Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs

Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade,
siehe, jetzt ist der Tag des Heils.

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 6, 2

Am Ende des Kirchenjahrs blicken wir nach vorn auf das Ziel Gottes
mit seiner Welt und mit uns ganz persönlich. Unter diesem Aspekt ist
das Leitwort zum drittletzten Sonntag im Kirchenjahr sozusagen ein
retardierendes Element, als sollte uns gesagt werden: Denkt nicht
gleich an das Ende der Wege Gottes mit euch. Vor allem: Entwertet
nicht die Zeit, in der wir jetzt leben, als sei in ihr von Gott nichts zu
erwarten. Opfert nicht die Gegenwart der Zukunft!
Was Paulus in 2. Korinther 6,2 schreibt, geht davon aus, dass wir
einer erfüllten Zukunft entgegengehen, auf die wir uns freuen können.
Aber die Hoffnung auf die künftige Offenbarung Jesu Christi
soll keineswegs vergessen lassen, dass die Gegenwart Zeit des Heils ist.
In der Theologensprache: Futurische Eschatologie hebt die präsentische
Eschatologie nicht auf. Und es ist müßig, beide gegeneinander
auszuspielen. Christus kommt nicht erst. Er ist im Geist da und
macht unsere Lebenszeit zur Heilszeit. Es kommt nur drauf an, dass
wir ganz entschieden in der Ausstrahlung seines Geistes leben, dass
wir seine Nähe suchen und sie uns gefallen lassen.
Jetzt ist die Zeit der Gnade. Jetzt will Gottes Geist an uns wirken.
Wir haben keinen Grund, uns ihm zu verschießen. Jetzt will er uns
befreien von dem, was unsere Seelen verfinstert und fixiert, von Angst
und Resignation, von jener Verzagtheit, die dem Geist Gottes in unseren
Verhältnissen nichts zutraut und die dadurch beengende Verhältnisse
nur bestätigt. Jetzt gibt uns der Geist Gottes die Freiheit, auf
Menschen zuzugehen, vor denen wir uns fürchten. Jetzt soll uns die
Nähe Jesu Christi in unserem Leben aufgehen, so dass wir unsere Tage
miteinander in seinem Frieden genießen können. Jetzt gibt er uns
Mut, Freudigkeit, Elan, denen beizustehen, die leiden. Wir vertrösten
sie nicht auf später. Wir setzen uns für sie ein, solange ihnen noch zu
helfen ist. Jetzt gibt uns Gott Gaben, die wir – »handelt damit bis ich
wiederkomme« (Lk 19,13) – jetzt betätigen und die uns, indem wir
sie einsetzen, vermehrt werden.
Vor allem erinnert dieser Vers »jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist
der Tag des Heils« an Luthers Wort vom Evangelium als dem fahrenden
Platzregen. Wenn der kommt, soll man das Regenwasser auffangen.
Wenn das Evangelium uns trifft, sollen wir uns ihm öffnen, uns
ganz unter das Wort stellen wie unter einen Platzregen, nicht vor ihm
wasserscheu in irgendeine sichere Behausung fliehen.
Wir sollen auch – etwa am Krankenbett – darum beten und damit
rechnen, dass wir hier in diesem Leben, hier an diesem Bett, Gottes
Herrlichkeit sehen werden. Freilich können wir ihm nicht vorschreiben,
wie er sie uns zeigen wird. Wir können Heilungen nicht ‚programmieren’,
es bleibt alles in seiner Hand. Aber die Zeit, in der wir
stehen, ist Heilszeit und nicht einfach Wartezeit auf den Tod. Wir haben
Grund, um Gottes kräftiges Eingreifen in Seele und Leib des Patienten
zu bitten. Es gibt eine fromme Ergebung, die eher religiös getarnte
Resignation ist.
Es gibt auch ein Hinnehmen böser Zustände und Entwicklungen
auf unserem Globus, das nicht Ausdruck frommer Ergebung, sondern
eher Ausdruck schwächlich glaubensloser Resignation ist. Es ist leicht,
Leute, die im Pathos der Weltveränderung leben, lächerlich zu machen,
ihnen Schwärmerei vorzuwerfen. Es steckt in diesen Schwärmern
aber oft mehr Glaubensmut als in denen, die das geschehen lassen,
