10. Sonntag nach Trinitatis

Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist,
dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.

Die Psalmen 33, 12

Den 10. Sonntag nach Trinitatis hat man in der Christenheit lang als
Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr
70 n.Chr. begangen. Je nachdem wie der Prediger eingestellt war,
brachte er mehr das Bedauern und die Mitbetroffenheit von Christen
mit dem Geschick Israels zur Sprache oder er zeichnete Israel als Paradebeispiel
der Unbußfertigkeit und demonstrierte an der Zerstörung
Jerusalems und dem Geschick des ruhelosen »Ahasver«, wo es hinführt,
wenn ein Volk Jesus, den Sohn Gottes, den Christus und Heiland,
nicht erkennt und nicht anerkennt.
Oft wurde wohl darauf hingewiesen, dass Israel das von Gott erwählte
Volk gewesen sei, erwählt und aus dem Knechtshaus Ägypten
herausgeführt, am Sinai mit den Zehn Geboten beschenkt, durch die
Wüste ins Gelobte Land geleitet, begabt immer neu durch Propheten,
die es an den heiligen Willen Gottes erinnerten, damit es seinem Auftrag
in der Völkerwelt nachkomme: das Recht Gottes unter die Völker
zu bringen, für den Glauben an den einen Gott zu werben, dabei
für ein Verständnis des Menschen einzutreten, nach welchem jeder
Mensch Ebenbild Gottes ist, Zeugnis zu geben für die Hoffnung auf
das kommende Gottesreich, vor allem aber: den Messias Jesus hervorzubringen,
den Gott zum Christus und Heiland der Völker bestimmt
hat, ihn zu erkennen, anzunehmen und, seinem Missionsbefehl
folgend, in alle Welt hinauszugehen mit der Botschaft des
Evangeliums.
Zum Programm der herkömmlichen Israel-Theologie der Kirchen,
der evangelischen wie der katholischen, gehörte die Feststellung, dass
Israel in seiner großen Mehrheit Jesus nicht als seinen Messias erkannt
hat, es sei verstockt, habe die Binde vor seinen Augen, wie Paulus in
Römer 11,8–10 schreibt und wie der Künstler, der am Straßburger
Münster Synagoge und Ecclesia geschaffen hat, in mitfühlender Eindringlichkeit
darstellt. Hingewiesen wurde auf die Selbstverfluchung
vor dem Richthaus des Pilatus »Sein Blut komme über uns und unsere
Kinder« (Mt 27,25). Es wurde als ausgemacht angesehen und
durch die Geschichte der Juden als erwiesen, dass Gott diese Selbstverfluchung
wahrgemacht hat. Und es wurde gefolgert: Das Volk der
Juden wurde, weil es Jesus als seinen Messias abgelehnt hat, seines
Vorrechtes, erwähltes Volk Gottes zu sein, enterbt. Das Vorrecht ist
auf das neue Israel, die christliche Kirche übergegangen. Für das real
existierende Israel der Gegenwart hatte man in der Heilsgeschichte
Gottes keinen Platz mehr. Noch Karl Barth in seiner Erwählungslehre
(Kirchliche Dogmatik II, 2), die eigentlich im Blick auf ein besseres
Verständnis Israels und vor allem für eine neue Hoffnung für Israel einen
Durchbruch bedeutet, kann mit dem gegenwärtigen Volk der Juden
wenig Positives anfangen. Ungeachtet dessen, dass er die Hoffnung
auf eine künftige Errettung Israels – »ganz Israel wird gerettet
werden« (Röm 11,26) – stark hervorhebt, kann er doch im gegenwärtigen
Volk der Juden nicht viel Hoffnung am Werk sehen. Die Juden,
die Jesus nicht als ihren Messias erkennen, seien dazu bestimmt, das
Vergehen des für Christus blinden Menschen unter dem göttlichen
Nein abzubilden. Was zur Folge hatte, dass Karl Barth in seiner Lebenszeit
mit lebenden Juden fast nicht im Gespräch war, so viel er
auch für die Rettung von bedrohten Juden in den vierziger Jahren in
der Schweiz getan hat. Erst kurz vor seinem Lebensende hat er in einem
Brief an seinen Schüler Friedrich Wilhelm Marquardt dieses als
eines der großen Versäumnisse seines Lebens beklagt. Immerhin hat
Barth (KD, IV) wohl unter dem Eindruck der Gründung des Staates
Israel im Jahr 1948, deutliche Anläufe unternommen, diese seine
Sicht des gegenwärtigen Volkes Israel zu revidieren.
