1. Advent

Siehe, dein König kommt zu dir,
ein Gerechter und ein Helfer.

Der Prophet Sacharja 9, 9

Das Kirchenjahr beginnt mit der feierlichen Aufforderung »Siehe!«.
Und auch in den Leitworten der nächsten beiden Adventssonntage
finden wir die Worte »Sehet auf« und »Siehe«. Also dreimal zu Beginn
des Kirchenjahres die Aufforderung aufzusehen.
Als Kind empfand ich dieses »Siehe« wie einen silbernen Schnörkel,
eine Verzierung, durch die eine gewisse Feierlichkeit erzeugt,
durch die aber auch alles ferner, unwirklicher wird. Als junger Pfarrer
versuchte ich, wo es ging, dieses »Siehe« wegzulassen. Es war mir zu
pathetisch. Freilich, eine Übersetzung wie »Schau mal« ging auch
nicht. Sie war zu kumpelhaft, banal.
Heute empfinde ich dieses »Siehe« als einen sehr nötigen Zuruf:
Du, der du dich völlig vergraben hast in deine große Arbeit oder in
dein Problem, du, der du gefangen bist durch deine Konflikte oder
durch die Wunden, die man dir geschlagen hat, du, der du längst
nichts wirklich Neues mehr wahrnimmst und dessen Leben ein ewig
gleichförmiger Trab geworden ist, sieh auf! Sieh um Gottes willen einmal
weg von dem, was dich total gefangen hält und was dein Leben
in die gleichförmige und hoffnungslose Banalität hineinbindet, sieh
auf! Verpass nicht, was an dir geschehen soll. Und sieh nicht nur, was
dir gilt und was dein Leben verändern kann. Sieh, was das Leben
sehr vieler, ja, letztlich aller Menschen aus dem Trott des gleichförmigen
Vergehens herausreißen und erst wirklich zum wahren Leben
machen kann. Aber: Übersieh es nicht. Winke nicht ab, ohne aufzusehen,
du beschäftigter Sklave, sondern: um Gottes Willen, sieh!
Dein König kommt zu dir! Sollen wir das Wort König tatsächlich
durch ein anderes ersetzen, etwa durch das Wort Präsident, weil es in
Deutschland keine Könige mehr gibt, weil unsere Kinder Könige allenfalls
aus dem Märchen oder aus der Regenbogenpresse kennen? Aber
wie wäre es, wenn wir in Stuttgart noch einen König hätten, wenn
unser Landesbischof regelmäßig mit ihm frühstücken, wenn dieser
oder jener aus seiner Nähe uns dieses oder jenes von ihm und von der
königlichen Familie kolportieren würde, würde uns das die Rede vom
König Jesus Christus leichter machen? Wohl kaum. Es gibt in Europa
Könige, die eine ganz gute Figur machen und die sich deswegen auch,
wenn sie sich dem Parlament gegenüber äußerster Zurückhaltung befleißigen,
noch halten können. Aber sie existieren faktisch von Volkes
Gnaden oder auch von Gnaden des Parlaments, das sie bei Laune halten
müssen. Sie wirken harmlos und unfrei gegenüber dem König Jesus
Christus, der nun seit bald zweitausend Jahren in aller Welt Menschen
ergreift mit seiner wirklich königlich freien Vollmacht.
Er ist die Alternative zu allen, die sich König nennen oder nennen
lassen in Geschichte und Gegenwart. Zu den gewalttätigen Königen,
die massenweise Menschen für sich einsetzen, für ihre Kriege besonders,
damit sie ihre Macht befestigen; wie für die wohl geratenen,
gutwilligen und oft reichlich hilflosen Könige. Er war auch damals,
nach der jahrhundertealten Königsgeschichte Judas und Israels, die
totale Alternative. Diese Königsgeschichte war von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
immer elender gescheitert. Die Erwartungen, die das erwählte
Volk Gottes immer wieder neu auf seinen König gesetzt hat, wurden
im Ganzen enttäuscht. Die Könige waren heillos überfordert. Man
wartete auf den König, der noch nie da gewesen war und den man
wohl in jedem neuen König erhofft hatte.
Nun kam Jesus nach Jerusalem, und er gestaltete seinen Einzug ganz
bewusst, indem er nicht auf dem Streitross, sondern auf dem Esel einzog
und sogar das Eselsfüllen mitnahm – ein Einzug des Friedenskönigs,
von dem der Prophet Sacharja im neunten Kapitel vorausgesagt
hatte, er werde die Kriegswagen und die Streitrosse wegtun, werde die
Kriegsbogen zerbrechen, dem Volk Frieden gebieten, seine Friedensherrschaft
werde von einem Ende der Erde zum anderen reichen. Im
Grunde ein gewaltiger Anspruch für einen arm und demütig auftretenden
König. Ich frage mich, ob die Volksmenge, die »Hoschana Ben
David« skandierte und Palmzweige schwang – das Zeichen des makkabäischen
