Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2012)

Autorin / Autor:
Pfarrer Rainer Köpf, Weinstadt-Beutelsbach [pfarrer@koepf.de]

Ezechiel 37, 24-28

Liebe Gemeinde,

„Driving home for Christmas – Heimkommen an Weihnachten“ – In dem Popsong von Chris Rea, den man dieser Tage im Radio hört, beschreibt ein Autofahrer, wie es ist, wenn man zu Weihnachten nach Hause fährt. Viele andere sind mit einem unterwegs. In unterschiedliche Himmelsrichtungen zwar, aber mit einem gemeinsamen Ziel. In den Gesichtern hinter den Autoscheiben fühlt man eine unausgesprochene Verbundenheit. „Tausend Erinnerungen“ aus Kindheitstagen liegen in der Luft. Man ist auf der Fahrt zum „heiligen Boden“, auf dem man daheim ist – so formuliert es das Lied. Als sei dieses winterliche Straßenverkehrserlebnis eine große Wallfahrt zum Fluchtpunkt menschlicher Sehnsucht, dem Zuhause, in dem alle Unruhe abgelegt werden darf. Hier habe ich einen unverlierbaren Wert, nicht wegen meiner Leistung, sondern weil ich dazugehöre. Geschenktes, nicht erworbenes Sein. Das Rennen und Hasten des vergangenen Jahres kommt zur Ruhe. Zuhause, ein Ort, an dem ich nicht Firmenchef, Arbeitsloser, Studentin oder Powerfrau bin, sondern einfach nur Sohn und Tochter, Bruder und Schwester. Geliebt, angenommen, daheim. Heiliger Boden. Manche von uns werden in den vergangenen Tagen eine solche Heimfahrt zurückgelegt haben. Vielleicht haben sie dieses Lied gehört oder dessen Sehnsucht gespürt. Nun ist es Weihnachten geworden. Das Festmahl ist gegessen, die Geschenke ausgepackt, die Kerzen entzündet, die Lieder gesungen, der Heiligabend fast vorbei. Hat sich unsere Sehnsucht erfüllt? Haben wir das Wunder gefunden, das wir gesucht haben? Haben wir eine Verwandlung erfahren, wie sie einst die Hirten von Bethlehem an der Krippe erlebt haben: Von der Nacht ins Licht, von der Furcht zu Freude, von stumpfer Klage zum frohem Singen?

Das Heimweh der Hirten

Die Hirten der biblischen Weihnachtsgeschichte waren keine großen „Kirchgänger“. Ihre berufliche Situation hat es ihnen schier unmöglich gemacht, den religiösen Pflichten der damaligen Zeit nachzukommen. Wenn die anderen zum Gottesdienst gingen, mussten sie ihre Herde bewachen. Während die Frommen ihren Glauben lebten, mussten sie dafür sorgen, dass ihre Schafe etwas zu fressen bekamen. Nein, ihr Hirtenfeld war kein heiliger Boden, vielmehr ein Ort des täglichen Lebenskampfes. Doch wenn sie abends beim Lagerfeuer zusammensaßen, dann tauchten die alten Geschichten auf. Wenn sie‘s satt hatten, nur auf die politischen Zustände zu fluchen und ihr eigenes armseliges Schicksal in Selbstmitleid zu beklagen, wenn die Nacht am dunkelsten war und Furcht sie überfiel, dann kamen ihnen die tausend alten Erinnerungen in den Sinn. Worte und Bilder vergangener Zeiten.
Sie erzählten sich von den Schicksalszeiten ihres Volkes. Schlimme Situationen und furchtbare Katastrophen. Und wie der Gott der Väter immer wieder Zeichen seiner Nähe geschickt hat: den Bissen Brot in hungrigen Wüstenzeiten, das kleine Licht am Ende des Tunnels, das Trostwort in Zeiten der Sprachlosigkeit, den Durchzug durchs unüberwindlich scheinende Meer der Verfolgung. Ja, wie Gott immer wieder den Abgrund in einen Weg verwandelt hat. Und dass Wunder geschehen. Und sie wärmten sich gegenseitig an den großen Bildern, die durch die Verheißungen der biblischen Propheten in ihren Herzen wohnten.

