22. Sonntag nach Trinitatis

Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

Die Psalmen 130, 4

Ein Tischgebet heißt: »Zwei Dinge, Herr, sind not, die gib nach deiner
Huld: gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld.« In diesem
Gebet wird die Vergebung der Schuld im gleichen Atemzug genannt
mit dem täglichen Brot. Beide sind elementar.
Das Bewusstsein, dass beides notwendig ist für unser Überleben,
ist auch in der Kirche im Schwinden. Man scheut sich, von Sünde
und Schuld zu sprechen, da man nicht dessen verdächtig sein will,
mit einer Art pfäffischem Trick die Menschen erst schuldig zu sprechen,
um sie dann mit der Gnade Gottes bedienen zu können. Ich
bemerke immer wieder auch bei Abendmahlsfeiern, dass das Schuldbekenntnis,
wenn es überhaupt nicht gleich der Eventstimmung geopfert
wird, bis zur Unkenntlichkeit versteckt wird. Schade. So erweisen
auch wir Christen uns als gleichgeschaltet mit der Verdrängungsgesellschaft,
die uns umgibt.
In den dreißiger Jahren hat Dietrich Bonhoeffer etwas anderes festgestellt:
Dass man zwar ganz selbstverständlich von Schuld und Vergebung
redet, dass daraus aber eine kirchlich konventionelle Rede geworden
ist ohne existentielle Tiefe. »Billige Gnade« nennt Bonhoeffer das
in seinem Buch »Nachfolge«. Sie sei »der Todfeind unserer Kirche«. Er
meint unter »billiger Gnade« »Gnade als Lehre, als Prinzip, als System;
…Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, … Liebe Gottes als
christliche Gottesidee«. Er stellt von einer Kirche, die es mit der billigen
Gnade halte, fest: »In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung
ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden
sie erst recht nicht wünscht.« Billige Gnade sei im Grunde »Rechtfertigung
der Sünde und nicht des Sünders«. Sie sei »die Gnade, die wir
mit uns selbst haben«, sei »Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz,
Gnade ohne den lebendigen, Mensch gewordenen Jesus Christus«.
Der »billigen Gnade« stellt er die »teuere Gnade« gegenüber, um die
unser Kampf gehen solle: »Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft,
Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie,
weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so
das Leben erst schenkt; teuer ist sie, weil sie die Sünde verdammt,
Gnade, weil sie den Sünder rechtfertigt. Teuer ist die Gnade vor allem
darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines
Sohnes gekostet hat – »ihr seid teuer erkauft« – und weil uns nicht billig
sein kann, was Gott teuer ist.« Die teuere Gnade, so schreibt Bonhoeffer
weiter, sei »das Heiligtum Gottes, das vor der Welt behütet
werden muss, das nicht vor die Hunde geworfen werden darf«.
Aber wie kommt ein Mensch überhaupt dazu, sich selbst in seiner
Schuld zu begegnen? Es mag sein, dass dann und wann ein schlimmes
Ereignis über uns kommt, in welchem uns schlagartig aufgeht, was
wir einem Menschen schuldig geblieben sind oder wo wir an ihm
schuldig wurden. Solche Ereignisse sind zum Glück selten. Wir können
sie uns und einander nicht wünschen.
Als »Beichtspiegel« zur Selbsterkenntnis gelten in der lutherischen
Kirche vor allem die Zehn Gebote. An ihnen sollen wir unser Leben
in allen Einzelheiten prüfen. Je genauer wir hinsehen, desto deutlicher
wird es uns, dass wir wohl an jedem Tag gegen jedes dieser Gebote
sündigen. Und wenn wir uns, unser Wesen und Leben, am Zentrum,
am Lebensnerv der zehn Gebote prüfen, am Gebot der Gottes- und
Nächstenliebe, dann wird es uns vollends klar, dass wir weit davon
entfernt sind, dem zu entsprechen, was ein Leben in der königlichen
Freiheit der Liebe ist, zu der Gott uns bestimmt hat.
Andere prüfen ihr Leben am Hohenlied der Liebe in 1. Korinther
13, besonders am mittleren Teil dieses Liedes, in den Versen 4 bis 7.
Auch dieser Spiegel kann uns sagen, wie wir sind.
Am fruchtbarsten erweist sich mir für wirkliche Selbsterkenntnis,
wenn ich – nicht nur in der Passionszeit – mit Jesus seinen Passionsweg
gehe und den Personen in die Augen sehe, die uns begegnen: Erkenne
ich mich nicht in jeder einzelnen selbst? In den Schriftgelehrten
und Hohenpriestern, die meinen, sie hätten den Religionsbetrieb
so gut und fest in der Hand, dass sie Jesus nur als unzumutbare Störung
empfinden und ihn mit Hilfe der römischen Machthaber beseitigen?
