2. Advent

Sehet auf und erhebet euere Häupter,darum,
weil sich euere Erlösung naht.

Das Evangelium nach Lukas 21, 28

Theodor Fontane sagt einmal, es gebe Menschen, die, weil sie Haare
in der Suppe finden, über der Suppe so lange den Kopf schütteln, bis
sie immer mehr Haare in ihr sehen.
Mag sein, dass es Menschen gibt, die sozusagen von Natur aus zum
Kopfschütteln prädestiniert sind. Und es mag sein, dass einer aus Mangel
an natürlichem Optimismus dazu neigt, schnell den Kopf hängen
zu lassen.
Es können aber auch von Natur starke, aktiveMenschen soweit kommen,
dass sie den Kopf hängen lassen und nur noch vor sich auf den Boden
starren. Weil sie es nicht mehr wagen, über das, was sich ihnen an
Schwierigkeiten aufdrängt, was ihren Blick niederzwingt, hinauszusehen.
Weil ihnen eine hoffnungsvolle Perspektive fehlt. Sie zählen zusammen,
was ihnen an Deprimierendem entgegenkommt, an menschlicher
Unfreiheit und Ungerechtigkeit; sie zählen nach, wie oft sie sich daran
die Zähne ausgebissen haben, sie machen sich klar, dass sie selbst ja leider
auch viel gebundener sind durch Ehrgeiz, Kleinglauben, Angst, von
den körperlichen Müdigkeiten ganz zu schweigen, bemerken im eigenen
Leben keinen wirklichen Fortschritt und resignieren.
Oft spüre ich solche Vorgänge, wenn ich nach Jahrzehnten einem
Menschen begegne, der einmal jung, frisch, übermütig, auf eine nette
Art ein bisschen frech und charmant war. Er hat einst seinen Kopf
aufrecht auf den Schultern getragen. Nun trägt er ihn schwer, als suche
er etwas auf dem Boden. Seine ganze Körperhaltung zeigt, dass ihn
vieles niederdrückt, das er mir nicht sofort sagen kann.
Was ist mit ihm geschehen? Hat er so oft eins übergebraten bekommen,
dass er nun so merkwürdig geschlagen daherkommt? Zehren unlösbare
Konflikte an ihm? Kann er Verletzungen, die er empfangen
hat, nicht verwinden? Hat ihm jemand in bewusster Machtprobe das
Rückgrat gebrochen? Sind es Gewissensschmerzen, mit denen er nicht
klarkommt? Wer will das entscheiden? Weiß er es selbst?

