12. Sonntag nach Trinitatis

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und
den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Der Prophet Jesaja 42, 3

In der Südseite des Ulmer Münsters finden wir unter den Glasfenstern,
die Peter Valentin Feuerstein geschaffen hat, eines, in welchem
klein und unauffällig ein flackerndes Kerzenflämmchen dargestellt ist,
das von zwei sorgsamen Händen geschützt wird. Diese kleine und
nicht verlöschende Flamme versinnbildlicht unseren Glauben, unsere
Liebe, unsere Hoffnung. Man spürt dem flackernden Flämmchen an,
dass es bedroht ist von rauen Winden, von Stürmen, von kalten Duschen.
Aber die Hand Gottes schützt das Flämmchen, das Entscheidende,
das Lebendige in uns. Es ist bedroht, gefährdet, wie alles wirklich
Wertvolle. Es kann nicht so still und klar leuchten, wie wir in der
Regel die kleine Flamme einer Adventskerze darstellen. Es flackert im
Wind. Jeden Augenblick kann es ausgeblasen werden. Aber gerade davor
schützt es eine höhere Hand. Der Glaubende hat das, was die römisch-
katholische Kirche ihren Priestern zuschreibt, einen »character
indelebilis«, einen unzerstörbaren Charakter. Nicht weil unser Glaube
so unverwüstlich wäre, sondern weil er Gott so wichtig ist, dass er ihn
schützt. Und weil Jesus gesagt hat: »Ich habe für dich gebeten, dass
dein Glaube nicht aufhöre« (Lk 22,32). Von unserer gefährdeten Liebe
und unserer oft angefochtenen Hoffnung gilt das Gleiche.
Peter Valentin Feuerstein hat allerdings das Bild, das Deuterojesaja,
den wir den zweiten Jesaja nennen, gebraucht, ein wenig verharmlost.
Deuterojesaja redet nicht von einem flackernden Flämmchen, sondern
von einer bereits heruntergebrannten Flamme, die nur noch am Docht
glimmt, die also ein wenig Rauch verbreitet, die momentan noch ein
paar Sekunden daran erinnert, dass da einmal eine kleine Flamme war,
die aber erloschen ist. So hat Deuterojesaja, der Trostprophet der Bibel,
den Glauben, die Hoffnung seines Volkes angetroffen in der babylonischen
Gefangenschaft, die schon Jahrzehnte dauerte. Da war allenfalls
noch eine schwache Erinnerung an das Glaubensleben, das die Väter
und Mütter erfüllt hatte. Keine freudige Erinnerung. Vielmehr ein qual-
mendes Gemisch von Vorwürfen und Selbstvorwürfen – wir sind selbst
schuld, wir haben all das, was über uns kam, verdient. Vorwürfe auch gegen
Gott, der sein eigenes erwähltes Volk dermaßen hängen lässt, der so
unmenschlich gnadenlos straft, der offensichtlich sein Volk, durch das er
in der Völkerwelt Großes vorgehabt hatte, abgeschrieben hat.
Rauchender Docht kurz vor dem endgültigen Erlöschen, zerstoßenes
Rohr, ein Rohrstock, der gebrochen, abgeknickt, gesplittert ist,
auf den sich keiner mehr stützen kann.
Deuterojesaja sieht einen »Gottesknecht«, durch den Gott all das
tun wird, was er durch das Volk Israel tun wollte. Er wird das Gottesrecht
zu den fernsten Inseln, die man damals noch gar nicht kannte,
bringen. Er wird aber vorher sehr viel Widerstand zu erleiden haben,
ja, er wird durch eine Art Martyrium gehen (Jes 53).
Die Ausleger sind sich bis heute uneinig in der Frage, wer hier gemeint
sein könnte. Der zweite Jesaja selbst? Oder ein unbekannter
Prophet, den er kennt? Oder doch das Volk Israel? Oder ein kommender
»Gottesknecht« in irgendeiner fernen Zukunft?