In Pilatus, der eigentlich den Unschuldigen, dessen Unschuld
ihm gleich deutlich ist, vor seinen Feinden retten würde, der aber weiche
Knie bekommt, als diese ihm andeuten, das werde ihn seine
Macht kosten: »Lässt du diesen frei, dann bist du des Kaisers Freund
nicht« (Joh 19,12) und der dann in die große Unschuldsgeste flieht.
In Judas, der seinen Herrn und Meister – weiß er, aus welchen Gründen?
Ist er einfach ein Getriebener? – verrät und der dann, als es geschehen
ist, und er das Rad nicht mehr zurückdrehen kann, zu Tode
verzweifelt sich selbst das Leben nimmt. In Petrus, der immer gut ist
zu großen Worten und zu großen Taten. Warum ging er in der Nacht
in den Hof des Hohenpriesters? Plante er eine kühne Befreiung? Petrus,
der sagt, was wir alle täglich – nicht nur im Blick auf den gebundenen
Jesus – praktizieren: »Ich kenne diesen Menschen nicht« (Mt
26,74). Im Volk, das heute »Hosianna«, morgen »Kreuzige« schreit,
das lenkbar ist wie das Wasser und das in der Geschichte Jesu doch
den jeweils stärksten Meinungsmachern folgt. In den Jüngern, die
schlafen, wenn ihr angefochtener Herr sie brauchen würde – »der
Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« (Mt 26,41).
In jeder Gestalt begegnen wir uns selbst und stellen fest, dass wir,
wenn es um die Sache der Liebe geht, wenn Jesus als der Mensch gewordenen
Liebe der Prozess gemacht wird, auf vielfältigste Weise versagen.
Man kann sich solche Erkenntniswege ersparen. Man kann sich ein
Leben lang einreden, man habe doch einen ziemlich guten Willen, man
sei leider durch die Umstände gehindert, diesem Willen durch die Tat
zu entsprechen. Man kann andere Menschen ausfindig machen, die das
Gute in einem selbst nicht so richtig zur freien Entfaltung kommen ließen,
Eltern, die einen falsch erzogen hätten, Ehepartner, die noch nicht
so weit seien und auf die man Rücksicht nehmen müsse, Kinder, die einen
so stark beanspruchen würden, dass man zu nichts käme, einen
Chef, der ein übler Kerl ist, in dessen Nähe keiner wirklich gut sein
könne. Man kann in allem und jedem den Grund dafür finden, dass
man selbst der heiligen Liebe Gottes nicht entspricht, sie vielmehr daran
hindert, sich unter uns frei und heilvoll zu entfalten.
Aber was bringt das? Im Grunde entmündigen wir uns selbst, solange
wir unser Versagen anderen Menschen oder den Verhältnissen,
die nicht so sind, anhängen.
Wir gehen mit uns selbst achtungsvoller um, wenn wir in der Gegenwart
Jesu Christi über uns und unsere Rollen nachdenken. Aber
bei vielen, auch bei Christen, gibt es eine fast panische Furcht, solche
Gedanken würden depressiv machen. Gerade in christlichen Kreisen
erlebe ich, dass einer, der von Schuld spricht, womöglich von seiner
eigenen Schuld, schnell als depressiv abgestempelt wird. Könnte es
sein, dass gerade die Furcht vor der Depression der Ausdruck wirklich
depressiven Verhaltens ist? Die Spaßgesellschaft, deren Gefangene
und Mitgestalter wir auch dann sind, wenn wir sie beklagen, ist eine
nicht gerade gesunde Gesellschaft. Sie lebt vom Verdrängen und
Überspielen und verhindert es, dass Menschen wirklich zu sich selbst
und der Wahrheit näher kommen.
Wahrscheinlich trägt die Kirche selbst mit ihrer Leitung, zu der ich
noch immer gehöre, am meisten dazu bei, dass Menschen nicht zur
Erkenntnis ihrer Schuld vorstoßen. Denn die Kirche lässt in ihrer Art,
sich am Markt darzustellen und zu behaupten, den Eindruck keineswegs
aufkommen, dass sie von schweren Defiziten geplagt sei und
dass sie ihrem Herrn und den Menschen viel schuldig bleibe. Im
Gegenteil, je mehr sie mit anderen religiösen oder nichtreligiösen Sinnanbietern
in eine Konkurrenzsituation kommt, desto bemühter versucht
sie deutlich zu machen, dass sie gut, mindestens aber gut drauf
ist. Auch die evangelische Kirche rechtfertigt sich ständig aus ihren
Werken. Setzt die römisch-katholische Kirche völlig ungeniert auf
Darstellung ihrer Kraft und Herrlichkeit, so versucht es die evangelische
Kirche ihr doch wenigstens ein wenig nachzumachen, gebremster
zwar, wohl mit einem Rest von nicht ganz so gutem Gewissen,
auch mit weniger Geld und mit weniger Kompetenz in der Selbstdarstellung,
aber eben doch.