Erlösung

Der Begriff Erlösung taucht in diesem Wort aus der apokalyptischen
Rede Jesu Lukas 21,5–36 auf. Ein starkes Wort. Wer sich und
andere für erlösungsbedürftig hält, der geht davon aus, dass wir durchaus
nicht so souverän sind, wie wir uns gern verstehen und wie wir
uns oft vor anderen gebärden. Mit Recht sagt Schiller einmal: »Es
sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.« Und Paulus zeigt im
siebten Kapitel seines Römerbriefes erschütternd deutlich auf, was er
bei sich selbst feststellt und wie er sich fühlt. Ich will, was er hier von
sich sagt, einmal so formulieren: »Wie oft schon habe ich einem Menschen
Gutes tun wollen, habe es auch ernsthaft probiert und habe
bald festgestellt: Es kam das Gegenteil dessen heraus, was ich intendiert
hatte. Gut gemeint ist eben nicht gut. Ich wollte das Gute und
habe Schlechtes bewirkt, das ich nie und nimmer gewollt habe. Es ist
mir alles total missraten. Offenbar steckt eine Macht in mir, die den
besten Ansatz verdirbt, gegen die ich nicht ankomme, die meine besten
Versuche zum Scheitern bringt. Ich elender Mensch, der ich diese
destruktive Kraft nicht loskriege. Wer wird mich von ihr erlösen?
Das klingt wie die Auskunft eines Menschen, der im Gefängnis
sitzt und da nicht herauskann, weil die Zellentür innen keine Klinke
hat und weil er als Gefangener selbstverständlich keinen Schlüssel bekommt.
Aber Paulus beantwortet sein eigenes Bekenntnis zur Gebundenheit
und seine Frage, wer ihn da herausholen wird, nach kurzem
Besinnen: »Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.«
Unsere Erlösung aus den Mächten der Sünde und des Todes ist nach
Paulus durch Jesus Christus bereits geschehen (Röm 3,24). Und doch
warten wir zugleich »auf unseres Leibes Erlösung« (Röm 8,23). Wir
warten auf eine Erlösung, in der wir »von allem Übel, vom Tod und
von der Gewalt des Teufels« (Martin Luther) endgültig befreit werden.
So leben wir in einer Spannung von »schon« und »noch nicht«.
Wir nehmen wahr und übersehen durchaus nicht, was Jesus Christus
durch die Kraft seines Geistes an uns und sehr vielen Menschen bereits
getan hat. Dass er uns viel von unserer Todesangst genommen
hat, dass er uns durch seinen Einfluss befreit hat von dem destruktiven
Denken und Fühlen, das ätzend ist und das so manchen hoffnungsvollen
Ansatz wie mit einer Säure übergießt. Dieses Ätzende,
Destruktive ist Ausdruck der Gewalt des Todes, die gegenwärtig das
Leben bedroht und kaputtmacht. Christus hat uns davon befreit. Wir
haben es nicht mehr nötig, uns in solchen traurig destruktiven Haltungen
zu verkriechen und zu verschanzen. Das ist passé. Wir sind
bereits Erlöste.
Er hat uns befreit von der Macht der Sünde: Dass wir ständig um
uns selbst kreisen, um unsere Befindlichkeit, um unsere Ehre, die niemand
antasten darf, um unsere Macht, die wir argwöhnisch verteidigen,
um unsere Rechtschaffenheit, die keiner in Zweifel ziehen darf. Er
hat uns davon befreit, ständig zu reagieren nach dem Echogesetz dieser
Welt – wie du mir, so ich dir – als gebe es keine andere Alternative, sodass
wir vor lauter Reagieren gar nicht mehr dazukommen, selbst
wirklich zu agieren. Er hat uns befreit, einzustimmen in die göttlichfreie
Initiative der Liebe, die durch alles hindurchgeht, sich weder provozieren
noch gar erbittern lässt. Dieses sklavische Leben nach dem
Echo-Gesetz, das kein wirkliches Leben ist, haben wir, von Christus
Befreite, nicht mehr nötig. Wir sind zum wirklichen Leben befreit.
Er hat uns befreit von der Macht des Neides und der Missgunst.
Das zwanghafte sich Vergleichen mit Anderen, das bewirkt, dass ich
ihnen ihre Entfaltung, ihr Glück weder wirklich wünsche noch gönne
noch etwas dafür tue, ihnen womöglich lieber hinterrücks ein Bein
stelle, damit sie stolpern, all dieses Wesen des Finsterlings, Christus
hat uns davon befreit. Das ist passé. Wir haben keinerlei Grund, in
dieses böse, unfreie Wesen zurückzufallen. Die Sünde, die sich in solchen