Jesus als Gottesknecht

Jesus hat offensichtlich sich selbst als diesen Gottesknecht verstanden
und hat diese Aussage »das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen« auf sich
bezogen (Mt 12,18–21). Die Parallele zwischen Jesu Geschick und
dem des Gottesknechtes von Deuterojesaja ist ganz ungewöhnlich.
Liest man besonders Jesaja 53, dann hat man den Eindruck: Es hat sich
das, was hier vom Gottesknecht gesagt wird, an Jesus Wort für Wort erfüllt.
Nicht umsonst spielt das Lied vom leidenden Gottesknecht Jesaja
53 deswegen in unserer Karfreitagsliturgie eine zentrale Rolle.
Hier in Jesaja 42 wird von der Art dieses Gottesknechts u. a. gesagt,
er werde kein Propagandageschrei vollführen, man werde ihn
nicht auf der Gasse hören; nichts Marktschreierisches werde an seiner
Art sein. In Treue werde er das Gottesrecht hinaustragen. Und er, der
den glimmenden Docht nicht auslöscht und das zerstoßene Rohr
nicht zerbricht, wird selbst durchaus nicht erlöschen. Er wird trotz aller
Widerstände nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Gottesrecht
aufrichte. Die Inseln würden auf ihn und auf das, was er an Botschaft
und Weisung bringt, warten.
Das ist ein ganz wesentlicher Grundzug im Wirken Jesu, das cha-
rakterisiert eine christliche Gemeinde, wenn sie wirklich vom Geist Jesu
geprägt ist, dass sie das Schwache, das objektiv gesehen ohne Chance
auf Gesundung ist, pflegt. Es ist wahr, dass darauf ein Riesenmaß an
Energie verwandt wird. Und es darf niemanden wundern, dass Christen,
die ihre Lebenskraft dafür einsetzen, immer wieder auch kräftig
seufzen und um neue Motivation ringen müssen. Es ist auch gar keine
Frage, dass ihnen immer deutlicher vorgerechnet wird, was das alles
kostet. Und dass man immer offener Methoden propagiert, die unsere
Gesellschaft von dieser Anstrengung wenigstens teilweise entbinden.
Die Diskussionen um die aktive Sterbehilfe und um Beihilfe zum Suizid
sind sozusagen nur die Spitze des Eisberges. Neun Zehntel dieses
Protestes gegen das Pflegen von Kranken und Behinderten, die keine
Aussicht auf Heilung haben, wird nicht öffentlich artikuliert. Der australische
Philosoph Peter Singer, der ganz offen der christlichen Praxis
des Erhaltens des menschlichen Lebens auch in Extremfällen widerspricht,
gilt bis jetzt noch als totaler Außenseiter. Den »Killerphilosophen«
nennen ihn die Behindertenverbände, doch hat er neuerdings
durchaus Zugang zu den Symposien deutscher Universitäten.
Im Hintergrund steht eine Art »Sozialdarwinismus«, den ich lieber
»Asozialdarwinismus« nenne. Er geht davon aus, dass, was im Tierreich
gilt, mehr oder weniger auch im Miteinander der Menschen gelten
kann und vielleicht sogar gelten muss: dass die Vitalen, Lebenstüchtigen
die Lebensuntüchtigen verdrängen und jedenfalls nichts
tun, damit diese eine Überlebenschance bekommen. Wer den Asozialdarwinismus
zu seiner Lebensphilosophie macht, der kann in dem,
was an unheilbar Kranken oder schwer behinderten Menschen mit
großem Aufwand getan wird, nur vergebliche Liebesmüh sehen. Ja, er
wird sich früher oder später gegen diese »Verschwendung« von Energie
sogar aggressiv äußern. Er wird mit einer unzumutbaren Vervielfältigung
der Leiden argumentieren, mit einem Niedergang der Gesellschaft,
er wird die drohende Bevölkerungsexplosion ins Feld
führen und wird propagieren, dass es auf die Dauer für die Gesamtgesellschaft
»gesünder« ist, unheilbar Kranke und behinderte Menschen
ihrer Hilflosigkeit zu überlassen oder gar ihr Leben zu beenden, als sie
mit großem Aufwand zu pflegen. Die Kostenexplosion auf dem Gesundheitssektor
wird ihm als Argumentationshilfe dienen.
Es ist keine Frage, dass von dieser Seite her der Druck auf das christliche
Ethos zunimmt. Dass Menschen, die angetreten sind, schwer behinderten
Menschen beizustehen, es immer schwerer haben. Eltern, die ein
behindertes Kind zur Welt bringen, kommen durch die respektlosen
Fragen ihrer Mitmenschen in Rechtfertigungsdruck. Es wird schwieriger,
im Sinn Jesu den »glimmenden Docht nicht auszulöschen«.