Der theologische Antijudaismus, der, aus dem Mittelalter kommend,
vor allem durch Luthers späte Judenschriften »Von den Juden
und ihren Lügen« und »Vom Schem Hamphoras« in die lutherischen
Kirchen hineingetragen und auf Jahrhunderte in sie tief eingegraben
wurde, hat sich im 20. Jahrhundert bei vielen »Deutschen Christen«
mit dem rassischen Antisemitismus der Nationalsozialisten verbunden
und der Rechtfertigung und Annahme dieser Auffassungen sehr Vor-
schub geleistet. Bei anderen Christen, die gespürt haben, dass die Rasse-
Auffassungen eines Houston Steward Chamberlain oder eines Alfred
Rosenberg nicht mit der Bibel zu vereinbaren seien und die mit
tiefem Bedauern und Erschütterung das Leid ihrer jüdischen Mitbürger
mit angesehen haben, wirkte sich die Auffassung, Gottes gerechtes
Gericht gegen die »Gottesmörder« treffe nun die Juden, so aus, dass
sie bei aller Erschütterung über das Geschehen sich doch nicht aufgerufen,
ja, auch nicht berechtigt fühlten, dem strafenden Gott in die
Arme zu fallen.
Es brauchte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Völkermord an
den Juden große Anstrengungen, dieses schwerste aller Themen in
den Kirchen anzugehen und sich zu fragen, was hier auch in der Israel-
Theologie der Kirchen falsch gelaufen sei. Hatten doch fast alle
Christen in der Frage des Beistandes der bedrohten Juden völlig versagt.
Auf Kirchentagen und Katholikentagen lernten Christen von jüdischen
Lehrern wie Schalom Ben Chorin oder Pennina Levinson
oder Peter Nathan Levinson und vielen anderen gesprächsbereiten jüdischen
Gelehrten. Die Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit
brachte Christen und Juden in ein ständiges Gespräch.
Für zahlreiche junge Deutsche war der Freiwilligendienst der Aktion
Sühnezeichen Friedensdienste in Israel der Anfang, im Land Israel Juden
zu begegnen und von ihnen zu lernen. Auch in Württemberg gab
und gibt es Theologen, denen die Begegnung mit Israel und ein neues
achtungsvolles Verhältnis zum erwählten Volk der Juden Herzensanliegen
war und ist. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Otto Mörike, der
wesentlich die Arbeit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in
Israel gefördert hat, Rudolf Pfisterer, der mit großem Eifer jüdische
Glaubenswelt für Christen erschlossen hat, Hans Stroh und Manfred
Kunz, die regelmäßig mit den Pfarrern, die im Pastoralkolleg in Freudenstadt
waren, in die Synagoge nach Straßburg gingen, Hartmut
Metzger, der den Denkendorfer Kreis gegründet und jüdisch-christliche
Thora-Lernwochen eingerichtet hat, Rudolf Maurer, der einst
die Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen in Israel angeleitet und später
vor allem dem Denkendorfer Kreis seine Erfahrung und seine
Kraft zur Verfügung gestellt hat.
Ein neues Lernen vom Judentum hat begonnen, ein Gespräch mit
jüdischen Bibelgelehrten, das durch die Instituta judaica – ich denke
an Otto Michels und Martin Hengels Arbeit in Tübingen – unterstützt
wurde. Kirchengeschichte wurde unter dem Aspekt »Stellung
zum Judentum« beleuchtet, etwa in der Dissertation von Martin Jung
»Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus
(1675–1780)«. Dieses Gespräch zwischen Juden und Christen
wurde zwar immer wieder durch ein neues Aufkommen alter antijüdischer
Klischees, etwa in den Bestsellern von Franz Alt u. a. oder in feministischer
Literatur, gestört. Doch ist sowohl im Feminismus als
auch in der Friedensbewegung eine selbstkritische Auseinandersetzung
mit den antijudaistischen Vorstellungen in den eigenen Reihen
zu beobachten.
Als eine Frucht des jüdisch-christlichen Gesprächs darf es auch angesehen
werden, dass das Leitwort zum Israel-Sonntag verändert
wurde. War es noch vor zwei Jahrzehnten das Wort aus Sprüche
14,34: »Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute
Verderben« – es wurde gar zu oft am Volk Israel exemplifiziert, das
seine Sünde büßen müsse –, so haben wir heute als Leitspruch das
Wort aus Psalm 33,12: »Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist,
dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.«
Ich versuche nun, als einer, der selbst im Blick auf Israel in Lernprozessen
steht, dieses Wort zu beleuchten.
Nach wie vor ist Israel das von Gott erwählte Volk. Ihnen gehört
»die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz
und der Gottesdienst und die Verheißungen« (Röm 9,4). »Gottes Gaben
und Berufung können ihn nicht gereuen« (Röm 11,29).
Gott ist mit seinem Volk Israel in besonderer, unvergleichlicher
Weise unterwegs. Sein Ziel ist: »Ganz Israel wird gerettet werden«
(Röm 11,26). Wie immer wir dieses Wort verstehen können, es bedeutet
auf jeden Fall für Israel Rettung, Heil und Leben.
Die Enterbungstheorie, nach welcher Gott sein Volk enterbt und
an Stelle seines Volkes die Christen als sein neues und einziges Gottesvolk
eingesetzt habe, ist biblisch nicht zu begründen. Sie hat unendlich
viel Leid über die Juden gebracht, durch sie wurde den Juden ihre
stärkste und kostbarste Hoffnung abgesprochen. Christen haben, indem
sie diese Auffassung propagiert haben, sich an Israel schwer versündigt.
