Ewigkeitssonntag / Totensonntag

Herr, lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.

Die Psalmen 90, 12

Der letzte Sonntag im Kirchenjahr ist der Ewigkeitssonntag. Und das
Leitwort zum Ewigkeitssonntag heißt: »Lasst euere Lenden umgürtet
sein und euere Lichter brennen« (Lk 12,35). Man kann diesen Sonntag
auch als Gedenktag der Entschlafenen begehen. Viele Gemeindeglieder
verstehen ihn auch so, gehen an diesem Sonntag in den Gottesdienst,
weil er für sie der Totensonntag ist.
Luther hat die Totenmessen abgeschafft und hat das fürbittende
Gedenken für die Verstorbenen besonders auf diesen Sonntag konzentriert.
Er war der Auffassung, wir sollten für einen Verstorbenen
drei oder vier Mal Gott im Namen Jesu Christi mit allem Ernst um
das Heil seiner Seele bitten, dann sollten wir es gut sein lassen im Vertrauen
darauf, dass Gott es gehört hat und dass unsere Bitte bei ihm
in guten Händen ist. Es sei jedenfalls kein Ausdruck eines zuversichtlichen
Glaubens, wenn man Gott pausenlos um das Heil Verstorbener
bestürme, noch weniger sei es vertretbar, wenn man für sein Heil Seelenmessen
feiere und diesen eine verdienstliche Wirkung zutraue.
Ich wähle für den letzten Sonntag im Kirchenjahr das Wort zum
Gedenktag für die Entschlafenen aus Psalm 90,12: »Herr, lehre uns
bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.«
Es ist gut, dass die Anrufung »Herr«, die an dieser Stelle im Text eigentlich
gar nicht zu finden ist, mit der aber gleich der nächste Vers
beginnt, vor die Bitte »lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen«
gesetzt wurde. Denn es ist sehr wesentlich, ob Gottes Geist uns hier
lehrt oder ob wir uns selbst lehren, ob wir selbst mit dem Faktum unseres
Sterbenmüssens zurechtkommen wollen. Man kann beim Bedenken
der Tatsache, dass wir alle eines Tages oder eines Nachts sterben
müssen, auch kopfscheu oder ein Gefangener des Todes werden,
vergleichbar dem Fröschlein, das gebannt auf das offene Maul der
Schlange starrt. Nicht wenige Menschen werden krank, wenn sie zu
intensiv an ihren Tod denken. Und weil sie das wissen oder fürchten,
meiden sie jeden Friedhof und jedes Sterbebett; sie weigern sich, sich
mit dem Sterbenmüssen zu befassen.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen in der Mitte ihres Lebens
von heftiger Todesangst überfallen werden. Ich denke etwa an
Leo Tolstoi, dem das eines Tages geschehen ist und der in tiefste Depression
versank. Das rechte Bedenken des eigenen Todes ist eine
Kunst, weshalb in früheren Zeiten viele Bücher erschienen sind, die
eine ars moriendi in dem Sinn lehrten, dass sie das ganze Leben als
Einübung in das Sterben verstanden.
Ich weiß nicht, ob diese Auffassung des Lebens als vorbereitende
Schule auf das Sterben dem Gesamtzeugnis des Alten und Neuen Testamentes
entspricht. Wohl eher nicht. Aber dann und wann das eigene
Sterbenmüssen bedenken und dann entsprechend bedacht zu leben,
das wird auf jeden Fall für unser Leben viel austragen.
Ich möchte schlicht einmal im mitmenschlichen Horizont zu solchem
Bedenken anregen: Der Mensch, mit dem ich zusammenarbeite,
der mich ärgert, wohl gar zum Zorn reizt, ist ein Mensch, der morgen
in Todesnot sein kann. Der Gedanke daran wird mir helfen, mich
nicht einfach von meinem Zorn bestimmen zu lassen.
Keiner von uns weiß, wenn er einem Menschen begegnet, ob es die
letzte Begegnung sein wird. Wir kennen weder die Stunde unseres
noch seines Todes, noch die Art, wie wir sterben werden. »Es kann
vor Nacht leicht anders werden, als es am frühen Morgen war« (EG
530).

Rasch tritt der Tod den Menschen an,
es ist ihm keine Frist gegeben;
es stürzt ihn mitten in der Bahn;
es reißt ihn fort vom vollen Leben.
Bereitet oder nicht, zu gehen,
er muss vor seinem Richter stehen.
(Friedrich Schiller: Wilhelm Tell)


Wir wissen nicht, wie früh er oder ich in der Situation sein werden, in
die der König Hiskia durch eine plötzliche schwere Krankheit gekommen
ist und die er nach seiner Genesung so beschrieben hat:

Ich sprach: Nun muss ich zu des Totenreiches Pforten fahren
In der Mitte meines Lebens,
da ich doch gedachte, noch länger zu leben.
Ich sprach, nun werde ich den Herrn nicht mehr sehen
in dem Lande der Lebendigen,
nun werde ich die Menschen nicht mehr sehen
mit denen, die auf der Welt sind.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
bis zum Morgen schreie ich um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe:
Tag und Nacht gibst du mich preis.
Meine Augen sehen verlangend nach oben:
Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
(Jesaja 38,10–14)


