21. Sonntag nach Trinitatis

Lass dich nicht vom Bösen überwinden,
sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Der Brief des Paulus an die Römer 12, 21

Die etwa siebzig Verhandlungen zur Anerkennung von Wehrdienstverweigerern
aus Gewissensgründen, die ich vor etwa dreißig Jahren als
Beistand mitgemacht habe, liefen in der Regel nach folgendem Schema
ab: Der junge Mann, der behauptet, er verweigere den Wehrdienst
aus Gewissensgründen, wird, nachdem er einiges aus seinem bisherigen
Leben erzählt und begründet hat, warum er den Wehrdienst verweigert,
mit höchst prekären Situationen konfrontiert, in denen er
selbst oder andere, seine Mutter, seine Freundin, ihm schutzbefohlene
Kinder, an Leib und Leben bedroht werden. Nun soll er zeigen, wie er
einerseits Leib und Leben für die Bedrohten einsetzt, dabei aber der
Versuchung widersteht, tötende Gewalt anzuwenden. Waffen werden
ihm in die Hände gespielt. Die Versuchung, diese Waffen auf den Angreifer
zu richten, wird bis aufs Äußerste gesteigert. Der Antragsteller,
der kam, um als Wehrdienstverweigerer anerkannt zu werden und der
nun seine Gewissensgründe unter Beweis stellen soll, behauptet bis
zum Äußersten, die Waffe nicht zu benutzen, vielmehr auf diese oder
jene Weise den Angreifer mit dem Wort und mit bloßen Händen an
der Ausführung seiner bösen Tat zu hindern. Die Beisitzer hören und
sehen zu und müssen nachher entscheiden, ob der Antragsteller die
Schwierigkeit, unter allen Umständen gewaltlos zu bleiben, genügend
durchdacht hat und ob er in seinem Entschluss zur absoluten Gewaltlosigkeit
glaubwürdig war. Schwierig waren besonders die Fälle von
Nothilfe, die vor dem Antragsteller aufgebaut wurden. Während meiner
Studienzeit war es in Köln geschehen, dass ein amoklaufender Geistesgestörter
mit einem Flammenwerfer eine Schule betreten und im
Klassenzimmer über zwanzig Kinder samt ihrer Lehrerin verbrannt
hatte. Das »Flammenwerferbeispiel« kam nun immer wieder in den
Verhandlungen: Der Antragsteller sieht aus dem Fenster im ersten
Stock der Schule, unten kommt der amoklaufende Irre mit seinem
Flammenwerfer; neben dem Antragsteller liegt eine schwere Schreibmaschine.
Frage: »Nehmen Sie die Schreibmaschine und werfen Sie
diese dem Amokläufer auf den Kopf unter Inkaufnahme dessen, dass
Sie ihn töten, um das Leben der Kinder zu retten?« Blieb der Antragsteller
dabei, er werde ohne dieses Wurfgeschoß allein durch beschwörende
Worte oder durch den Einsatz seines Leibes die Kinder verteidigen,
dann konnte er hoffen, als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen
anerkannt zu werden. Es konnte aber auch sein, dass das Gremium
urteilte: Wer so stur am Prinzip der Gewaltlosigkeit festhält,
dem glauben wir nicht, dass er in seinem Gewissen von wirklicher
Menschenliebe bestimmt ist, der ist allenfalls ein pazifistischer Doktrinär;
mit Gewissensgründen hat seine Haltung nichts zu tun.
Während der Verhandlungen konnte ich für die Antragsteller wenig
tun außer mitleiden, ihnen durch sympathisierende Gegenwart
Mut machen, unter Umständen eine Verhandlungspause bewirken,
um den total entnervten Antragsteller wieder zu beruhigen; nach zwei
Stunden Verhandlung durfte ich ein kurzes Plädoyer halten. Vor allem:
Ich konnte die Wehrdienstverweigerer, die zu mir kamen, vor
der Verhandlung auf die möglichen Fragen ausführlich vorbereiten
und konnte ihnen helfen, selbstkritisch ihre Gründe zu durchleuchten,
ihr eigenes Gewissen zu prüfen.
