9. Sonntag nach Trinitatis

Wem viel gegeben ist,
bei dem wird man viel suchen;
und wem viel anvertraut ist,
von dem wird man um so mehr fordern.

Das Evangelium nach Lukas 12, 48

Mit Bibelworten haben verschiedene Menschen ihre ganz persönliche
Geschichte. Mich erinnert dieses Wort an einen Sonntagmorgen im
Jahr 1989 in Minsk in Weißrussland. Wir, eine Gruppe, die sich auf
eine politische Pilgerfahrt gemacht hatte, standen im Kreis zu einer
Art Morgenwache vor unserem Hotel, bevor wir das Taxi zum Flugplatz
nehmen wollten. Eine aufregende Woche lag hinter uns. Mit
Halstüchern, auf denen stand »Komm und sieh«, nach Weißrussland
hineinfahren, sich von irgendwelchen Friedenskomitees mit Blumen
begrüßen, in Betrieben, auf Rathäusern herumreichen lassen; dann
auch die Gedenkstätten des Zweiten Weltkrieges besuchen? Werden
die Leute, die uns empfangen, überhaupt etwas mit uns anfangen können?
Wie werden wir uns verständigen, wo doch fast keiner von uns
ein Wort russisch spricht? Werden sie in uns nicht die westlichen Faschisten
und Kapitalisten sehen? Auf was habe ich mich da eingelassen?
»O, wie gerne kehrte ich um«, dachte ich, als ich in der russischen Eisenbahn
saß und die weit gestreckte Ebene, samt den ärmlichen Hütten
mit den kleinen Pferdewagen davor, an uns vorbeiziehen sah.
Aber dann kam alles anders, als von mir kleingläubig befürchtet. Die
Herzlichkeit der Menschen, die auf uns gewartet haben, hat mich von
Anfang an geradezu umgeworfen. Sie hatten wirklich auf uns gewartet.
Sie wussten etwas mit uns anzufangen. Und wenn sie mit uns in
die Orte gingen, an denen die SS ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht,
die Bewohner bei lebendigem Leib verbrannt hatte, dann
war das doch nicht ein Spießrutenlaufen für uns Deutsche, sondern es
war ein gemeinsamer Gang zum Ort der Schuld und des Grauens.
Wir haben unsere Erschütterung miteinander geteilt, haben unsere
Bußgebete gesprochen, haben von Herzen Gott angerufen, er möge
uns in unserer Lebenszeit zu Werkzeugen seines Friedens machen und
er möge denen, die hier schwerste Schuld auf sich geladen haben, ihre
Schuld vergeben und ihre Seele reinigen, er möge sie und uns befähigen
zum Leben in seinem Licht. So gingen wir miteinander, Christen
und Nichtchristen, besuchten eines der wenigen übrig gebliebenen
russischen Klöster, sprachen mit alten Partisanenführerinnen, die uns
durch das Museum des »vaterländischen Krieges« führten. Mit Gewerkschaftlern,
Bürgermeistern, mit Wassyl Bykau, dem Schriftsteller,
der als der Chronist des Zweiten Weltkrieges gilt, und nicht zuletzt
mit Lyda, deren Eltern von der SS erschossen worden waren, die als
Kind durch den Wald geirrt war, bis Partisanen sie aufgegabelt und in
ein Kinderheim gebracht hatten. Lyda in ihrer engen Einzimmerwohnung
an ihrem Klapptisch – für einen festen Tisch war zu wenig
Platz. Lyda, die uns »auf die guten Deutschen« zugeprostet hat. Es
war wie eine Reihe von Friedensschlüssen. Und oft war mir, als würde
ich irgendwo von weither das Wort hören: »Euch sind euere Sünden
vergeben, euch Deutschen, euch allen. Friede sei mit euch.«
Aber wenn das Wort Tschernobyl fiel, dieses tief bedrückende
Schweigen, die Angst, die die Gesichter ins Hoffnungslose verwandelte.
Tschernobyl, drei Jahre war es damals her. Und die Wahrheit war erst
langsam durchgesickert. Jetzt erst hing die erste Karte der verstrahlten
Gebiete auf der Hauptstraße in Minsk hinter einer Panzerglasscheibe.