Wie anders Dietrich Bonhoeffer in seiner »Ethik«, der die Bekennende
Kirche der vierziger Jahre schonungslos an jedem der Zehn
Gebote prüft und der bekennt, wie sie an jedem Gebot schuldig
wird. Er macht damit ernst, dass die Kirche allein von der Vergebung
ihrer Schuld lebt und dass sie zur Erneuerung Europas nur dadurch
etwas Positives beitragen kann, dass sie im öffentlichen Bekenntnis
ihrer Schuld und im Leben aus der Vergebung den Menschen, die
auf sie sehen, den Weg weist. Es gibt wohl keinen tieferen Gegensatz
zwischen Bonhoeffers »Schuldbekenntnis der Kirche« und den
gut gemeinten Selbstdarstellungen der Kirchen, die uns Werbe-
firmen liefern. Könnte es darüber eines Tages die Diskussion geben,
die in der Regel durch fürsorgliche Beschwichtigung verhindert
wird?
»Bei dir ist die Vergebung!«, so weiß der Beter des 130. Psalms, der
»aus der Tiefe« zu Gott ruft. Und alles, was uns in der Nähe Jesu von
ihm entgegenkommt, heißt: »Dir sind deine Sünden vergeben!«
Ist das nur ein Urteil über uns, das uns freispricht? Bei dem es nur
um uns, unser Heil, unser Wohl, unsere Ehre, unser Angenommensein
in der Nähe Jesu geht?
Freilich geht es darum auch. Und wir wären leichtfertig und
dumm, wollten wir das etwa gering achten. Wir haben diesen Hoheitsakt,
diesen Freispruch, diesen Zuspruch nötig wie das tägliche
Brot. Der Beter, der im tiefen Loch sitzt, hat diesen Freispruch so nötig
wie das Seil, das ihm herabgeworfen wird, damit er an ihm hochgezogen
wird und ins Freie kommt. Jede Predigt sollte uns dieses Seil
zuwerfen, sollte uns lossprechen von unseren Sünden.
Aber könnten wir diesen Zuspruch nicht auch verstehen als die
Zusage: Was du Menschen schuldig geblieben bist, das soll ihnen in
ihrem Leben nicht für immer fehlen? Wo du an ihnen schuldig wurdest,
sollst du wissen: Der Gott, der sich über dich erbarmt, erbarmt
sich nun auch über sie und er wird die Mechanismen des Bösen, die
du ausgelöst hast, stoppen?
Wenn ich meine Schuld vor Gott bekenne, bitte ich darum, dass er
Menschen, die ich geschädigt habe, vor weiteren Folgen dieser meiner
schädigenden Wirkung bewahrt, dass er den Lauf des Bösen stoppt
und dass er durch seine Engel, Geistmächte oder Engel in Menschengestalt,
ihnen aus ihren Verletzungen heraushilft.
Wenn ich den Zuspruch der Vergebung höre, höre ich aus ihm mit
die Zusage, dass er nicht nur mich, sondern auch sie heilen wird. Was
freilich einschließt, dass ich mit Freude und neuer Hoffnung mich
dem versöhnenden Gott zur Verfügung stelle, sei es, dass ich tatsächlich
an Menschen, an denen ich schuldig geworden bin, etwas gutmachen
kann, sei es, dass Gottes Geist mir hilft, Menschen, die durch
andere Menschen verletzt wurden, Zeichen des Friedens und der Hilfe
zu geben. Wer vom Zuspruch der Vergebung seiner Schuld kommt,
mit wem Christus sein Mahl der Versöhnung gefeiert hat, der stellt
sich ihm zur Verfügung und bittet ihn, in seinem Dienst ein Werkzeug
der Versöhnung sein zu können.
Könnte man das unter Gottesfurcht verstehen? Ehrfurcht vor
Gott, der Neuanfänge schafft und der sie an uns und durch uns an
anderen schaffen will?
Das schließt ein, dass ich sehr genau damit rechne, dass wir alle
unser Leben und Zusammenleben unter seinen wachen Augen führen;
dass ich wohl mich und vielleicht andere, nicht aber ihn täuschen
kann. Dass er das allein entscheidende Urteil spricht, vor dem die
Einschätzungen anderer keine Rolle spielen.
Aber »Gottesfurcht« als Folge erfahrener Vergebung ist weniger die
Haltung, in der wir sozusagen in Ehrfurcht und womöglich Angst vor
dem Furcht erregenden Geheimnis Gottes erstarren. Sie hat ihren
Nerv, ihre Seele, ihre Freiheit vielmehr darin, dass wir uns angenommen
wissen dürfen, mitzuwirken in seinem großen Versöhnungs- und
Heilungswerk. Und dass wir uns dafür ihm mit Freuden zur Verfügung
stellen.

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