Einsatz für die Schwachen

Je klarer sich ein Christ diese Entwicklungen macht, desto besser.
Wir tun uns selbst keinen guten Dienst, wenn wir hier auf beiden
Schultern Wasser tragen und unser christliches Ethos mit dem, was an
Mentalität im Kommen ist, in Einklang bringen wollen. Wir sind zu
einer klaren Entscheidung zwischen christlicher Lebenseinstellung
und der Einstellung des Asozialdarwinismus aufgerufen.
Wobei die klare Ablehnung des Asozialdarwinismus als einer Lebenseinstellung
keineswegs verwechselt werden darf mit einer Ablehnung
dessen, was ein behutsamer und verantwortungsbereiter Forscher
wie Charles Darwin über die Entwicklung der Arten erforscht
hat. Wir haben keine guten Gründe, einem christlichen Fundamentalismus
das Wort zu reden, der die Bibel zum Biologiebuch erklärt und
im Namen des biblischen Weltbildes der naturwissenschaftlichen Forschung
ihre Freiheit bestreitet. Aber dass wir unterscheiden zwischen
dem, was im Tierreich vor sich geht, und dem, was uns Menschen besonders
aufgetragen ist, dafür stehen wir Christen. Und daran hängt
unser christlicher Humanismus.
Uns Menschen ist es aufgetragen, unsere Kräfte ohne Wenn und
Aber für andere Menschen einzusetzen, die ohne fremde Hilfe nicht leben
können. Wer stark ist, hat seine Kraft als unverdientes Geschenk
von Gott. Diese Gabe schließt die Aufgabe ein, diese seine Kraft denen
zu leihen, die kraftlos sind. Wir sind aufeinander bezogen. Christen,
die Salz der Erde sind, wissen sich dazu berufen, auf diese Weise das
Schwache zu stärken. Nicht weil sie eine krankhafte Hinneigung zum
Schwachen hätten, sondern weil sie in jedem hilflosen Menschen vor
allem das Kind Gottes sehen, dem die grundlose Liebe Gottes, wie sie
in der Art Jesu offenbart wurde, bedingungslos gilt. Wir Christen haben
viel Grund, einander auf diesem Weg zu stärken.
Doch zurück zum Bild des glimmenden Dochtes und des zerstoßenen
Rohres für unseren Glauben. Es ist keineswegs ungewöhnlich,
wenn unser Glaube sich in dem Zustand befindet, der durch dieses
Bild angedeutet wird. Wir »haben« ja unseren Glauben nicht wie etwas
Festes, das wir als eine Art unverlierbaren Besitz betrachten können.
Unser Glaube lebt ja, wenn er lebt, durch eine Art Auferweckung
von den Toten, durch eine Art Schöpfung aus dem Nichts. Das Unmögliche
wird möglich, wenn wir glauben. Und wo unsere »fleischlichen«
Augen nur das Erlöschen, das Ende unseres Glaubens sehen,
da sehen die geistgeweckten Augen ein neues Erwachen des Glaubens
voraus.
Kann ein glimmender Docht noch einmal zu brennen anfangen?
»Herr, mein Gott, du weißt es« (Hes 37,3). »Bei den Menschen ist´s
unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich« (Mt 19,26).

Wegworte zum Herunterladen: 46_12.So.n.Trinitatis (pdf)