13. Sonntag nach Trinitatis

Christus spricht: Was ihr getan habt
einem unter meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.

Das Evangelium nach Matthäus 25, 40

In Friedrich Dürrenmatts Drama »Der Besuch der alten Dame« kehrt
Clara Zachanassian zurück in ihr armes, heruntergekommenes Heimatdorf,
aus dem sie als junges Mädchen verstoßen worden war. Sie war
schwanger gewesen von ihrem geliebten Alfred Ill. Der aber hatte bestritten,
dass das Kind von ihm sei, hatte mit einem Freund ein Komplott
geschmiedet, in welchem sie Clara als billig und willig verleumdet
haben. Bei ihr könne kein Mensch sagen, von wem ihr Kind sei.
Clara ging und wurde eine Dirne, in dieser Funktion hat sie sich
einen Multimillionär geangelt, dieser ist bald gestorben, nun war sie
steinreich. Sie kommt zurück, um mit ihrem vielen Geld Rache zu
üben an Ill. Mit höchsten Ehren wird sie in Güllen, ihrem Heimatdorf,
empfangen. Als Wohltäterin, durch die der Ort wieder zu ungeahnter
Blüte kommen würde. Das verspricht sie auch. Unter einer Bedingung:
Ill muss sterben.
Die Dorfbewohner sind entsetzt, schwören alle Eide, dass sie ein
solch unsittliches Ansinnen gegen ihren lieben, hoch geschätzten Mitbürger
Ill nicht einmal erwägen würden, Clara Zachanassian, die sich
mit ihren beiden Bodygards und zwei Tigern im Hotel einquartiert hat,
sitzt auf dem Balkon des Hotels, blickt in die Dorfstraßen und wartet.
Sie wartet nicht umsonst. Die Stimmung gegen Ill schlägt um. Einem
Mordanschlag, durch den er still beiseite geräumt worden sollte,
entkommt er gerade noch. Vor allem: die Dorfbewohner leben immer
mehr auf die Zeit zu, in der Ill gestorben und die Wohltäterin ihre
milde Hand aufgetan haben wird. Ill ist Eigentümer des einzigen Kolonialwarenladens
des Ortes. Immer mehr Mitbürgerinnen kaufen bei
ihm »auf Pump«. »Schreib’s an. Wir bezahlen später.«
Es kommt zu dörflichen Versammlungen, in denen Ill mehr oder
weniger deutlich nahegelegt wird, er möge doch selbst die Konsequenz
ziehen und dem bitter nötigen Aufschwung des Ortes und dem
so sehr entbehrten Wohlstand nicht im Wege stehen. Ein Selbstopfer
sei doch sehr verdienstvoll.
Man blickt von einer moralischen Instanz im Ort zur anderen.
Auch besonders auf den Pfarrer. Der verkündet würdevoll: »Die Kirche
ist neutral.«
Wie neutral die Kirche ist, das zeigt die Pfarrfrau durch ihr Einkaufsgebaren.
Sie vor allem kauft bei Ill auf Pump.
Es kommt zur ultimativen Versammlung. Ill, von der Bevölkerung
bedroht, wendet sich hilfesuchend an den Pfarrer. Der wird salbungsvoll:
»Nun, Ill, Ihre schwere Stunde ist gekommen.« Er versichert ihm:
»Ich werde für Sie beten.« Darauf Ill: »Beten Sie für Güllen.« Der Pfarrer:
»Gott sei uns gnädig.« Ill wird feierlich durch die Reihe der Männer
des Ortes geführt, die sich verengt und sich plötzlich zum Menschenknäuel
verwandelt. Es wird dunkel. Als die Presseberichterstatter mit
ihrem Licht die Szene erleuchten, liegt Ill tot am Boden. Der Arzt stellt
fest: »Herzschlag«. Der Bürgermeister kommentiert: »Tot aus Freude«.
Eine makabre tragische Komödie des Autors, der zugleich Pfarrersohn
und Vater eines Pfarrers war und der sozusagen als das Weltkind in
der Mitte sehr kritisch über christliche Moral und besonders über die
Rolle der Kirche dabei nachdenkt. Kurz vor dieser feierlichen Hinrichtung
will der Pfarrer noch den Propheten Amos zitieren. Aber Ill,
der seine letzte Zigarette raucht, sagt: »Bitte nicht!«

