19. Sonntag nach Trinitatis

Heile du mich, HERR, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen; denn du bist mein Ruhm.

Der Prophet Jeremia 17, 14

So kann auch ein Mensch sprechen, dem der Arzt dann und wann eine
recht beständige Gesundheit attestiert und der von seinen Mitmenschen
als leistungsstark eingeschätzt wird.
Was ist Gesundheit? Sie entscheidet sich nicht nur an unseren
Blutwerten und an der ruhigen Zuverlässigkeit unseres Herzschlages.
Gesundsein im Sinne dessen, was das Wort Schalom meint, heißt:
mit Gott im Reinen, auch wenn ich Vieles von dem, was er tut und
was er zulässt, nicht verstehe. Aber ich traue ihm zu, dass er die Geschicke
der Völker wie das Geschick jedes einzelnen Menschen und so
auch mein eigenes zum guten Ende führt, dass wir alle nicht büßen
müssen, was wir falsch gemacht haben, was wir an Anderen gesündigt
und was wir vor Gott versäumt haben. Dass er uns führt auch in Situationen,
in denen wir uns verlassen vorkommen. Dass er uns zu seiner
Zeit, die er allein kennt, unser gelebtes Leben mit allem, was da war,
verstehen lassen wird. Und dass wir uns in diesem Vertrauen in seine
Hand geben und in seiner Hand geborgen sein können, jetzt schon.
Gesundsein im Miteinander mit anderen Menschen heißt, dass
mein gespanntes und auch gestörtes Verhältnis zu dem Menschen, an
den ich ständig denken muss, weil irgendetwas beharrlich zwischen
uns steht, geheilt wird, sodass wir uns wieder unbefangen begegnen
können, ja, dass Einer dem Anderen den Kopf in den Schoß legen
kann. Gesundsein heißt, dass die Feindbilder, die mich quälen und
beengen, abgebaut werden und dass ich, ohne jene Anderen zu idealisieren,
sie doch verstehend und gerecht sehen und wir dann trotz allem,
was ich an gefährdendem Störpotenzial in ihnen und mir sehe,
viel Gutes miteinander anfangen können.
Gesundsein, das heißt, angesichts quälender Konflikte, die Menschen
miteinander haben, auch wenn der Karren reichlich verfahren ist,
nicht resignieren, sich nicht verkriechen in der abwartenden Haltung,
weil ich ja doch weiß, dass ich nichts erreichen kann, vielmehr dem
Geist Gottes jetzt, bei uns, in dieser verfahrenen Angelegenheit etwas
zutrauen, auf die beteiligten Menschen mit der Autorität des Bittenden
zugehen und damit rechnen, dass die Nähe des Heilandes heilende
Wirkung entfaltet und dass auch ich irgendwie und irgendwann
etwas zur Gesundung beitragen kann.
Gesundheit, das heißt, dass ich mit mir selbst ins Reine komme.
Dass ich mich weder zu Tode arbeiten noch zu Tode grämen, noch zu
Tode ärgern, noch mich an den verpassten Chancen meines Lebens
krank reiben muss, dass ich vielmehr mein Leben, jede Stunde, dankbar
annehmen kann als Gottes Geschenk, dass ich zwar meine eigenen
Fehler und Gefährdungen illusionslos sehe, meine Wirkung auf
andere nüchtern und kritisch einschätze und mich dennoch wohlfühle
in meiner Haut, dem lieben Gott danke, dass er mich geschaffen
hat, meiner Mutter danke, dass sie mich geboren hat, meinen Eltern
und allen anderen, die mir geholfen haben, meiner Frau, meinen Kindern
und Enkeln, sie im Herzen segne und von Neuem auf die Innitialzündungen
des Geistes Gottes warte. Vielleicht, dass er dieses und
jenes doch durch mich tun will, vielleicht dass er mir Ruhe verordnet.
Ich will mich ihm so oder so zur Verfügung stellen und will leben
nach dem Liedvers: »Weil ich noch Stunden auf Erden zähle, will ich
lobsingen meinem Gott« (EG 303).
Wer kann uns so gründlich heilen und zurechthelfen? Wir sollten
solche Heilung von keinem Menschen erwarten. Kein Psychologe
und kein Seelsorger kann uns dermaßen wieder ins Lot bringen. Die
Methoden, auf die sie schwören, werden alle nüchtern wahrzunehmen
