20. Sonntag nach Trinitatis

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was der Herr von dir fordert,nämlich
Gottes Wort halten und Liebe üben und
demütig sein vor deinem Gott.

Der Prophet Micha 6, 8

Walter Schlenker fasst in seiner Auslegung dieses Wortes treffend zusammen,
in welcher Situation sich der Prophet Micha befand. Er
»lebte in einer schwierigen Zeit: Äußerlich schien alles in Ordnung zu
sein. Die Kleinstaaten Israel und Juda haben ihre Selbständigkeit. Im
Volk ist ein gewisser Wohlstand vorhanden. Es gibt viele reiche Leute,
die das Bild des öffentlichen Lebens bestimmen. Auch in religiöser
Hinsicht scheint Ruhe und Ordnung zu herrschen. Der Tempeldienst
funktioniert. Es gibt genügend Priester. Die Bündnis- und Rüstungspolitik
der Regierung scheint sich zu bewähren. Man feiert die eigene
Leistung und ist mit sich selbst zufrieden. Aber der Schein trügt. Micha
bekommt den Auftrag, den Schleier wegzuziehen und das, was
vor Gott und den Menschen faul ist, aufzudecken. Die soziale Frage
ist nicht gelöst. Die Mächtigen gieren nach mehr Macht und Reichtum
und schrecken vor nichts zurück. Wehe denen, die nach Äckern
gieren und sie rauben, nach Häusern und sie wegnehmen, die Gewalt
üben an dem Mann und seinem Haus, an dem Besitzer und seinem Erbgut.
Die Richter, Ältesten und Gemeindevertreter sorgen nicht für das
Recht der Schwachen, sondern lassen sich bestechen. Die Leute können
in ihrer Habgier nicht genug kriegen. Sie raffen und reißen –
aber es liegt kein Segen darauf. Die grundlegenden Beziehungen von
Mensch zu Mensch sind gestört. Das Vertrauen schwindet. Die Familienbande
zerfallen. Die Priester und die Frommen wollen ihre Ruhe
haben, haben Angst vor Konflikten mit den Mächtigen und sehen in
der Religionsausübung eine Garantie für zukünftigen Wohlstand und
Sicherheit. Sie wollen Michas Gerichtsankündigung nicht hören.«
In diese Situation hinein spricht er kurz und bündig, was die Zusammenfassung
der Botschaft aller Propheten ist. Er erinnert dran,
dass es jedem, der zu hören bereit ist, längst gesagt ist, was gut ist und
womit wir anderen gut tun; was Gott der Herr von uns erwartet und was er durch seinen Propheten von uns fordert. Wir haben also keinen
Grund, in der Frage, was gut ist, so zu tun, als sei das ein schweres
Problem, das wir mit unserer Kunst zu lösen hätten. Nein, es ist
dir gesagt: In den Zehn Geboten ist es gültig zusammengefasst. Von
den Propheten wurde es eindrücklich, griffig konkretisiert und vertieft.
Oft haben sie für diese Botschaft sehr viel Ärger und Schlimmes
riskiert. Sie haben ihren Kopf dafür hingehalten. Es spricht zu uns
durch die Weisheit des Spruchbuches, das heißt durch die Sprüche
Salomos. Es berührt uns durch das Gebetbuch Israels, die Psalmen.
Wir Christen können dazu sagen: Jesus Christus in seiner Bergpredigt
und in anderen Reden, in seinen Gleichnissen, seinen Streitgesprächen,
in seinen Abschiedsreden hat es uns gesagt. Die Apostel haben
dieselbe Botschaft vertieft und auf das Leben der Christen in der Gemeinde
und in der heidnischen Umwelt angewandt. Was wollen wir
mehr? Welcher Christ will da so tun, als seien wir ohne klare Orientierung
in unsere Welt gesandt?