Freiheitskrieges, des bewaffneten Aufstandes – ihn nicht
reichlich missverstanden hat. Dass aus dem »Hoschana« bald ein »Ans
Kreuz! Ans Kreuz!« wurde, verwundert nicht. Er kommt eben doch
als der ganz Andere, nicht von Volkes Gnaden, sondern von Gottes
Gnaden, nicht nach dem Muster dessen, was das Volk will, sondern nach
dem Herzen Gottes. Folglich ist er von Anfang an der König, der es
schwer haben wird.
Er kommt! Um dieses Kommen dreht sich die ganze Heilsgeschichte.
Gott kommt. Er kommt in Jesus auf diese Welt, um sie mit
sich zu versöhnen (2. Kor 5,19), um sie zu bitten, sich versöhnen zu
lassen, um ihr den Frieden zu bringen und um sie friedensfähig zu
machen. Um den weiten, schweren Weg zu einem Frieden in Gerechtigkeit
mit ihr zu gehen.
Dass er kommt, schließt zwei Auffassungen aus: Zunächst die weit
verbreitete Meinung, Gott sei als eine Art Weltgrund in seiner Welt
immanent, die ganze Welt sei womöglich eine Art Ausfluss oder Existenzform
Gottes. Nein, er kommt in seine Welt. Aber auch die andere
Auffassung, als sei und bleibe Gott für immer der Welt transzendent,
so dass für immer allein wahr bleibe, was inPrediger 5,1 steht: »Gott
ist im Himmel und du auf der Erde«; auch diese Sicht wird überholt
durch den Gott, der in seinem Friedenskönig in seine geschaffene
Welt kommt.
Er wird wiederkommen, um diese seine Welt zu erlösen aus so vielem,
was ihren Frieden zerstört und ihr Leben hindert. Und zwischen
seinem ersten und seinem zweiten Kommen spannt sich die ganze
Heilsgeschichte Gottes mit seiner Menschenwelt.
Dein König kommt. Wir sollten nicht sofort vom Kommen dieses
Königs in unser Herz reden im Sinne des innigen Verses »Komm, o
mein Heiland Jesus Christ, meins Herzens Tür dir offen ist!« Bleiben
wir bei diesem Adventswort, so müssen wir den vorigen Vers vorher
lesen: »Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem,
jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir …« Er kommt in Gottes
Volk Israel, genauer auf den Berg, an den sich alle Heils- und Friedenshoffnungen
geknüpft haben, zum Zion! Jesus ist der Messias Israels,
gesandt zu den verlorenen Schafen dieses seines Volkes. Erst in
zweiter Linie wurde er zum Heiland der Völker.
Und wenn wir am ersten Advent mit diesem Wort unseren Gottesdienst
beginnen, dann tun wir gut daran, uns klarzumachen, dass der
Friedenskönig in seine Gemeinde kommen will: um ihr Leben zu er-
neuern, um ihr Frieden zu geben, um sie friedensfähig und zum
Werkzeug seines Friedens in dieser kriegsbedrohten und kriegsgeplagten
Welt zu machen. Weshalb der primäre Ort der Adventsfeier nicht
der Schein der Kerze zu Hause ist – so schön es ist, wenn die Adventskerzen
in der Stube auch wirklich angezündet werden – sondern der
Gottesdienst der Gemeinde. Was zur Folge hat, dass vom Gottesdienst
der Gemeinde aus der König weiterzieht in die Häuser und
Krankenhäuser, in die Gefängnisse und in die Heime behinderter
Menschen, in manche Stube eines alten verlassenen Menschen – das
»Adventssingen« der Konfirmandinnen und Konfirmanden war und
ist dem Advent Jesu Christi sehr angemessen – aber auch in die Bereiche,
die dem Einfluss Jesu Christi eher verschlossen sind, von der Fabrikhalle
über das Bankgebäude bis hin zur Amtsstube und zum kommunalen
oder nationalen Parlament, in dem mit harten Bandagen
gestritten wird.
Es gibt zahllos viele Abbildungen des in die enge Stadt Jerusalem
einziehenden Friedenskönigs Jesus Christus. Meist wird die Stadt gemalt,
geschnitzt, in Stein gehauen als eine feste Burg mit engem Tor,
an dessen oberer Öffnung spitz das eisenscharfe Fallgitter droht –,
diese Bilder drücken eine unsterbliche Hoffnung aus: Christus, der
Friedenskönig, mit seinem erlösenden Einfluss in unserer Kommune,
im Sitz unserer Regierung, dort, wo unsere Interessenkonflikte ausgetragen
werden auf dem Tisch, auch unter dem Tisch, wo keiner dem
andern etwas schenkt, wo der ohnmächtige Mensch unter die Räder
kommt, seine Hilflosigkeit erfährt, dort ist Jesus Christus mit seinem
Geist!
Wir haben und bejahen heute den religionsneutralen, säkularen
Staat. Vor allem wollen wir nicht, dass eine Religion mit Hilfe staatlicher
Gewalt Menschen beherrscht. Und doch wissen wir: Die Politik