Es geht um das Tun

Mag die Kirche Jesu Christi allzu oft sich neutral verhalten – viele
werden das sogar von ihr wünschen und werden einiges dafür tun,
dass sie auf dieser Linie bleibt –, Jesus ist durchaus nicht neutral.
»Was ihr getan habt einem unter meinen geringsten Brüdern, das
habt ihr mir getan.« Und im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25, 31–
46), aus dem dieses Wort stammt, steht daneben das andere: »Was ihr
nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir
auch nicht getan« (Mt 25,45). Jesus identifiziert sich mit denen, die
in die Ecke gedrängt, die niedergemacht werden. Die Frage, ob sie die
späte Folge eigenen Verschuldens trifft, kümmert ihn nicht. In seiner
Gegenwart gibt es kein kaltes »Selber schuld, der muss nun auslöffeln,
was er sich selbst eingebrockt hat«. Er sieht den Menschen, der leidet.
Der unter die Räuber gefallen ist. Ob nun diese Räuber als Biedermänner,
womöglich mit frommer Verkleidung, auftreten oder nicht.
Er sieht den hilfsbedürftigen Menschen, sieht in ihm die Schwester,
den Bruder, ja er identifiziert sich selbst mit ihm.
Es geht dabei immer um das Tun, nicht um große Ideen, Programme,
Absichten, Appelle. Nur das zählt, was de facto getan wurde.
Papst Benedikt XVI. spricht in seiner Enzyklika »Deus caritas est«
vom »Liebestun« und prägt damit einen eigenartig neuen Begriff. Es
geht um konkretes Tun, aber eben nicht um eine kalt und unpersönlich
geplante und durchgeführte Maßnahme, sondern um ein Tun
wirklicher Liebe, ein Tun, in welchem Gefühl und Verstand zur Tat
drängen.
Dann wird es immer auch ein Tun im direkten Gegenüber von
Menschen sein. Der Mensch, den ich mir nicht ausgesucht habe, den
mir Gott über den Weg geschickt hat, der jetzt meine Zuwendung,
meine Hilfe braucht, wie jener unter die Räuber Gefallene jetzt den
Samariter braucht, um ihn geht es. Martin Buber berichtet einmal
über seinen Vater, der im Ehrenamt Vorsitzender der Lemberger Brotkommission
war, er sei »ingrimmig abgeneigt« gewesen »jeder blicklosen
Barmherzigkeit«, das heißt jeder Hilfsmaßnahme, die den hilfsbedürftigen
Menschen gar nicht als Person wahrnehme, bei der die
persönliche Begegnung geradezu vermieden werde.

Christus und die geringsten Brüder und Schwestern

Wer sind nach Jesu Gleichnis (Mt 25,31–46) die Menschen, in
denen er uns besonders begegnet? Die Hungrigen, von denen es in
jeder Stadt, wohl auch in jedem Dorf, nicht wenige gibt. Es ist schlicht
die Frage, ob wir von den Nahrungsmitteln, die wir für uns im Kühlschrank
und in der Brotschublade aufbewahren, für sie etwas übrig
haben. Es sind die Durstigen. Wobei das Wort »Durst« immer auch
etwas ahnen lässt vom Durst nach mitmenschlicher Gemeinschaft.
Es sind die Fremden, die man heute wohl noch mehr als zur Zeit Jesu
zu Fremdlingen macht. Jeder Christ, der nicht blind ist, begegnet
Menschen, die jahrelang um ihre Duldung oder Anerkennung kämpfen
müssen. Und wenn ein Schwarzbuch geschrieben würde über das,
was ihnen in unserem angeblich fortschrittlichen Staat geschieht, würden
wir alle beim Lesen schamrot werden. Wer tritt für sie ein? Es
gibt zum Glück Christen, die für sie nicht wenig an Kraft einsetzen.
Sie verdienen unsere volle Unterstützung, wenn möglich: unsere Mitarbeit
In den Nackten begegnet uns Christus. Besonders im Herbst sind
die Kleiderkammern der diakonischen Bezirksstellen von Menschen
überlaufen, die nicht das Geld haben, sich ordentliche Winterkleidung
zu kaufen. Was bedeutet das für unseren Kleiderschrank? Freilich
kommen hier auch die Menschen in den Blick, die sich selbst
kompromittiert haben durch blamable Taten und die nun für den
Rest ihres Lebens das Stigma des Täters an sich tragen. Wer steht zu
ihnen? Wer von denen, die für sich selbst sagen »Christi Blut und Gerechtigkeit,
das ist mein Schmuck und Ehrenkleid« (EG 350)? Hüllen
wir auch jene nackt Dastehenden in dieses Ehrenkleid? Oder behalten
wir es lediglich für uns?
Die Kranken, die auf Besuch warten! In ihnen wartet Christus auf
dich und mich. Wie leicht schieben wir den fälligen Besuch von einem
Tag auf den anderen, bauen um uns herum hundert Arbeiten,
die offenbar wichtiger sind!
Die Gefangenen, die, allein oder zu mehreren, eine Art Isolationsfolter
durchmachen. Wer begegnet ihnen in ihren Nöten? Wer zeigt
ihnen, dass sie nicht lebendig begraben sind, dass sie noch dazugehören
zur menschlichen Gemeinschaft? Und vor allem: Wer hilft ihnen
nach der Haftzeit wieder ins bürgerliche Leben hinein? Gerade in diesen
Strafgefangenen begegnet uns der Christus, der ihre Strafe getragen
hat (Jes 53,5).