sein. Uns kann ja nur Gott selbst helfen. Vielleicht durchaus mit
Hilfe dieses oder jenes Menschen. Er hat seine Helferinnen und Helfer.
Und diese haben ihre mehr oder weniger erprobten Mittel und
Methoden. Diese müssen nicht falsch sein. Nur: Wenn ich mein letztes
Vertrauen auf diesen oder jenen Menschen und seine Methode setze,
dann bin ich wie der Ertrinkende, der sich an den auf den Wellen
schwimmenden Strohhalm klammert.
»Es ist des Menschen Herz ein trotzig und verzagt Ding, wer kann
es ergründen?« Das steht wenige Verse vor dem heutigen Wochenspruch
bei Jeremia 17,9. Das Wort erinnert mich an den wohl nachhaltigsten
Schock meiner Studienzeit. Mit einem Jugendfreund, der
einige hundert Kilometer entfernt in der Ausbildung war, hatte ich
mich brieflich gestritten in aller Leidenschaft. Seine Briefe haben
mich provoziert, ich meinte, ihm nachweisen zu müssen, dass er auf
einem ganz falschen Weg sei. Ich tat das in flammender Leidenschaft
und dabei rechthaberisch, wie nur ein Theologiestudent kurz vor dem
Examen rechthaberisch sein kann. Dann brachte mir mein Vater die
Nachricht, dass H. tot sei. Er habe sich aus dem D-Zug geworfen.
Kaum hatte mein Vater die Nachricht, die wie ein Donnerschlag war,
gesagt, da klingelte der Postbote und brachte mir sein Tagebuch, das
er bis wenige Stunden vor seinem Tod geführt hatte. Eine Summe
heftiger Leiden. Im Tagebuch liegend meine beiden Briefe.
Ich kann bis heute niemandem schildern, was ich über diesem Tagebuch
durchgemacht habe. Zum ersten Mal erfuhr ich, was Hölle ist
und was es heißt, eine Schuld nicht mehr gutmachen zu können.
Am Sonntag darauf wählte mein Vater im Gottesdienst als Schriftlesung
dieses Wort des Jeremia: »Es ist des Menschen Herz ein trotzig
und verzagt Ding, wer kann es ergründen?… Heile du mich, Herr, so
bin ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen.«
Jeremia hat dieses Gebet als sein Gebet niedergeschrieben in Zeiten,
in denen sein Auftrag, als Prophet dem Volk und seinen Meinungsführern
mit der Ansage von Gottes Gericht entgegen zu treten,
ihn total überfordert hat. Er war noch jung gewesen, als Gott ihn
zum Propheten gemacht hatte. Er hatte alles andere gewollt, aber das
nicht. Nun hat Gottes Auftrag ihn gepackt. Er muss dem Volk Worte
weitersagen, die ihm selbst schwer auf der Seele liegen. Er liebt sein
Volk und hofft immer, es werde sich warnen, womöglich zum Umdenken
rufen lassen. Aber er muss feststellen, dass sein Auftreten nur
verstockende Wirkung hat, dass die Art des Volkes und seiner führenden
Köpfe nur noch schlimmer wird. Er wird isoliert, verlacht, bekämpft,
verspottet, wir würden heute sagen: Er wird psychiatrisiert.
Auch seine verwandtschaftlichen Verbindungen zerbrechen unter diesen
Konflikten. Andere feiern miteinander, er muss einsam seinen Weg
gehen. Wenn er irgendwo vorbeikommt, verstummen die Leute. Er
kommt sich vor wie ein Schreckgespenst. Das macht ihn total fertig.
Was ihn dabei am meisten verstört, ist die Erfahrung, wie dünnhäutig,
wie nervenschwach er geworden ist. Immer wieder schüttelt
ihn auch die Angst vor Anschlägen. Er fürchtet – wie wir später sehen:
mit Recht – dass die religionspolitischen Meinungsführer ihn
beseitigen wollen.
Sein Weg als Prophet wird immer mehr zum Leidensweg. Jeremia,
in seiner Art ein Vorläufer des Gottesknechtes, von dem Jesaja in seinen
vier Liedern singt, und noch mehr ein Vorläufer Jesu auf seinem
Passionsweg.
In dieser Situation schreit Jeremia – und er meint hier so gut sich
selbst wie sein krankes und krankmachendes Volk: »Heile du mich,
Herr, so bin ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.«