Hesekiels Weihnachtsbild: Wir werden heimkehren!

Der Prophet Hesekiel war vielleicht nicht unbedingt einer ihrer Lieblingspropheten. Hesekiel sprach anders als sie. Er gehörte nicht wie sie zu den Randsiedlern der Gesellschaft, sondern stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Er war einer der Frommen, ein Priester. Aber er war auch einer, der wusste, wie es ist, wenn man alles verliert. Er hat erlebt, wie es ist, wenn das zusammenbricht, was seither Halt und Sinn gegeben hat. Hesekiel wurde sein „heiliger Boden“ genommen durch die Eroberung des Landes Israel und die Zerstörung des Tempels. Zusammen mit anderen wurde er als Gefangener weggeführt nach Babylonien. Als Strafe Gottes für den Ungehorsam der Menschen hat er dieses Unglück verstanden. Selbstkritisch hält er dem Volk den Spiegel vor. Aber er bleibt nicht in Schuldvorwürfen stecken, sondern breitet ein lichtvolles Bild vor seinen Hörern aus und verspricht im Namen Gottes: „Wir werden wieder heimkehren! Gott wird neu anfangen mit uns. Er selbst wird unser großer Hirte sein und seine verlorenen Schafe heimbringen im Bausch seines Mantels. Gott selbst wird kommen, bei uns wohnen und ewig bei uns bleiben in einem ewigen Bund, dem wir mit unserem ewigen Gehorsam antworten werden. Dadurch wird auch der schlimmste Kampfplatz auf Erden heiliger Boden. Weil er mitten unter uns ist, sind wir daheim. Was für ein tröstliches Bild!

Ist das Versprechen in Erfüllung gegangen?

Als ob viele Autofahrer gleichzeitig von einer gemeinsamen Sehnsucht bewegt zu einem großen Ziel unterwegs sind, so erleben wir die Hirten von Bethlehem in dieser Christnacht. Der Engel auf dem Hirtenfeld hat ihnen verkündigt, dass dieses Bild des Hesekiel heute Nacht in einem Stall lebendig geworden sei, dass dieses kleine Kind in der Krippe der verheißene Hirte sei und mit ihm die Erfüllung unserer Sehnsucht beginnt. Jetzt wird alles gut.
Und so laufen sie los aus ihrer Nacht heraus, kommen zur Krippe und finden den Heiland der Welt, den Friedefürst, den großen Hirten, der alles Herzeleid wenden wird – noch ganz klein. Aber er ist da. Und in seinem Gesicht erstrahlt der Anbruch einer neuen Zeit. Doch können die Hirten das glauben? Können wir das glauben?