Es ist uns gesagt. Die Frage ist nur, ob wir uns das sagen lassen. Ob
wir meinen, das sei ja alles von gestern; für uns Menschen des 21. Jahrhunderts
habe das alles allenfalls archivarischen Wert. Für das 21. Jahrhundert
müssten wir das Rad neu erfinden. Nein, Gott ist der da war
und der da ist und der da kommt. Er bleibt sich selbst treu. Und so
bleibt auch sein heiliger Wille, der uns nicht umsonst gezeigt wurde.
Was ist gut? Und was erwartet Gott von uns? Dass wir sein Wort,
Gottes Wort, halten. Wenn es Abend wurde und die Betglocke geläutet
hat, dann hat mein Vater mit uns gebetet: »Gib, dass wir leben aus
dem Wort und darauf mutig fahren fort...« Das war die Quintessenz
der zwölf Jahre Drittes Reich und Kirchenkampf für ihn, dass wir nur
dann ein halbwegs mutiges Christenleben führen können im Meinungsgewirr
und in den Propagandaattacken, die auf uns einstürmen,
wenn wir »leben aus dem Wort«.
Das bedeutete für ihn durchaus keine fundamentalistische Verengung.
Menschen, die mit Bibelworten um sich werfen, wenn sie ihre
persönlichen Entscheidungen begründen sollen, waren ihm eher suspekt.
Das Wort, das Gott durch Propheten und Apostel zu uns gesagt
hat, das er in Jesus sogar »Fleisch werden« ließ, war für ihn kein riesiger
Zettelkasten, aus dem wir heute dieses, morgen ein anderes Wort herausnehmen und dann über seiner wörtlichen Einhaltung notfalls
die Welt zugrundegehen lassen. Das Wort war im Zusammenhang der
Wörter zu sehen und, vor allem, Gottes Wort war für ihn eine Vielzahl
von Worten, durch den Mund sehr verschiedener Menschen gesprochen,
durch ihr Denken, ihre Ausdrucksweise durchaus persönlich gefärbt
und geprägt, aber eben das Wort, das wie Feilspäne auf dem magnetischen
Feld auf Jesus Christus hinweist und das eindeutig von ihm
herkommt. In diesem Sinn: Wort des lebendigen Gottes an uns.
Aus ihm leben! Dieses Wort in uns leben lassen, sich entfalten, uns
verwandeln lassen. Diesem Wort stillhalten, zulassen, dass dieses Wort
etwas mit uns macht. Und dass wir schließlich Hörende werden im Sinne
des Kindes Samuel: »Rede, Herr, dein Knecht hört« (1.Sam 3. 9).
Als Ebenbilder Gottes sind wir Wortwesen. Geschaffen, damit
Gott zu uns reden kann und wir mit unserem Gebet, aber auch mit
unserem gesamten Leben ihm antworten und so vor ihm verantwortliche
Menschen werden. Wie arm ist der Mensch, der von dem, was
das Fernsehen, die Zeitung, die paar Illustrierten ihm bieten, leben
will. Wie sehr unterschätzt er sich selbst. Worauf verzichtet er? Es findet
doch unser Leben nicht zuletzt darin seine Bestimmung, dass wir
als Angerufene dieses Wortes mit Gottes Wort unsere Erfahrungen
machen, nicht zuletzt unsere praktischen Erfahrungen, und dass so
unser Lebensweg zu einem Erkenntnisweg wird.