Im Lauf der Zeit habe ich die verschiedenen Verhandlungsführer
und ihre Methoden der Gewissensprüfung einzuschätzen gelernt. Dabei
bin ich Juristen begegnet, die mit spürbarem Willen zur Fairness
die Verhandlung geleitet haben. Ich traf aber auch andere. Einer ging
ganz außergewöhnlich rüde und einschüchternd mit den jungen Antragstellern
um. Von ihm erfuhr ich später, dass er sein Referendariat
in Roland Freislers Volksgerichtshof absolviert hatte. Der Mann war
freilich eine unrühmliche Ausnahme. Andere Juristen, denen ich
gegenübersaß, haben ihrem Berufsstand mehr Ehre gemacht. Aber
solche Ausnahmen waren in den Siebzigerjahren noch möglich.
Immer stand in diesen Verhandlungen das Wort des Paulus vor mir:
»Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse
mit Gutem.« Vielleicht hätte man die ganze Friedensbewegung, zu der
ich mich als Ostermarschierer und Mitglied der Aktion Sühnezeichen/
Friedensdienste gezählt habe, unter dieses Motto stellen können
sich nicht überwinden lassen vom Bösen, nicht selbst mit Gewaltausübung
drohen, wenn andere mit Gewalt drohen; nicht zurückschlagen,
wenn andere schlagen. Was dann? Sich nicht still verkrümeln und
so tun, als habe man mit der Sache nichts zu tun, sondern: gewaltlos
hinstehen gegen die Gewalttäter: gewaltloser Widerstand.
Ich hielt Religionsstunden, Vorträge, Seminare über Mahatma
Gandhi und Martin Luther King. Wir wollten teils von ihnen, teils
von Jesus Methoden der »Entfeindung« lernen: die andere Wange
hinhalten (Mt 5,39) und auf diese Weise den Aggressor dermaßen beeindrucken,
dass er kein zweites Mal zuschlägt. Dem andern auch den
Mantel geben, wenn er uns den Rock wegnehmen will (Mt 5,40). Mit
dem anderen zwei Meilen gehen, wenn er uns nötigt, ihm eine Meile
weit sein Gepäck zu tragen (Mt 5,41). Den Aggressor mit bezwingender
Sanftmut überwinden. Das alles in der Gewissheit (Mt 5,5): »Selig
sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!«
Es gab Seminare, in denen – das Beispiel Gandhis hatte uns angeregt
– die »Technik der Entfeindung« regelrecht eingeübt wurde. In
manchem von uns blieben Zweifel: Führt diese Technik im Ernstfall
zum Erfolg? Setzt sie nicht einen Gegner voraus, der ein ansprechbares
Gewissen hat? oder der sich im Augenblick wenigstens schämt,
wenn ich ihm mit entschlossener Feindesliebe gegenübertrete? Setzt
meine Hoffnung, ihn gewaltlos zu entwaffnen, bei ihm nicht ein
Schamgefühl voraus, das durchaus viele Leute verloren haben, andere
in ihrem Leben gleich gar nicht aufkommen ließen? Setzen wir bei
diesen unseren Konzepten als Gegenüber nicht Menschen voraus, die
so ähnlich wie wir bürgerlichen Mitteleuropäer erzogen wurden?
Wird meine gewaltlose Feindesliebe den War-Lord im afrikanischen
Busch beeindrucken, der ja auch keine Bedenken trägt, massenweise
Kindersoldaten in seinen Stammeskriegen zu »verheizen“? Überwinde
ich auf diese Weise einen religiös umgepolten und fanatisierten Islamisten,
dessen Vorbild Ayatolla Chomeini unbedenklich kleine Mädchen
über Minenfelder schickte, um diese Flächen auf ihre Begehbarkeit
für seine Soldaten zu testen? Was, wenn der andere so fanatisch,
so sehr religiös ideologisiert ist, dass er mein Konzept der gewaltlosen
»Entfeindung« nur lächerlich findet?
Es blieb die Frage: Überschätze ich mich nicht, wenn ich mir
selbst im Ernstfall die Kraft zu solch gewaltloser Haltung zutraue? Vor
allem, wenn ich zusehen muss, dass wehrlose Menschen grausam behandelt,
wo möglich umgebracht werden? Werde ich nicht, wenn
Blut fließt, schlichtweg auch draufschlagen, schießen, um das Leben
Hilfloser zu schützen? Und ist das nicht im Zweifelsfall auch richtig?
Ist es etwa ethisch, wenn ich den gewaltlos prinzipientreuen Helden
spiele, während hilflose Menschen neben mir niedergemacht werden,
die ich vielleicht doch schützen könnte, wenn ich dem Angreifer mit
gleicher Gewalt entschlossen entgegentreten würde? Wenn ich ihm
mit Androhung und Ausübung von Gewalt klargemacht hätte: »Bis
hierher und nicht weiter!«?