was sie ändern könnten. Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der
Tag des Heils. Darum ist es jetzt an der Zeit, Unrechtsstrukturen, etwa
in der Weltwirtschaft, aufzudecken und zu verändern.
So gibt es auch in unseren Gemeinden oft ein Hinnehmen gemeindezerstörender
Zustände und Dauerkonflikte, die niemand wirklich
offen beim Namen nennt und niemand als »Therapeut im Namen
des gegenwärtigen Christus« anpackt. Dahinter steht die
Resignation, die nicht glaubt, dass Jesus Christus in seiner Gemeinde
jetzt versöhnen und den Konflikt lösen will. Wer aus Resignation sich
und andere auf ein Wirken Jesu in irgendeiner fernen Zukunft vertröstet,
der vertröstet auf den Sankt Nimmerleinstag. Wirkliche Erwartung
des kommenden und heilenden Christus macht uns Mut,
jetzt schon im Vorschein seines Kommens zu leben und mit seinen
Heil- und Befreiungskräften jetzt schon zu rechnen. Wieder einmal
finde ich in der Mentalität und Praxis der beiden Blumhardts in Bad
Boll ein Vorbild dieser Gesinnung, in der die Erwartung des kommenden
Christus das Rechnen mit seiner befreienden Gegenwart
nicht ausschließt, sondern einschließt und erst wirklich erweckt.
Es steckt in diesem Wort »Jetzt ist die Zeit der Gnade« eine enorme
Aufwertung unseres Erdenlebens, als wolle Paulus sagen: »Ich
glaube an ein Leben vor dem Tod.« An ein heilvolles, lohnendes, ewig
gültiges Leben. Das soll weder zerredet noch versäumt werden. Es ist
kostbar. Darum: »Kauft die Zeit aus!« (Eph 5,16).
Was Gott unter uns – etwa in unseren Gemeinden, aber auch
außerhalb ihrer – wachsen lässt, das soll von uns gesehen, aufmerksam,
freudig und dankbar wahrgenommen werden. Vieles verkümmert
vor der Zeit, weil wir es nicht wahrnehmen und keine Freude
darüber zeigen. Die kleinen und oft unscheinbaren Pflänzchen brauchen
unsere freudige Zustimmung, um gedeihen zu können. In einer
Atmosphäre der Gleichgültigkeit gedeihen sie nicht.
»Jetzt ist die Zeit der Gnade …« Es wird wichtig sein, dass wir einander
dieses Wort nicht erst dann sagen, wenn wir aufgrund erfreulicher
Erlebnisse in Hochstimmung sind, wenn die Gemeinde einen
Aufbruch erlebt, die Kirchenbänke sich endlich, endlich wieder füllen
und das Segelschifflein der Gemeinde frischen Wind im Segel spürt. Es
ist Zeit der Gnade, Tag des Heils, wenn zwei oder drei versammelt sind
in seinem Namen (Mt 18,20). Wenn er zu uns spricht, ob viele oder
wenig ihn wirklich hören. Es ist Zeit der Gnade, Tag des Heils auch
dann, wenn es uns an Leib und Seele schlecht geht. Gott begegnet seinem
Volk nicht zuletzt in der Wüste. Es kommt nicht auf die Situation
an, sondern darauf, dass Jesus Christus zu uns kommt und an uns
wirkt. Böse Zeiten, in denen uns alles schiefläuft, in denen wir durch
Niederlagen gehen und uns blamiert vorkommen, können sich im
Rückblick durchaus als Zeiten der Gnade, als Tage des Heils erweisen.
Treffend hat die Gewissheit, die in unserem Wochenspruch steckt,
in seinem Morgenlied »Du höchstes Licht, du ewger Schein« (EG
441) Johannes Zwick ausgedrückt. In dieser Erwartung und Gewissheit
sollten wir jeden Tag, den uns Gott schenkt, angehen:

Er ist das Licht der ganzen Welt,
das jedem klar vor Augen stellt
den hellen, schönen, lichten Tag,
an dem er selig werden mag.
Den Tag, Herr, deines lieben Sohns
lass stetig leuchten über uns,
damit, die wir geboren blind,
doch werden noch des Tages Kind’
und wandeln, wie’s dem wohl ansteht,
in dessen Herzen hell aufgeht
der Tag des Heils, die Gnadenzeit,
da fern ist alle Dunkelheit.

Wegworte zum Herunterladen: 61_Drittletzter So (pdf)