Wider die diakonische Machtausübung

Könnte es sein, dass wir, wenn wir Hungrige speisen, Kranke und
Gefangene besuchen, für Kompromittierte hinstehen, mehr empfangen,
als wir ihnen gegeben haben? Dass in gewisser Weise der Arme,
der durch seine Schuld Gezeichnete, uns zum Christus wird?
Wir dürfen nur nicht diese Erwartung das Motiv unserer Zuwendung
sein lassen. Es kann der Segen, der auf dieser Zuwendung liegt,
allenfalls das unbeabsichtigte Nebenprodukt eines ganz auf den
Nächsten konzentrierten Liebestuns sein.
Und wir sollten noch weniger vom hilfsbedürftigen Menschen erwarten,
dass er sich in seiner Hilfsbedürftigkeit besonders sympathisch
verhält. Es kann sein, dass er uns anlügt, weil er fürchtet, uns
die Wahrheit über sein Leben nicht zumuten zu können. Haben wir
ein Recht, ihm das zu verübeln und uns beleidigt von ihm zurückzuziehen,
weil er uns zu wenig vertraut? Sind wir denn so vertrauens-
würdig, dass ein Fremder zu uns gleich volles Vertrauen wagen kann?
Es kann sein, dass der Empfänger unserer Hilfe und unserer Ratschläge
durchaus nicht tut, was wir ihm geraten haben. Haben wir ein
Recht, uns darüber zu entrüsten? Bei meinen Versuchen, den Menschen
in der hoch verstrahlten Zone nördlich von Tschernobyl Hilfe
zu bringen, habe ich immer wieder Helfer erlebt, die ihre Hilfe konsequent
daran banden, dass die Empfänger von Hilfslieferungen, etwa
in Krankenhäusern, genau das tun, was der deutsche Helfer getan haben
will, und die nach einem halben Jahr mit deutscher Gründlichkeit
kontrollierten, ob ihre Direktiven ausgeführt seien. Meine weißrussischen
Gesprächspartner, hoch gebildete Ärztinnen, Philosophieund
Deutschprofessoren, klagten, das komme ihnen vor wie eine Art
karitativer Kolonialismus. Sie kämen sich da vor wie Naturkinder im
Busch, die vom weißen Helfer erzogen werden sollten.
Wie nahe beieinander sind diakonische Hilfe und diakonische
Machtausübung. Wir werden erst dann wirklich helfen können, wenn
wir den Bedürftigen zwar unsere Erfahrung, unser Können und,
wenn sie es denn wollen, auch unseren Rat geben, wenn wir dabei
aber ganz darauf verzichten, sie zu entmündigen.
Und: So sehr sich Jesus Christus mit den Hilfsbedürftigen identifiziert,
wir sollten nicht Bedürftigen primär darum einen Dienst tun,
weil wir damit Jesus Christus dienen wollen. Wir sollen sie durch
nichts zu Objekten machen, auch nicht zu Objekten unserer christlichen
Liebe. Wir sollten ihnen, ihnen selbst, das Fällige tun. So dass
sie wirklich unser lebendiges Gegenüber bleiben. So dienen wir Jesus
Christus, der sich selbst wirklich mit ihnen identifiziert.
Die Haltung, die den bedürftigen Menschen gar nicht wirklich
wahrnimmt, lehnt Jesus ab, indem er in seinem Gleichnis vom Weltgericht
die Menschen, welche die tätige Nächstenliebe vermissen ließen,
sagen lässt: »Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder
durstig oder als einen Fremdling oder nackt oder krank oder gefangen
und haben dir nicht gedient?« Sie hätten also, so meinen sie, dem
kommenden Weltenrichter alles zuliebe getan, nicht aber den hässlichen
Armen, die sie geflissentlich übersehen haben. Nicht diese Art
von Menschenliebe will Jesus in uns erwecken. Sie ist gar keine Menschenliebe,
sondern ist ein religiöses Werk, mit dem einer sich selbst
vor der letzten Instanz ins rechte Licht rücken will. Jesus setzt sich
wirklich gleich mit den Bedürftigen. Weshalb er will, dass wir ihnen,
ihnen allein, ohne jeden berechnenden Hintergedanken und Seitenblick,
das Gute, das Fällige tun.

Wegworte zum Herunterladen: 47_13.So.n.Trinitatis (pdf)