Das Kind wird groß werden

Wo Bethlehems Hirtenfeld ist, durchzieht heute eine fünf Meter hohe Mauer das Land. Als manifestiere sie die Feindschaft unter den Menschen, die seit Adams Zeiten friedliches Miteinander zerstört. Harte Herzen, die zu keiner Versöhnung fähig zu sein scheinen – nicht nur in Israel, auch an so vielen anderen Orten dieser Welt. Religiöser Hass und feindseliger Nationalismus sind trotz Weihnachten nicht ausgestorben. Wo die Engel einst Frieden für die Welt verkündet haben, kommt das Land nicht zur Ruhe. Ist diese zerrüttete Welt Heiliges Land? Heiliger Boden? Hat sich seit Jesu Geburt irgendetwas verändert? Ist dieses versprochene Friedensreich nicht Schall und Rauch. Und wenn die Festtage vorbei sind, ist dann alles wieder beim Alten? Die Hirten von Bethlehem waren einfache Leute. Sie kannten die Bibel nicht in allen Einzelheiten. Der filigranen Spitzfindigkeit vieler Gebote standen sie wohl manchmal ratlos gegenüber. Es waren vor allem helle Bilder, die in ihnen tröstlich lebten. Und auch jenes war ihnen klar: Der große Hirte, der gekommen ist, ist kein Parteipolitiker, sondern vielmehr ein heilender Arzt. Er verändert nicht die Gesetzgebung, sondern unser Herz: „Ich will euer steinernes Herz in ein fleischernes Herz verwandeln!“ Er gibt zuerst, was er fordert. Versöhnung geschieht – nicht aus Nötigung heraus, sondern als Geschenk seiner Liebe. Ein Wunder steht am Anfang und nicht der erhobene Zeigefinger.
„Die Hirten kehrten wieder um…“ heißt es in der Weihnachtsgeschichte. Und dann gingen sie wieder hinaus in die dunkle Nacht. Da war wieder ihre Herde, ihr altes Arbeitsfeld, ihre alltäglichen Sorgen. Und dennoch heißt es weiter: „… sie lobten und priesen Gott.“ Warum wird ihr Ort des Lebenskampfes doch noch zum heiligen Boden – auch wenn sich äußerlich nicht viel verändert hat? Weil sie wissen: Gott ist auf der Welt. Das Kind in der Krippe ist noch klein. Aber es wird groß und stark werden. Der Sohn Gottes wird eines Tages kommen, und seine Herrschaft wird für alle Welt sichtbar werden. Die Liebe ist im Wachsen. Das Arbeitsfeld der Hirten mag auch weiterhin hart geblieben sein, aber ihre Herzen waren verändert, weich und weit geworden. Darum wird der Ort ihres Lebenskampfes nun doch noch zum heiligen Boden. Und so gibt es neben all dem Dunkel der Nacht, neben Krieg, Leid und Terror eben immer auch das andere: Das Wunder der Liebe und die Kraft zur Versöhnung.

Driving home for Christmas – Heimkommen an Weihnachten

Ein Mann sitzt unruhig im Überlandbus. Er starrt wie gebannt durchs Fenster nach draußen. Sein Äußeres verrät höchste Anspannung. Eine mitfahrende Frau fragt ihn: „Geht‘s auch nach Hause zu Weihnachten?“ „Ich weiß es nicht“ Und da bricht es aus ihm heraus: „Lange war ich im Gefängnis. Eine Schande für meine Familie. Meine Eltern sind einfache, aber ehrliche Leute. Sie haben mein Verbrechen damals schier nicht verkraftet. Sie haben mich nie besucht, sich geschämt. Auch keine Briefe kamen mehr. Jetzt habe ich noch einmal einen letzten Brief geschrieben. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich meine Strafe abgesessen hätte und an Heiligabend entlassen würde. Ich würde mit dem Bus am Haus vorbeifahren. Die Bushaltestelle ist direkt vor dem Elternhaus. Ich würde es verstehen, wenn sie mich nicht wiedersehen wollten. Aber wenn sie mir noch eine Chance geben wollten, wenn ich heimkommen dürfe, dann sollten sie mir ein Zeichen geben. In den Baum, der vor dem Haus steht, könnten sie ein weißes Tuch zu hängen. Wenn ich es sehen würde, dann wüsste ich, dass sie mir verzeihen, und ich würde aussteigen. Wenn aber kein Tuch im Baum hängt, dann wäre es für mich klar: Ich bleibe im Bus sitzen, fahre weiter in die nächste Stadt und sie würden mich nie wieder sehen. Ich würde aus ihrem Leben für immer verschwinden“
Die Frau war betroffen. Als sie sah, dass der Mann immer angespannter wurde und zitterte, je näher der Bus dem Elternhaus kam, sagte sie: „Würde es Ihnen helfen, wenn wir die Sitzplätze tauschen und ich für Sie Ausschau nach dem Zeichen halte?“ Sie tauschten ihre Plätze. Der Bus bog in die letzte Kurve vor der entscheidenden Bushaltestelle. Immer näher kam das Ziel. Sie sah das Haus und erblickte den Baum. Mit tränenerstickter Stimme rief sie: „Schauen Sie nur, schauen Sie, der Baum, er ist von oben bis unten geschmückt mit vielen weißen Tüchern…“
Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)