Zwangsgedanken, zwanghaften Gefühlen, zwanghaft bitterbösen
Aktionen »unter dem Tisch«, in unwürdigen Manövern ausdrückt,
hat kein Recht mehr an uns. Wir durchschauen und verabscheuen sie.
Wir hassen die Sünde und sind auf der Hut, dass uns andere Menschen
nicht zu ihr verführen, in ihre Zwangsmechanismen verstricken.
Wir sind durch Jesus Christus von ihr erlöst.
Und doch weiß jeder von uns, wie oft er schon rückfällig wurde.
Wie viel Zunder das Destruktive, der Neid, jenes »wie du mir so ich
dir« in uns steckt. Wir sind noch längst nicht so frei, wie wir es gerne
wären. Und in unserer »Heiligung« erleben wir uns selbst oft wie
Menschen, die einen Sandhaufen hinaufsteigen. Kommen wir zwei,
drei Schritte voran, so kann es doch sein, dass der Sand nachgibt und
wir wieder zehn Schritte zurückrutschen.
Es sind eben auch die Einflüsse anderer Menschen – aber bestimmt
nicht nur diese. Es liegt ebenso an uns, dass wir uns zurückziehen
in Verhaltensmuster, die wir längst als unserer unwürdig
durchschaut haben. Und gerade, weil wir durch Jesus Christus diese
Zwangshaltungen und Zwangsreaktionen als unwürdig erkannt haben
und weil wir durch ihn wissen, wir hätten es nicht nötig, ihre Gefangenen
zu sein, gerade deswegen ersehnen wir Christen umso heftiger
die Erlösung herbei. Wir seufzen nach dieser Erlösung. Wobei dieses
Seufzen wie bei den beiden Blumhardts in Bad Boll den Ton eines unbändigen
Freiheitswillens hat – wie ein Gefangener, der verspürt hat,
wie schön die Freiheit ist, sich jetzt erst wirklich an seinen Fesseln
wund reibt.
Wenn die Apostel von Erlösung sprechen, dann haben sie das Bild
eines Sklaven auf dem antiken Sklavenmarkt vor sich. Da steht er in
seiner ganzen Kraft, gefesselt, er gehört nicht sich, sondern einem
üblen Sklavenhändler, der mit ihm Geld machen will, für den er kein
Mensch, sondern ein Arbeitstier ist. Jeder kann ihn betatschen, seine
Muskeln testen, ihm in den Mund sehen, prüfen, wie viel Zähne er
noch hat. Jeder kann seine zynischen Bemerkungen über ihn machen,
um seinen Preis feilschen. Der Sklave ist das so gewöhnt. Es demütigt
ihn zutiefst. Aber er hat sich eine Art Überlebensduldsamkeit zugelegt.
Er will nicht totgeprügelt werden. Also setzt er sein gutmütiges
Duldergesicht auf und lässt – die Gedanken sind frei! – alles mit sich
geschehen.
Nun kommt ein ihm bisher Unbekannter, bezahlt ohne Weiteres
den Höchstpreis. Kaum hat er ihn freigekauft, da nimmt er ihm die
Fesseln ab, blickt ihm freudig in die Augen und sagt zu ihm: »Jetzt
bist du ein freier Mann, du kannst bei mir arbeiten. Oder auch nicht.
Ich kann Leute wie dich brauchen. Wir haben viel Gutes zu tun. Aber
nicht als Sklave, sondern als mein Bruder und Mitarbeiter mit allen
Rechten. Ich bezahle gut. Du bist frei zu kommen oder auch nicht.
Ich lade dich ein, Bruder.«
In diesem Bild haben die Apostel zu verstehen versucht, was Erlösung
heißt. Wir könnten das Bild noch weiterführen: Der Freigekaufte
und Freigelassene geht mit. Voller Freude arbeitet er in den weiten
Ländereien seines Herrn, der ihn ganz als Bruder und Mitarbeiter ver-
steht und behandelt. Er weiß, dass er es hundert Mal besser hat als
seine Eltern, die als Sklaven bei einem Ausbeuter ein elendes Leben
geführt haben, bis sie noch elender gestorben sind. Er weiß sein Vorrecht
zu schätzen. Aber so schnell ändert ein Mensch nicht die Mentalität,
in der er aufgewachsen ist. Sein Spontanverhalten. Das Unbewusste.
Er fällt immer wieder zurück in die alte Sklavengesinnung,
wird misstrauisch gegen seinen Herrn, glaubt ihm seine Großzügigkeit
nicht, spielt den Unterwürfigen, empfindet dabei ganz anders.
Die alte Überlebensheuchelei macht sich in ihm breit. Und leider
spielt er immer wieder vor seinen Mitbefreiten den Herren. Manchmal
hat man sogar den Eindruck: Was man ihm seine ganze Jugend
lang angetan hat, das tut er jetzt den anderen an. Vor dem »Herrn«
lässt er das nicht heraus. Da ist er der befreite Bruder. Aber wenn der
Herr nicht hinsieht …!