Vor allem aber: Ist nicht Jesus selbst das Beispiel dafür, dass diese
gewaltlose Haltung, die er predigt und verkörpert, fanatisierte Leute
eben leider nicht entwaffnet, sondern ihren Hass noch stärkt? Hätte
das Konzept der gewaltlosen »Entfeindung« in seinem Leben funktioniert,
hätte Jesus dann am Kreuz sterben müssen? Ist seine Kreuzigung
nicht der entscheidende Beweis dafür, dass die Konzepte gewaltloser
Überwindung des Hasses zu kurz greifen? Wenn es ihm nicht
gelungen ist, den Hass seiner Gegner mit seiner Feindesliebe zu überwinden,
soll es dann etwa uns gelingen? Und: Hat der Bergprediger
auch nur mit einem Wort in Aussicht gestellt, die Feinde würden,
wenn wir ihnen so entwaffnend begegnen, zu Freunden werden? Hat
er nicht den Menschen, die ihm nachfolgen, vorausgesagt, dass sie
Verfolgung erleiden werden? Hat Jesus in Johannes 15,20 nicht gesagt:
»Gedenkt an mein Wort, das ich euch gesagt habe: Der Knecht
ist nicht größer als der Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie
auch euch verfolgen?« Jesus sendet sie Seinen wie Schafe mitten unter
die Wölfe (Mt 10,16). Er verspricht aber nicht, den Wölfen das Maul
zuzuhalten. Noch weniger, dass aus den Wölfen, wenn die Schafe so
zutraulich zu ihnen gehen, Schafe werden.
Und: Hat nicht auch Dietrich Bonhoeffer, der in den Dreißigerjahren
des letzten Jahrhunderts entschiedener Pazifist war, sich ab Ende
1939 gewandelt mit dem Ergebnis, dass er den gewaltsamen Putsch,
schließlich das Attentat auf Hitler und seine engste Umgebung gerechtfertigt
hat? Wie oft haben wir in der Friedensbewegung Bonhoeffers
Friedensrede vom Sommer 1934 in Fanö mit ihrem Aufruf
zur
Gewaltlosigkeit zitiert und haben dabei seine spätere Entwicklung
schlichtweg ausgeblendet?
Meine Zweifel an den Konzepten der Friedensbewegung wuchsen.
Sie verstärkten sich, wenn ich Friedensbewegte erlebte, die sich offenbar
noch gar nicht auseinandergesetzt hatten mit den finsteren Möglichkeiten
des Hasses und der Aggression, die im Menschen lauern.
Wie oft dachte ich, wenn ich einen blauäugig idealistisch motivierten
Friedensbewegten erlebte, an das Wort des Anselm von Canterbury
»nondum considerasti pondus peccati«. »Du hast noch nicht das
Schwergewicht, die Wucht, der Sünde bedacht.« Ist nicht unsere ganze
Friedensbewegung blauäugig, so fragte ich mich immer heftiger.
Spielt in dem gepflegten Optimismus der Gewaltlosen nicht eine Art
»Blumenkindermentalität« mit, die an dem Bösen, zu dem Menschen
fähig sind, ungläubig und weltfremd vorbeisieht? Rächt sich hier
nicht der Mangel an biblischer Theologie, jener flache »Aufklärwicht
«, für den das Übersehen der Sünde und des Abgründigen im
Menschen typisch ist?
Von solchen Fragen gepeinigt, traf ich Anfang der Siebzigerjahre
auf den Mann, den ich bis heute für einen der klügsten, lebenserfahrensten
und redlichsten Vordenker der Friedensbewegung halte. Ich
fuhr im Auto mit Kurt Scharf, dem Berliner Bischof, der als Bruderrat
der Bekennenden Kirche – in Sichtweite des KZ Sachsenhausen – das
Dritte Reich überlebt, der als Bischof des geteilten Berlin die Aussperrung
durch das DDR-Regime erlitten und der als Ratsvorsitzender
der EKD von allen Seiten Konflikte ausgestanden hatte. Ich sprach
mit diesem Menschen, den die Mystiker einen geübten Mann, die
Katholiken einen »vir probatus«, einen erprobten Mann, nennen würden.