wird erst dann Frieden den Hilflosen bringen, Gerechtigkeit für
die Armen, wenn Jesu Geist Einfluss bekommt auf die kleine und die
große Politik. Weshalb wir nicht genug Frauen und Männer, die sich
seinem Geist öffnen, in den Parlamenten und den politischen Ämtern
haben können.
Wenn dieser Volk-Gottes-Aspekt (der jüdische und der christliche)
und der politische Aspekt wirklich wahr- und ernstgenommen wird,
dann allerdings darf und soll dieses Wort »dein König« auch ganz persönlich
genommen werden. Und es kann nie persönlich genug verstanden
werden.
Dein König kommt zu dir, dieser König will nicht nur in die Stadt
Jerusalem, sondern in dein Wesen einziehen. In dein Denken, so dass
du aus dir als einem oft sehr ratlosen Menschen ein Mensch wird, der
immer wieder durchaus Rat empfängt und Rat geben kann. In deine
Gefühlswelt, die oft wie ein unentwirrbarer gordischer Knoten ist, da
sich vieles in ihr gefährlich verwirrt, verkrampft und verknotet hat. Er
will den Knoten gewaltlos entwirren, damit du frei wirst zum spontanen,
freudigen Lieben. In deine persönlichen Beziehungen zu Menschen;
wohl besonders in deine Beziehung zu dem Menschen, der
dich nicht leiden und den du auch nicht leiden kannst. Da soll etwas
in Ordnung kommen, damit bei dir und bei ihm Frieden einzieht.
Dein König kommt zu dir, um deine Hoffnung, die fast gestorben ist,
aufzuerwecken und ihr aufzuhelfen. Es ist durchaus sinnvoll, in der
Adventszeit immer wieder eine Kerze anzuzünden und »Komm, o
mein Heiland Jesu Christ …« zu singen. Mit anderen zusammen oder
auch allein. Er ist »dein König«.
Ein Gerechter und ein Helfer. Seine Gerechtigkeit besteht nicht
darin, dass er unsere Wünsche erfüllt. Er ist nicht König von unseren
Gnaden, der unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit wahrmacht. Er
kommt, um Gottes Recht aufzurichten, ganz bestimmt ein Recht, das
die Armen und Hilflosen aufatmen lässt, weil sie und ihr Lebensrecht
nun wie nie zuvor in den Blick kommen. In unserem privaten Leben
so sehr wie in der Gemeinde, wie auch in der Politik. Bedenken wir
aber, dass Gerechtigkeit im Alten und Neuen Testament ein Beziehungsbegriff
ist: Gott sieht in Jesus Christus unser Elend an und wird
dem Elenden gerecht. Und wir werden durch unsere Dankbarkeit
ihm gerecht, indem wir die Tendenz seiner Sicht übernehmen und in
diese Richtung agieren. Ein neues Verständnis zwischen Gott und
Mensch und dann auch zwischen Mensch und Mensch wird zum
Ausgangs- und Quellpunkt einer neuen Gerechtigkeit.
Wie sollen wir das Wort übersetzen, das bei Luther ein »Helfer«
heißt? Es ist eine Passivform und bezeichnet eigentlich den, dem geholfen
wird, dem der Sieg verliehen wird. Weshalb die Züricher Bibelmit »siegreich« übersetzt. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung
des Alten Testamentes, bringt das Wort »sozon«, das Luthers
»Helfer« entspricht.
Ich sehe den hebräischen und den griechischen Text zusammen
und folgere: Der König von Gottes Gnaden, dem Gott selbst zum
Sieg verhelfen, dem Gott es gelingen lassen wird trotz schwerster
Konflikte, der österliche Christus, dem Gott aus dem Tod hilft und
den er einsetzt zu seiner Rechten, er kann helfen.
Sein Helfen können wir dann nicht persönlich genug erhoffen.
Zwar wird sein Helfen oft anders aussehen, als wir es erwartet haben;
und wir tun gut daran, offen zu sein für die meist überraschende Art,
in welcher er hilft. Aber es ist keine Frage, dass er kommt, um zu helfen:
zur Gerechtigkeit, zum neuen Verstehen, zum Frieden und dazu,
dass aus Kritikern Tröster, aus Abseitsstehenden Sich-Einsetzende, aus
oft böse Urteilenden Helfer werden. Helfer, denen geholfen wird und
die deswegen helfen können.

O mächt’ger Herrscher ohne Heere,
gewalt’ger Kämpfer ohne Speere
o Friedefürst von großer Macht!
Es wollen dir der Erde Herren
den Weg zu deinem Throne sperren,
doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.
O lass dein Licht auf Erden siegen,
die Macht der Finsternis erliegen
und löscht der Zwietracht Glimmen aus,
dass wir, die Völker und die Thronen,
vereint als Brüder wieder wohnen,
in deines großen Vaters Haus.
(Friedrich Rückert, EG 14).

Wegworte zum Herunterladen: 01_1.So_i_Advent (pdf)