Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag

Wir müssen alle offenbar werden
vor dem Richterstuhl Christi.

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 5, 10

In der Geschichte vom Sündenfall 1. Mose 3, also in der Urgeschichte
der Menschheit, die unsere ureigene Geschichte ist, wird berichtet,
Adam und seine Frau Eva hätten sich vor dem Angesicht Gottes des
Herrn unter den Bäumen im Garten versteckt (1. Mose 3,8). Vorher
schon fangen die beiden an, sich voreinander zu schämen, sie flechten
sich aus Feigenblättern »Schurze« (1. Mose 3,7). Schließlich macht
Gott der Herr eigenhändig für Adam und seine Frau Röcke aus Fell
und zieht sie ihnen an (1. Mose 3,21). Er sieht, dass sie tatsächlich einen
Schutz voreinander brauchen. Den gibt er ihnen.
Es gibt immer Kulturanthropologen, die sagen, die Geschichte der
menschlichen Kultur von der Kleidermode bis zur Dichtung und zur
ausgefeiltesten Philosophie habe mit diesem Versteckspiel im Garten
begonnen. Menschliche Kultur bestehe in diesem sich voreinander
Verbergen, auch im sich Verbergen vor sich selbst. Der Mensch mache
sich etwas vor. Das er vor sich aufbaut, damit er sich vor dem anderen
Menschen schützt.
Und er mache sich auch im Blick auf Gott etwas vor. Das sei die
Funktion der Religion: Der Mensch baut etwas zwischen sich und
Gott auf, letztlich, um sich dahinter zu verschanzen, um sich vor der
verzehrenden Heiligkeit Gottes zu schützen. Religion habe letztlich
durchaus nicht die Funktion der Rückbindung an Gott, den Ursprung
unseres Lebens. Religion sei viel eher die Bastion, mit der wir
uns vor Gott schützen.
Auch religionskritische Theologen wie etwa der junge Karl Barth, haben
es so gesehen, haben darum an ihrer grundsätzlichen Religionskritik
bis in ihr Alter festgehalten. Sie waren weit davon entfernt, irgendwelche
religiöse Wellen zu begrüßen und auf ihnen zu schwimmen oder das
Schifflein der Kirche auf ihnen schwimmen zu lassen. Sie meinten, die
Kirche könne auf dieser Welle nur »baden gehen«, Schiffbruch erleiden.
Sie begegneten dem Phänomen Religion mit fast zersetzender Skepsis.
Und überall, wo sie innerhalb von Kirche und Christentum den Verdacht
hatten, der Glaube an Gott gleite ins Religiöse hinüber, konnten
sie böse Bemerkungen machen. Die naive Unschuld in Sachen Religion
hatten sie sozusagen seit dem Sündenfall Adams verloren.
Ich gestehe, dass ich trotz aller Freude an der Wiederkehr der Religion,
die Kirchenmänner oft zeigen und uns empfehlen, mir diese
ganze religionskritische Sicht noch nicht ganz abgewöhnen konnte.
Freunde nennen das meine »barthianischen Eierschalen«. Zu ihnen
muss ich wohl stehen. Meine Selbstkritik und Bußfertigkeit geht aber
nicht so weit, sie für einen Geburtsfehler zu halten.
Der Kaiser Tiberius, in dessen Regierungszeit die Kreuzigung Jesu
fiel – er wird davon in Rom nichts gemerkt haben, die Römer haben
ständig gekreuzigt -, wird als ein schwerblütiger, oft schwieriger Charakter
geschildert. Wahrscheinlich war er etwas begabter, scharfsinniger
und kritischer, als viele seiner Hofschranzen, denen es vor allem
um ihre Stellung bei Hofe ging. Von Tiberius wird berichtet, als er
seinen Tod kommen fühlte, habe er gesagt: »applaudite, comedia finita!
« Wir könnten das übersetzen mit »Ei, nun klatschet in die Hände,
die Komödie ist zu Ende!«
Er hat mit diesem zynisch klingenden Ausspruch zu erkennen gegeben:
Wir haben voreinander doch immer Theater gespielt. Wir hatten
unsere Rollen. Wir wollten ja eine Rolle spielen. Hier am Hof besonders.
Wer seine Rolle gut gespielt hat, bekam bei der nächsten Beförderung eine
bessere, anspruchsvollere. Wer wenig Geschick oder Eifer in diesem
unserem Theaterspiel an den Tag gelegt hat, der wurde zum Statisten gemacht.
Wer wir, du und ich, eigentlich sind? Frag mich etwas Leichteres.
Wir sind einander nie begegnet, wollten es wohl auch nicht. Wenn einer
– aus welchen Gründen auch immer – seine Maske fallen ließ und wirklich
zu sagen versuchte, was er empfand, dann hat man diesen Ausbruch
damit quittiert, dass man sagte, er sei aus der Rolle gefallen, diesen faux
pas könne man ihm nicht durchgehen lassen, das müsse geahndet werden.
Den könne und müsse man vergessen. War es nicht so?
Berichte ich noch vom Hof des Tiberius oder von kirchlichen Kollegien
verschiedener Ebene? Berichte ich von der Landeskirche als solcher?
Oder von dem, was mir in der römisch-katholischen Kirche, die
sehr viel professioneller inszeniert, auffällt? Berichte ich gerade vom
gesellschaftlichen Leben einer Stadt oder vom Miteinader im nächsten