Von Gott erwählt sein, bedeutet auch Teilhabe an Gottes Leiden
an seiner Menschheit. Die Tiefe des antijudaistischen Hasses auf dieses
Volk wird erst deutlich, wenn wir uns klarmachen, dass die Schläge,
die dieses Volk treffen, im Grunde dem Gott zugedacht sind, dem
die Völker nicht verzeihen, dass er durch dieses »Volk seiner ersten
Liebe« (Friedrich Heer) im Besonderen seine Heilsgeschichte voranbringen
will. Die Völker, die sich selbst gern als »erwähltes Volk« begreifen
möchten und die sich entsprechend ihre Nationalreligion
schaffen, neiden dem Volk Israel seine Stellung in der Völkerwelt und
lassen es das Vorrecht seiner Erwählung büßen.
Besonders belastend für uns Christen ist die Einsicht, dass Christen
diese Art von Judenhass mit sehr fragwürdigen theologischen
Theorien geschürt und auf diese Weise Juden eine Annäherung an ihren
Bruder Jesus aufs Höchste erschwert haben. Nach Paulus (Röm
11,11ff.) ist es Gottes Plan, dass die Juden durch das Tatchristentum
der Christen gereizt werden, das Heil in Christus zu finden. Das
heißt, wir Christen sind dazu berufen, unser Christsein so anziehend
zu leben, dass es Juden leicht wird, sich positiv mit Jesus zu beschäftigen.
Dass durch Jahrhunderte und besonders im 20. Jahrhundert in
unerhörtem Ausmaß durch Christen das Gegenteil geschah, das gehört
zu den dunkelsten Schuldkapiteln der Christenheit. Weshalb der
Israelsonntag nach der Schoah nur als christlicher Bußtag begangen
werden kann.
Immer wieder neu zu entdecken haben wir Christen, dass Israel
unsere Wurzel ist, in die wir Heidenchristen »eingepfropft« sind. Uns
Christen schreibt Paulus ins Stammbuch: »Du sollst wissen, dass
nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm
11,18). Es ist für uns Christen nicht lediglich eine interessante Erfahrung,
mit Juden im geistigen Austausch zu sein. Vielmehr ist die Verbindung
mit ihnen für uns als Kirche eine elementare Lebensfrage,
wie die Verbindung einer Baumkrone mit Stamm und Wurzel für das
Leben des Baumes lebensnotwendig ist.
Es ist in diesem Sinn für das Bibelverständnis der Kirche unerläss-
lich, dass sie ständig im Gespräch mit jüdischen Bibelgelehrten biblische
Aussagen zu verstehen lernt. Es ist auch für unser Verständnis des
Juden Jesus unerlässlich, dass wir zur Kenntnis nehmen, wie jüdische
Gelehrte ihn verstehen. Es ist besonders im Ringen um das rechte
Verständnis Jesu wichtig und hilfreich, dass wir über ihn mit Juden
im Dialog sind, wobei wir echte Dialogpartner sein sollten, die zu einem
wirklichen Austausch ihres Verständnisses der Person Jesu bereit
sind. Wir tun niemandem einen Gefallen, wenn wir unsere eigene Jesus-
Erkenntnis schamhaft verbergen.
»Judenmission« sollten wir Christen ablehnen. Das Wort »Mission
« paganisiert die Juden. Es erweckt die Auffassung, als sei der Jude
mit dem Heiden auf der gleichen Bank anzutreffen. Es missachtet
dieses Wort, dass der Vater Jesu Christi dieses Volk zu seinem Volk gemacht
hat, längst ehe unsere Vorfahren Christen wurden. Das Judentum
ist keine Religion unter anderen, es ist, auch nach seinem Selbstverständnis,
die göttliche Alternative zur Welt der Religionen.
So entschieden wir die »Judenmission« ablehnen sollten, so selbstverständlich
sollten wir die Möglichkeit zum Dialog in Glaubensfragen,
nicht zuletzt auch über Jesus, mit Juden nutzen. Die Frage, was der jüdische
Gesprächspartner mit unserem Glauben an Jesus als den Christus
anfängt, haben nicht wir, sondern hat allein er zu beantworten.
Mit aller Entschiedenheit treten Christen für das Lebensrecht Israels
in Palästina ein. Sie müssen nicht jede Maßnahme der Politik
des Staates Israel rechtfertigen. Es gibt unter Freunden auch kritische
Solidarität. Auf jeden Fall aber werden Christen einer leichtfertigen
Kritik, welche die enorme Bedrohtheit des Volkes der Juden im Nahen
Osten bagatellisiert, entgegentreten. Und sie werden verstehen,
dass Juden nach allem, was ihnen im 20. Jahrhundert angetan wurde
und ihnen von Seiten des fundamentalistischen Islamismus angedroht
und angetan wird, Drohungen ihrer Feinde ernst nehmen. Wir Christen
in Europa sollten uns hüten, von unserer ungefährdeten Situation
her das Volk der Juden, das in ständiger Bedrohung lebt, politisch zu
schulmeistern.

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