindern gern beibrächten. Und wie sollen sie es
lernen, wenn wir ihnen das Gegenteil vorleben?
Lobet den Herrn, meine Seele! Solche Selbstgespräche, in denen einer
mit seiner Seele spricht, können dann und wann durchaus dran
sein. Wir stehen alle in der Gefahr, uns hängen zu lassen in grübelnder
Schwermut, in Unzufriedenheit mit dem, was uns das Leben gebracht
hat und was wir im Leben zuwege gebracht haben. Wer sich diesen
Stimmungen überlässt, belastet seine Umgebung nicht wenig. Ist es da
nicht hilfreich, wenn wir unsere Seele daran erinnern, was wir Gutes
empfangen haben und dass es dran sei, Gott dafür zu danken?
Überhaupt das Gotteslob. Mancher Christ singt zwar treu und
brav im Gottesdienst:
Dankt unserem Gott, lobsinget ihm,
rühmt seinen Namen mit lauter Stimm;
lobsingt und danket allesamt!
Gott loben, das ist unser Amt.
(EG 288,5)
Aber wenn jüngere Leute Lobpreisgottesdienste feiern wollen, werden
wir oft säuerlich. Ich verstehe das angesichts so manchen Liedes, das
gar zu harmlos auf ständige Wiederholung setzt und das allzu viel unseres
täglichen Lebens ausblendet. Aber: Was sagt uns der beharrliche
Wunsch zahlreicher jüngerer Christen nach Lobpreisgottesdiensten?
Vermutlich haben sie die Erfahrung gemacht, dass im Lob Gottes viel
Heilungspotential steckt. Und dann und wann geraten wir doch tatsächlich
auch in unseren Gottesdiensten so beharrlich in ein Klagen
und Hadern über das, was Menschen an Schlimmem anstellen, und
über das, was uns an Gottes Regiment nicht einleuchtet, dass dieses
gesundheitsfördernde Loben Gottes entschieden zu kurz kommt.
Vielleicht sollten wir in solchen Situationen uns selbst unterbrechen,
um uns und anderen schlicht zu sagen: »Lobe den Herrn, meine
Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«

Wegworte zum Herunterladen: 48_14.So.n.Trinitatis (pdf)