Herrliche Freiheit

Weil wir so sind und weil das umso mehr Sünde und Schande ist,
dass wir so rückfällig werden, sodass einer, der es erlebt, über diese
unsere Widersprüchlichkeit nur den Kopf schütteln und resignieren
kann, darum: Wir warten auf die endgültige Erlösung! Wir bereits
Erlösten. Wir warten auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
Wir Befreiten. Wir sind gerettet, aber eben auf Hoffnung hin. Wir
warten darauf in Geduld (Röm 8,22–25): Und alle Kreatur wartet
still und heftig darauf, dass wir, die Kinder Gottes, endlich wirklich
Kinder Gottes werden. Von uns soll wirklich Freiheit ausgehen und
alle, Menschen und Tiere, Pflanzen, alles was Gott geschaffen hat und
das unter uns noch immer zu leiden hat, kann sich freuen und dem
Erlöser Jesus Christus applaudieren, weil er uns wirklich auf dem Weg
der Freiheit zum Ziel gebracht hat.
Es gab und gibt immer Christen, die davon ausgehen, dieser Erlösungsprozess,
der mit Jesus Christus begonnen hat und der die ganze
Menschheit erfassen will, schreite stetig voran. Er mache zwar langsame,
aber doch sehr deutliche Fortschritte. Die Menschheit werde humaner
und komme so langsam aus dem Gröbsten heraus. Man spüre
es in hundert verschiedenen Initiativen zur Erziehung des Menschengeschlechts,
von denen die Kirche natürlich die göttliche Grund- und
Hauptinitiative sei. Irgendwann seien wir dann soweit, dass wir sagen
könnten: Das Gottesreich hat sich durchgesetzt.
So haben sich viele Christen im 19. Jahrhundert und noch bis zum
Ersten Weltkrieg diese Entwicklungen vorgestellt. Sie lebten in einem
christlichen Fortschrittsoptimismus, der dann freilich im blutigen
Entsetzten des Ersten Weltkriegs seinen tiefen Stoß erhielt und Kunst
zu einer heftigen Ernüchterung, ja zur großen Krise geführt hat.
Was Jesus uns in seiner apokalyptischen Rede, aus der dieser Wochenspruch
genommen ist, voraussagt, ist uns, wenn wir an die letzten
hundert Jahre denken, viel näher. Er sagt voraus: Zerstörung des
Tempels, das heißt doch eben auch: Zerstörung der institutionalisierten
Religion, religiöser Fanatismus, Menschen, die sich für Christus
halten, verführen viele. Kriege, die Luft voller Kriegsdrohung, brutale
Machtkämpfe, nicht nur von Herrschern gegeneinander, sondern
kriegstreiberischer Nationalismus: »Ein Volk wird sich gegen das andere
erheben.« Inflation, Hungersnöte weltweit, dazu Erdbeben und
vermehrte Naturkatastrophen; Christenverfolgungen. Verrat innerhalb
der Gemeinden, sodass ein Christ den anderen ans Messer liefert.
Schließlich immer mehr Chaos im Ökosystem, dessen Vorboten
große Überschwemmungen sind. Kosmische Auswirkungen: »Die
Kräfte des Himmels werden ins Wanken geraten« (Lk 21,26). »Den
Menschen wird angst und bange sein, viele werden zagen« (Lk 21,25).
Wenn das geschieht, sollen wir Christen weder überrascht sein
noch uns von der allgemeinen Panik anstecken lassen. Gerade dann
sollen die Jünger Christi ihre Häupter erheben und wissen: Nicht die
Katastrophe ist das Ziel Gottes mit seiner Menschenwelt, sondern die
Erlösung. Die Christen sollen dann bedenken, was Calvin anschaulich
sagt: »Seid nicht wie die Tiere, die den Schnabel zur Erde halten!«
Oder, mit Meister Eckhart gesprochen: Wir sollen »kein niederhangendes,
sondern ein aufgehobenes Gemüt« haben. Es gilt uns, was
Kurt Müller-Osten 1939 in seinem Adventslied (EG 51) gedichtet
hat:

Drum blicket auf, die Nacht vergeht,
der Morgenstern am Himmel steht
und leucht durch Angst und Plage.
Seid fröhlich, glaubet unbeirrt,
dass Jesus Christus kommen wird
am großen Königstage.

Wegworte zum Herunterladen: 02_2.So_i_Advent (pdf)