besten Parlament? Vom Umgang miteinander in der Firma von nebenan?
Von unserer Gesellschaft überhaupt? Berichte ich von uns selbst?
Es gibt viele Leute, die sagen: Ja, das ist so, jeder spielt seine Rolle.
Wir kennen einander nur in den jeweiligen Rollen. Das ist auch gut
so. Wir sind einander nicht zumutbar. Besser wir achten darauf, dass
keiner dem anderen zu nahe tritt. Das gibt die wenigsten Unfälle.
Einsamkeit hinter der Maske? »Leben ist Einsamsein, keiner kennt
den Andern, jeder ist allein«, Hermann Hesse hat Recht. Es ist so.
Und es wird immer so bleiben bis in alle Ewigkeit, und der Pfarrer an
unserem Sarg rühmt, wie gut wir unsere Rolle gespielt hätten.
Gegen die Auffassung des Paulus, dass wir alle, jeder und jede, offenbar
werden müssten vor dem Richterstuhl Christi, erhebt sich bei
den meisten Menschen großer Protest: »Das ist ja fürchterlich! Das ist
unzumutbar! Das darf nicht wahr sein! Dieser finster autoritäre Glaube
kann nicht unser Glaube sein, nein, es bleibt beim Rollenspiel. Es
bleibt beim Alten. Wir haben uns daran gewöhnt.«
Es gibt Christen, die sagen: »Die Botschaft vom Jüngsten Gericht ist
ein altes Relikt im Neuen Testament. Dahinter steht das Gottesbild eines
unerbittlichen Herrschers, der keine Distanz und persönliche Freiheit
achtet. Mit der Humanität Jesu ist dieser Glaube nicht vereinbar.«
Bleibt nur die Feststellung, dass Jesus sehr oft vom Jüngsten Tag
geredet hat: Ganz ausführlich im Gleichnis vom Weltgericht (Mt
25,31–46), im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,
40 ff.), wo jedenfalls in der unverhofften Begegnung mit dem Geber
der Gaben herauskommt, was einer mit seinen Gaben angefangen
hat. Im Gleichnis vom Fischfang (Mt 13,47–50) und vom Unkraut
unter dem Weizen (Mt 13,24–30) hat er von einer großen Scheidung
geredet, die erfolgt, wenn Fische oder Weizen genauer gemustert werden.
Es ist nicht möglich, die Botschaft vom Jüngsten Gericht aus der
Verkündigung Jesu herauszuschneiden. Es ist wirklich nicht erst eine
Erfindung des Paulus. Für Jesus war es klar: Am Ende geht es durch
das Gericht, in dem jeder Mensch in dem, was er getan hat, und in
dem, was er ist, offenbar wird.
Das ist ja fürchterlich! So denkt mancher Mensch, und so denkt es ir
gendwo auch in uns. Denn wir haben uns in unseren Rollen so eingerichtet,
dass wir uns ein Leben ohne sie kaum mehr vorstellen können. Wir
würden gern in alle Ewigkeit in unseren schützenden Masken, wohl auch
in unserem Lebenswerk, das wir um uns herumgebaut haben, bleiben.
Oder ist es eine Befreiung, wenn Gott uns unsere Rolle und unsere
Maske abnimmt? Wenn auch die guten Werke, mit deren Erwähnung
wir so gern zeigen, dass wir nicht umsonst gelebt haben, ganz kritisch
durchleuchtet werden mit der Frage, wo hier wirkliche Liebe am
Werk war und wo nur kalte Werkerei, die den Bedürftigen zum
Mittel meiner Selbstrechtfertigung missbraucht? Darf Gott uns so
viel Wahrheit zumuten? Uns Nebelkindern, die wir uns an die verschiedenen
Nebel gewöhnt haben, vor allem an die Nebel, die wir
selbst aus uns heraus produzieren?
Paulus und Luther waren der Auffassung, darin zeige Gott erst
wirklich, wie sehr er jeden Menschen achte und liebe, dass er ihn von
diesem Nebel befreie und ihm die Sonne zumute. Luther sprach darum
vom »lieben Jüngsten Tag«. Und Paulus konnte Leuten gegenüber,
die mit ihren harten Urteilen über ihn Macht ausüben wollen,
sagen, ihr Urteil beeindrucke ihn wenig, »der Herr ist’s, dessen Urteil
gilt«. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. »Er wird
ans Licht bringen, was auch im Finsteren verborgen ist, und er wird
das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird jedem von
Gott sein Lob widerfahren« (1. Kor 4,2–5).
Paulus konnte den Jüngsten Tag sogar mit einem Feuer vergleichen,
in dem alles, was wir gewirkt haben, durch eine Feuerprobe
durchmuss: Stroh, Heu, Holz, Edelsteine, Silber, Gold. »Welcherlei
eines jeden Werk ist, das wird das Feuer bewähren« (1. Kor 3,11–15).
Jürgen Moltmann sagt, dieses Feuer sei das Feuer der Liebe Gottes. In
ihm werde herauskommen, was Gold wert ist. Eberhard Jüngel sieht
in diesem Gericht das große Therapeutikum Gottes. Gott wird uns
zurechtbringen.
Der Richter des Jüngsten Tages ist kein anderer als Jesus Christus.
Der richtet uns, der sich selbst mit letzter Konsequenz für uns eingesetzt
hat und sich für uns einsetzt. Kein Unbekannter sitzt uns als
Richter gegenüber, sondern der, der gekommen ist, uns zu suchen
und fürs Leben zu retten.

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