Unsere Begegnungen miteinander sollten so sein, als seien sie vielleicht
die letzten. Letzte Worte haben einen langen Nachhall. Unter
demselben Aspekt hat Paulus wohl die Sätze geschrieben: »Zürnet ihr,
so sündiget nicht; lasst die Sonne nicht über euerem Zorn untergehen
« (Eph 4,26).
Sollten wir Menschen, die uns begegnen, und die wie wir bald
sterben könnten, missionieren, solange es nicht zu spät ist? Wenn wir
sie mit dem Hinweis auf ihr Ende zum Glauben an Jesus Christus
drängen, werden wir ihnen wohl kaum einen hilfreichen Dienst tun.
Denn sie werden dann an uns etwas Gewaltsames erleben, das nur abstößt,
weil der Gedrängte sehr wahrscheinlich momentan nicht leisten
kann, was wir von ihm wünschen. Andererseits sollten wir die Gelegenheiten,
Rechenschaft zu geben von der Hoffnung, die in uns ist,
nicht meiden, sondern suchen. Gemäß dem Wort aus 1. Petrus 3,15:
»Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor Jedermann, der euch fragt
nach dem Grund der Hoffnung, die in euch ist.« Wir sollten dann
auch wirklich Zeit haben, vor allem, um auf die Fragen und Auffassungen,
besonders auch auf zweifelnde Rückfragen unserer Gesprächspartner,
einzugehen. Und das Bedenken, dass seine und meine
Lebenszeit begrenzt ist und dass wir vielleicht keine andere Gelegenheit
dazu finden werden, sollte uns dazu leiten, die Gelegenheit auch
wirklich wahrzunehmen.
Das Wissen darum, dass ich sterben werde, könnte mich selbst dazu
anzuhalten, zu tun, was ich tun wollte, solange ich dazu Gelegenheit
habe. Besonders wenn es sich darum handelt, einem anderen
Menschen Gutes zu tun. Freilich ohne Panik. »So sehet nun wohl zu,
wie ihr wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die
Zeit aus; denn es ist böse Zeit« (Eph 5,15.16). Diese Mahnung könnte
uns daran erinnern, wie kostbar unsere Lebenszeit ist. Wir sollen sie
nicht für total Unnützes verplempern, sondern vielmehr als eine der
wertvollsten Gaben nutzen, um etwas zu tun, was auf Gottes große
Güte hinweist.
Bedenken, dass wir sterben müssen, das kann bedeuten, dass wir
uns als Kinder unserer Eltern und, wenn wir Eltern sind, als Väter,
Mütter, Großeltern unserer Kinder und deren Kinder verstehen. Dietrich
Bonhoeffer hat seinen Mitverschwörern einmal geschrieben, es
komme nicht darauf an, wie wir uns aus der Affäre ziehen, vielmehr
darauf, dass künftige Generationen leben können. Ein Mensch, der
sich klarmacht, dass es nicht zuletzt auch seine Aufgabe ist, für das
Leben einer kommenden Generation zu leben, wird frei werden von
einem sorgenvollen Kreisen um die eigene Person und deren Befindlichkeit.
Bedenken, dass wir sterben müssen, bedeutet auch: daran zu denken,
dass unser Leben egal, ob wir früher oder sehr spät sterben werden,
Fragment ist und Fragment bleibt. Es ist eine törichte Selbstüberforderung
und auch Selbsttäuschung, wenn ein Mensch sich
vornimmt, ein abgerundetes Lebenswerk schaffen zu wollen. Bonhoeffer
hat sich im Gefängnis in Tegel, als es zu erwarten war, dass er
nicht alt würde, mit dem fragmentarischen Charakter jedes Lebens
befasst. Er kam zur Überzeugung, es sei bei unserem immer fragmentarischen
Leben vor allem wichtig, dass man dem Fragment ansehe,
wie es hätte werden sollen und aus welchem Material es sei.
Bedenken, dass wir sterben müssen, bedeutet vor allem auch: Verantwortungsvoll
mit der Kreatur umgehen. Todesverdrängung, Raubbau
an der Kreatur und Kinderarmut sind miteinander typische Zeichen
eines Bürgertums, das meint, diese schöne Erde für sich selbst
vollends verbrauchen zu dürfen. Wer dagegen seine eigene Rolle begrenzt
sieht und wer für die kommende Generation lebt, der wird mit
anderen zusammen so leben, dass er diese Welt den Nachkommenden
so hinterlässt, dass diese sich an ihr freuen und sie als Heimat erfahren
können.
Schließlich wird der Mensch, den Gottes Geist lehrt zu bedenken,
dass wir sterben müssen, sich klarmachen, dass wir Wanderer zwischen
zwei Welten sind.
Durch den gekreuzigten und auferstanden Christus ist uns der Tod
eine Tür zum Leben geworden, wird aus dem Sterben ein Entschlafen
und ein Heimgang. Seine Nähe wird uns auch auf dem letzten Weg
geleiten.
Der 90. Psalm, der uns gültig, fast ehern die Gesetzmäßigkeit unseres
Sterbenmüssens vor Augen hält, endet aber nicht beim seligen
Ende. Es ist für die biblische Einstellung zum Leben und Tod bezeichnend,
dass auf das Bedenken des eigenen Todes das Gebet um
ein recht geistgeleitetes tätiges Leben in dieser Welt folgt:

Fülle uns frühe mit deiner Gnade,
so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.
Zeige deinen Knechten deine Werke
und deine Herrlichkeit ihren Kindern.
Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich
und fördere das Werk unserer Hände bei uns.
Ja, das Werk unserer Hände wollest du fördern.
(Psalm 90,14–17)

Wegworte zum Herunterladen: 64_Totensonntag (pdf)