Eine Ärztin hatte mir im weißrussischen Gesundheitsministerium
eben eine solche Karte mitgegeben. Sie ist seither eine ganz eigene Reliquie
in meinem Besitz. Lange hing sie an meiner Wand. Ein Gebiet
sehe ich da, auf dem zweieinhalb Millionen Menschen wohnen, ca.
800 000 Kinder, auf 22 000 Jahre mit Cäsium verstrahlt. Darin weite
Gebiete, in denen die Verstrahlung das Fünfzigfache, ja das Hundertfache
von dem ausmacht, was die WHO als zulässigen Höchstwert erklärt.
Und überall Menschen, die im Fluss Fische fangen, im Wald
Beeren sammeln, deren Hauptnahrung Pilze sind. Wie ausgiebig haben
sie uns mit Pilzen bewirtet! Weißrussland, dreimal schwer gestraft:
von Hitler, von Stalin und jetzt Tschernobyl!
Aber diese herzlichen Menschen! Wie sollte ich jetzt, vor der Fahrt
zum Flughafen, unsere Eindrücke zusammenfassen? Ich las das Wort
zum 9. Sonntag nach Trinitatis: »Wem viel gegeben ist, bei dem wird
man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um-
verso
mehr fordern.« Ich habe nicht alles gesagt, was ich dachte. Vieles
war noch zu ungeordnet in mir. Aber soviel konnte ich sagen und
konnte dabei dessen gewiss sein, dass es jeder der hier Anwesenden
versteht: Wir haben in dieser Woche unendlich viel empfangen. Wir
haben es empfangen durch Menschen, von denen einige fromme orthodoxe
oder baptistische Christen, andere mehr oder weniger überzeugte
Kommunisten sind, aufgewachsen in der Spur des dialektischen
Materialismus. Wir hatten die Botschaft empfangen, dass es
Brücken über Blut und Asche gibt, dass die Schuld, auch die Völkerschuld,
nicht die letzte Wirklichkeit ist, dass es Vergebung der Sünden
gibt. »Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das
nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging,
soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten
Zeit« (EG 655). So haben wir mit den Worten unseres alten
Freundes Schalom Ben Chorin gesungen. Ja es war für uns wirklich
geworden, was wir im Psalm 103 beten: »Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unseren
Sünden … Sofern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere
Übertretungen von uns sein« (Ps 103,9–12). Keine Frage, das war die
Hoffnung weckende Quintessenz unserer Pilgerfahrt.
Aber von Menschen, denen so viel gegeben ist, »wird man viel suchen;
wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern«. Was?
Ich weiß nicht mehr genau, was ich konkret genannt habe. Wahrscheinlich
habe ich mich sehr allgemein ausgedrückt. Dabei war es mir beim
Lesen dieses Wortes plötzlich klar geworden: Wir kommen wieder. Wir
werden etwas tun, um euch wenigstens ein Zeichen der Hilfe zu geben
in eurer Not, die den Namen Tschernobyl trägt. Aber dieser Gedanke
war ja eben erst geboren. Er vertrug es noch nicht, ausgesprochen zu
werden.
Ein halbes Jahr später kam ich wieder, zusammen mit Gerhard Gädicke,
Professor für Kinderheilkunde und weithin anerkannter Leukämiespezialist.
Wir fuhren in die hoch verstrahlten Gebiete, nach Slawgorod, über
dem sowjetische Kampfflugzeuge die Wolke ausgeregnet hatten, die
nach dem Supergau von Tschernobyl in Richtung Moskau zog. In einer
zerstörten, halb aufgebauten Kirche luden wir hundert Kinder ein, nach
Ulm zu kommen zur Erholung im unverstrahlten Gras, zu baden im
sauberen Schwimmbadwasser, sich voll zu essen an unverstrahlter Nahrung,
auch: die Atmosphäre eines freien Landes zu erleben.
Und ein Jahr später kamen wir mit 25 Leuten, brachten in unseren
Rucksäcken Medikamente, Vitaminmittel für das Krankenhaus in
Slawgorod, das in seiner Dürftigkeit jeder Beschreibung spottet. Daraus
wurde die »Ulmer Tschernobyl-Hilfe«, die fünfzehn Jahre lang für
Millionenbeträge mit Lastenwagenkonvois Medikamente, Nahrung,
Kleider, Rollstühle, Armstützen, auch größere medizinische Geräte in
weißrussische Krankenhäuser gebracht hat.