Ich fragte ihn: »Bruder Scharf, sind wir Friedensbewegten nicht
Traumtänzer, wenn wir meinen, mit dem bisschen Gutem, das wir
tun können, würden wir ‚das Böse überwinden’? Wir mit unseren großen
Erklärungen und geringen Kräften? Was können denn wir dem
Bösen entgegensetzen, das so abgründig und übermächtig sein kann?
Leiden wir nicht alle an einer neurotischen Selbstüberschätzung? Und
war Paulus nicht auch davon bestimmt, als er schrieb ‚Lass dich nicht
vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem?‹«
Kurt Scharf antwortete mir sehr einfach: »Dieses Wort von Paulus
klingt wie ein Gebot. Es ist wohl auch ein Gebot. Aber vielmehr ist es
ein Angebot. Der auferstandene Christus, der am Kreuz das Böse in allen
Abgründen erlitten hat, der es am Ostermorgen durch seine Auferstehung
überwindet, will das Böse in unserer Welt überwinden. Er ist
dabei es zu tun. Aber er will es nicht allein tun. Er will es auch durch
uns tun. Er will uns ‚mittun’ lassen. Keine Frage: Er überwindet das
Böse. Und er könnte das auch ohne uns tun. Er ist auf dich und mich
nicht angewiesen. Aber er will uns in sein Überwinden einbeziehen. Ist
das nicht ein großes Vorrecht, das wir da genießen? Und was soll das,
dass du, lieber Bruder, auf den Rängen der Arena hockst als ein Zuschauer
und Prognosen und Urteile darüber abgibst, ob es gelingen
kann? Da gehörst du nicht hin. Das ist nicht deine Aufgabe. Du bist in
der Frage, was Christus tun kann, auch nicht kompetent. Komm herunter
in die Arena, mach mit. Setz dich ein mit den Kräften, die Gott
dir gegeben hat und dann vermehren wird, wenn du diese Kräfte einsetzt.
Tu mit, wenn Christus das Böse überwindet. Da ist dein Platz.«
Diese Auskunft hat mir geholfen. Nicht wir sind es, die das Böse
überwinden. Er, der Auferstandene, ist es. Wir dürfen »mittun«.
Dann ist auch unsere kleine Tapferkeit etwas wert. Und die kleine
Tat, zu der wir fähig sind, das kleine, aber hoffentlich deutliche Zeichen,
es wird durch ihn wirksam (1. Kor 15,58).
Nach dieser befreienden Antwort begann ich, darüber nachzudenken,
auf welche Weise uns immer wieder das Böse überwindet: Wenn
die Ungerechtigkeit, die wir erleben, zu groß wird, vor allem die Ungerechtigkeit
Hilflosen gegenüber. Da steigt der Zorn in uns auf. Aus
dem Zorn kann Hass werden, wie einst bei Mose, als er den ägyptischen
Leuteschinder erschlug (2. Mose 2,11.12). Oder wenn unser
gewaltloses Eintreten für Menschen, die unter die Räuber gefallen
sind, als Gutmenschentum belächelt wird. Oder wenn unsere Bemühung
um gewaltlose Sanftmut als Ausdruck phlegmatischer Schwerfälligkeit
gedeutet wird. Wenn Leute, die ihren Willen mit Gewalt
durchsetzen, damit Erfolg haben und dann selbstbewusst sagen: »Der
Erfolg gibt mir Recht.« Wenn Machtausübende sich dessen rühmen,
sie seien unwiderstehlich. Es gibt genug Situationen der Anfechtung,
in denen in uns die Wut kocht und wir fähig wären, dem Gewalttäter
es mit gleicher Münze heimzuzahlen. Vielleicht will das der Gewalttä
ter sogar. Denn je mehr er uns mit unserem Verhalten auf seine Ebene
zieht, desto mehr bestätigen wir ihn in seinem Verhalten.
Vor solchem Reagieren nach dem Echo-Gesetz »Wie du mir, so ich
dir« bewahrt uns Jesus Christus. Wer nur Echo auf das Unrechtsverhalten
des anderen ist, der versinkt in eine Abhängigkeit, die derer
unwürdig ist, die etwas geschmeckt haben von der »herrlichen Freiheit
der Kinder Gottes« (Röm 8,21). Der Auferstandene stärkt uns zu
einer ganzen Palette von Verhaltensweisen, durch die er in uns und
durch uns das Böse überwindet (vgl. Röm 12,9–20).

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