Und Liebe üben. Die Wahrheit des göttlichen Wortes wird ein
Mensch nur erkunden und erfahren, wenn er in seinem Leben entschlossen
den Weg des Liebenden geht. Wobei die Liebe, von der die
Bibel redet, nie darin begründet ist oder davon abhängt, dass der zu
liebende Mensch liebenswert, attraktiv ist. Die Liebe zum Feind gehört
folgerichtig zu dieser Liebe dazu. Denn wir lieben um Gottes
willen, der selbst die Liebe ist und der uns mit seinem Leben erfüllen
und befähigen will. Die Liebe, von der die Bibel redet, ist nie vor allem
Gefühl und noch weniger soziales Programm, noch weniger hohes
Ideal, sondern sie ist konkret, entschlossene Tat zugunsten dessen,
der unsere Tat jetzt braucht. Das Urbild des Liebenden im Neuen Testament
ist der barmherzige Samariter. Er hält weder programmatische
Reden noch entwirft er Hilfsprogramme, noch weniger versucht er
mit dem Halbtoten ein erleuchtendes Gespräch zu führen. Vielmehr packt er schlicht und kräftig zu, tränkt den Halbverdursteten, gibt
ihm etwas zu essen, wäscht seine Wunden aus und verbindet ihn.
Dann hebt er ihn auf den Esel, um mit ihm den langen, schweren
Weg bis zur Herberge durchzustehen. Er gibt den Kranken in der
Herberge ab, vertraut ihn der besonderen Obhut des Wirtes an, bezahlt
diesem nachher die Rechnung. Mit diesem seinem Tun setzt er
sich dem Misstrauen und dem Zorn der Gewalttäter aus, denn diese
wollen nicht, dass ihrem Opfer geholfen wird und damit ein lästiger
Zeuge ihrer Schandtat erhalten bleibt. Liebe üben, das heißt auf jeden
Fall, etwas Hilfreiches für den Hilflosen tun.
Wobei das Wort »üben« besonders unterstrichen werden kann.
Wer es einmal mit tätiger Nächstenliebe versucht, wer dabei merkt,
wie schwer das alles ist, weil die hilfsbedürftigen Menschen nicht
sind, wie sie sein sollten und weil überhaupt, wie Brechts Macky Messer
richtig feststellt, die Verhältnisse nicht so sind, wer dann die Flinte
bald ins Korn wirft, weil er enttäuschende Erfahrungen gemacht hat,
der hat noch nichts verstanden von der Liebe, die Gottes Art ist.
Liebe hat einen langen Atem. Liebe setzt immer neue Anfänge. Liebe
lässt sich nicht erbittern (1. Kor 13,5). Liebe kann nur geübt, eingeübt
werden. Wenn es hier auf Erden in Sachen Liebe Meister geben würde,
so könnte man in dieser Sache nur sagen: »Übung macht den Meister.«
Wie Kierkegaard von der »Einübung im Christentum« schreibt, so sollen
wir miteinander die ‚Einübung im Liebestun’ praktizieren.
Dann mag es sein, dass wir geübte Leute werden auch in dem Sinn,
dass wir durch manche Schwierigkeit, durch Enttäuschungen, durch
Missverständnisse und konfliktreiche Wege in der Nachfolge Jesu bewährte
Menschen werden. Menschen, die man dorthin stellen kann,
wo die Gemeinde Jesu Christi unverzagte, bewährte Leute braucht.
Und demütig sein vor deinem Gott. Demut vor Gott, das heißt in
Ehrfurcht vor ihm leben. Wissen, dass er da ist, dass er zwischen mir
und meinem Mitmenschen steht und als unser Mittler uns zusammenführt
und zusammenhält, uns auch in der rechten Haltung
zueinander erhält, damit wir einander nicht zum Schaden, sondern
zur Hilfe, vielleicht sogar zum Segen werden.
Es ist eine selbstverständliche Folge, dass wir, wenn wir in der Ehrfurcht
vor Gott leben, auch vor den anderen Menschen eine gewisse Ehrfurcht haben werden, dass wir wissen und beherzigen, was wir ihnen
schuldig sind. Wilhelm Stählin sagt in seiner Auslegung dieses
Wortes mit Recht: »Ohne Demut gibt es keine rechte Ordnung des
Lebens, und der Mangel an Demut und Ehrfurcht vor Gott, grob gesagt:
die Frechheit, muss ganz konkret das menschliche Gemeinschaftsleben
und zuletzt auch den Einzelnen zerstören.«

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