Das fordernde Wort aus Lukas 12, Vers 48, gegen das etwas in uns
eher die Stacheln stellt, hat uns die Tür aufgetan zu Aktionen, bei
denen wir für uns selbst viel mehr empfingen, als wir gegeben hatten.
Ich hatte den ersten Teil dieses Wochenspruchs im Kontext der
weißrussischen Reise mehr so verstanden: Viel gegeben ist uns an
Gnade, Vergebung, an dem Frieden, der nicht unser Produkt, der
vielmehr reines Geschenk des barmherzigen Gottes ist. Wem so viel
geschenkt wird, der bekommt Lust, etwas von dem, was er empfangen
hat, seinerseits verwandelt zurückzugeben.
Im Kontext Lukas 12, 35–48 ist mit dem »viel gegeben« wohl mehr
gemeint: Der Mensch, der vor anderen den Vorzug hat, dass er den
Willen seines Herrn kennt und dass er nicht zuletzt auch deswegen eine
hervorgehobene Stellung im »Betrieb« seines Herrn hat, von ihm kann
man mit Fug und Recht mehr erwarten als von einem, dem dieser Herr
im Grunde unbekannt ist und der in der Nacht, in der alle Katzen grau
sind, irgendwie seinen Weg sucht. Den Willen Gottes kennen, aufgewachsen
zu sein mit den Zehn Geboten, vollends: die Weisungen
Jesu, etwa aus der Bergpredigt, seine Seligpreisungen zu kennen, womöglich
von Christen erzogen worden zu sein, die sich redlich bemüht
haben, das alles nicht nur zu lehren, sondern auch zu leben, das ist
ein enormes Vorrecht. Wer dieses Vorrecht genießt, dem ist »viel gegeben
«.
Wir können ohne Weiteres dazusagen: Wer körperlich gesund ist,
wer unbehindert seine fünf Sinne gebrauchen kann, wem der liebe
Gott womöglich noch besondere Gaben in die Wiege gelegt hat, Gaben
der Intuition, des Verstandes, einer Vernunft, die auch das ver-
nimmt, was mir mein bloßer Verstand nicht sagen kann, wer die Gabe
eines nicht ganz schwachen Willens hat, wer das alles im Lauf seines
Lebens stetig entwickeln konnte, dem ist viel gegeben. Er soll sich
ja nichts darauf einbilden, als sei das sein Verdienst. »Was hast du, das
du nicht empfangen hast« (1. Kor 4,7)?
Ist es da unbillig, wenn es von einem Menschen, der solche Vorrechte
genießt, heißt: »Bei dem wird man viel suchen« und »von dem
wird man umso mehr fordern«?
Dabei ist es mir nicht ganz klar, wer mit diesem unbestimmten
Wort »man« gemeint ist. Meint dieses Wort »man« die Leute, die uns
umgeben, im Sinne von: Du giltst als ein Christ. Du kannst es nicht
verhindern, dass man auf dich sieht und dass auch der Mensch, der dem
Christentum ganz distanziert gegenübersteht, von dir mehr erwartet
als von einem anderen, der ohne christliche Erziehung aufgewachsen
ist? Das wäre ein Hinweis, der fast eine alltägliche Selbstverständlichkeit
ausdrückt. Ja, so ist es, wer das Vorrecht einer christlichen Erziehung
genossen hat, wer sich sogar als Christ bekennt, indem er in der
Kirche Jesu Christi diese oder jene Aufgabe übernimmt, auf den sieht
auch der Nichtchrist in der Regel mit größerer Erwartung. Und wir
können uns bei ihm darüber nicht beklagen. Er misst uns an den
Worten, die wir oft selbst gebrauchen, an der Botschaft, die wir im
Gottesdienst hören. Er hat ja Recht damit. Es wäre ja wirklich nicht
schön, wenn einer beim Thema »Christen« nur mit dem Achseln zucken
und sagen würde: »Geh mir weg mit den Christen.«
Und dass Nichtchristen, Skeptiker, Beobachter aus der Ferne, von
uns Christen mehr erwarten als von anderen, das verpflichtet uns ja
auch in guter Weise. Wir sind zwar nicht dafür verantwortlich, dass
diese unsere Beobachter, indem sie uns erleben, zu Christen werden.
Ein solches Wunder kann keiner von uns inszenieren. Das bleibt allein
dem Geist Gottes vorbehalten. Aber dafür, dass der nichtchristliche
Beobachter an uns etwas sieht, das ihn motiviert, mit Respekt über
den christlichen Glauben nachzudenken, dafür sind wir allerdings
verantwortlich. Glaube ist ja nicht einfach Privatsache, sondern Glaube,
wenn er christlicher Glaube ist, ist ein öffentliches Bekenntnis, das
durchaus eine missionarische Wirkung haben kann.
Oder ist dieses Wort »man« in den beiden Halbsätzen »bei dem
wird man viel suchen« und »von dem wird man umso mehr fordern«
ein Hinweis auf Gott selbst im Sinne von: Gott sucht das bei dir,
Gott fordert umso mehr bei dir? Im Gleichnis von den anvertrauten
Pfunden (Lk 19,11–27) erwartet der Herr von den Arbeitern, denen
er viel anvertraut hat, durchaus, dass sie viel Gutes damit anfangen.
Zornig wird er über den »bösen Knecht«, der sein Pfund im Schweißtuch
behalten (Lk 19,20) oder im Boden vergraben (Mt 25,25) hat.
Von dem Knecht, dem er eine Riesensumme erlassen hat, erwartet er,
das er wenigstens seinen Mitbruder, der einiges bei ihm geliehen hat
und nichts zurückbezahlen kann, dieses erlässt (Mt 18,21–35). Und
im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33–41) erwartet
der Besitzer des Weinbergs von den Leuten, denen er seinen Weinberg
überlassen hat, dass sie ihm zu seiner Zeit die entsprechenden Früchte
bringen (Mt 21,34). Wir sind Nutzpflanzen in Gottes Garten, er
kann von dem Baum, den er in seinen Garten gepflanzt hat, Früchte
erwarten (Mt 7,17–20). Er erwartet, wie Johannes der Täufer seinen
Zuhörern in der Wüste gesagt hat, »rechtschaffene Frucht der Umkehr
« (Mt 3,7). Ja, er fordert das von uns.
Überforderung? Wir tun uns selbst keinen Gefallen, wenn wir
gleich mit diesem Wort reagieren. Wenn ein Lehrer von einem begabten
Schüler etwas erwartet, dann drückt das eine gewissen Achtung
aus. Wenn er von einem begabten Schüler nichts erwartet, dann gibt
er damit zu verstehen: »Dieser junge Mann ist zwar begabt, aber er
ist ein rechter Taugenichts. Ich denke nicht dran, meinen pädagogischen
Eros ausgerechnet an ihn zu verschwenden. Da gibt es lohnendere
Ziele.« Und wenn der Personalleiter einer Firma von einen
Mitarbeiter nichts Positives erwartet, weil er weiß: Er ist faul oder jedenfalls
willensschwach, dann wird sich zwischen ihm und dem Mitarbeiter,
den er für eine Niete hält, nie ein erfreulicher Kontakt entwickeln.
Wir können uns freuen, wenn unser Schöpfer und Erlöser von uns
Gutes erwartet. Dass er um unsere Schwächen weiß und dass er besser
als wir versteht, dass im Grund jeder wirkliche Erfolg sein Geschenk
ist, davon dürfen wir ausgehen. Er wird uns letztendlich mit verstehenden
Augen sehen und er wird an dem, was wir in seinem Dienst
zu tun versuchen, viel lieber das Gute sehen als unser Scheitern. Da
mag dann vieles, was wir als ein einziges Versagen empfinden, in seinen
Augen doch eine ganze Reihe von recht erfreulichen Ansätzen
sein, die er brauchen kann und die er weiterentwickeln und schließlich
vollenden wird.

Wegworte zum Herunterladen: 43_9.So.n.Trinitatis (pdf)