1. Sonntag nach Weihnachten

Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.

Das Evangelium nach Johannes 1, 14

Das Weihnachtsmysterium, um das so viele wunderschöne Weihnachtslieder
gedichtet, Kantaten und Oratorien komponiert, Bilder
gemalt wurden; das Mysterium, das so viele Generationen von Christen
in die richtigen Formeln und Sätze bringen wollten und dabei
miteinander in lang andauernde christologische Konflikte geraten
sind; um das eine so hohe Gottesdienstkultur sich entwickelt hat,
wird hier auf die knappste und gültigste Formel gebracht.
Gehen wir den Worten entlang, um zu erfahren, was sie sagen.
»Das Wort ward Fleisch«, das Wort, der Logos. Wenn Goethes Faust
meint übersetzen zu müssen »Im Anfang war die Tat«, so hat er damit
einen Teilaspekt des biblischen Logos durchaus erfasst. Dieses Wort
meint zugleich starke Tat. Himmel und Erde sind durch dieses Wort
erschaffen. Jeder Schöpfungstag in 1. Mose 1 beginnt mit der Eröffnung
»Und Gott sprach«. »Wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er
gebietet, so steht’s da« (Ps 33,9). Dieses Wort ist kein kraftloses Interpretieren
von Zuständen, die bleiben, wie sie sind, sondern dieses
Wort ist absolute Schöpferkraft. Alles, was geschaffen ist, vom Menschen
bis ins Tier- und Pflanzenreich bis in die Mineralogie und Geologie,
vom großen Kosmos ganz abgesehen, dessen kleinster Teil die
Erde ist, erinnert an den Logos, der es geschaffen hat.
Dennoch übersetzen wir das Wort »Logos« mit Wort, denn dass es
Wort ist, Selbstmitteilung, das ist seine primäre Bedeutung. Der Gott,
der »mich geschaffen hat samt allen Kreaturen« (Luther), ist nicht ein
stummes Welt- oder Kraftprinzip, sondern er hat eine aller Kreatur
und besonders uns Menschen kommunikativ zugewandte Seite. Er redet
mit uns. Und er hat es immer wieder neu getan, wie es der Hebräerbrief
in seinem Prolog sehr schön erinnert: »Nachdem vorzeiten
Gott manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern
durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet
durch den Sohn« (Hebr 1,1. 2). Und auch der 1. Johannesbrief beginnt
mit der Erinnerung an das Wort, das von Anfang war und das
in Jesus als »das Leben« sichtbar, hörbar, ein Mensch geworden ist
(1. Joh 1,3). Der Gott, der in Jesus ein Mensch wurde, ist nicht
stumm, so dass er es uns überlassen würde, ihn zu interpretieren, uns
sozusagen auf eigene Faust aus ihm unseren Reim zu machen. Er teilt
sich mit. Er offenbart sich selbst durch sein Wort. Und er ermöglicht
es uns und fordert uns arme Menschen dadurch heraus, zu ihm und
mit ihm zu reden. Unser Verhältnis zu ihm soll kein Verhältnis stummen
Staunens, auch nicht wortloser Anbetung bleiben. Wie er sich
uns gegenüber »äußert«, sich selbst mitteilt und bezeugt, so dürfen
wir das ihm gegenüber auch tun.
Man sollte sich übrigens davor hüten, aus dem Logos ein Extrawesen
neben oder vor dem lebendigen Gott zu machen, das für ihn die
»opera ad extra«, die »Werke nach außen«, besonders die Erklärung
nach außen, vollzieht. Man erlaube mir einen etwas respektlosen Vergleich:
Mancher stellt sich das Verhältnis zwischen dem Logos und
dem dreieinigen Gott etwa so vor wie das Verhältnis eines Landesbischofs
zu seinem Pressesprecher. Zwar gehe ich davon aus, dass alles,
was der Pressesprecher verlautbart, mit dem Landesbischof abgestimmt
ist, so dass der Landesbischof jederzeit im Blick auf seinen
Pressesprecher sagen kann: »Den sollt ihr hören«, und doch ist es ein
Unterschied, ob der Landesbischof selbst das Wort ergreift oder »nur«
sein Pressesprecher. Wenn Gott zu uns redet, dann redet nicht ein
vorgeschobener Sprecher zu uns, sondern Gott selbst. Er und sein
Wort sind eins.
Dieser Logos, Gott selbst, wird Fleisch. Das Wort »Fleisch«, besonders
wenn Paulus es im Gegenüber zum Wort »Geist« verwendet –
Geist und Fleisch streiten miteinander in und um den Christen – hat
einen antigöttlichen Trend: Das Fleisch, das aufbegehrt gegen den
Geist Gottes, das zur Selbstüberhebung neigt, das selbstherrlich Gott
sein Herrschaftsrecht streitig macht. Hier in der Fleischwerdung des
Logos steht das Wort Fleisch eher für das schlicht Menschliche an
uns, das schwache Menschenwesen, das seine engen Grenzen hat, das
Hunger, Durst, allerhand Bedürfnissen unterworfen ist, das lachen
und weinen, lieben und hassen kann, das von seinem Unbewussten
mehr beherrscht ist, als der Mensch sich das gern klarmacht. Luther
dichtet angemessen »… in unser armes Fleisch und Blut verkleidet
sich das ewig Gut« (EG 23). Gott selbst kommt in unsere Wirklichkeit,
wird ein Teil unserer Wirklichkeit. Man kann Gott nicht genug
ins Fleisch ziehen, konnte Martin Luther gelegentlich sagen.
Gern denke ich an einen Spaziergang durch den Wald bei Stuttgart-
Rohr zusammen mit Albrecht Goes. Ich hatte ihn überredet, einen
Vortrag über Jesus zu halten. Er wollte vorher ein Gespräch führen.
Wir fragten uns, wie man die christologische Formel »wahrer
Gott und wahrer Mensch« in neuer Weise sagen könne. Schließlich
kam Goes auf die Formulierung »einer von uns, keiner wie wir«. Wobei
dieses »Einer von uns« dann auch in seinem Vortrag das entscheidende
Gewicht hatte.
Vielleicht sollte man dieses »et incarnatus est«, er ist Fleisch geworden,
vom warmen Sopran gesungen in einer Mozart-Messe hören, um
zu empfinden, was hier gesagt wird. Hier entdecken wir die Quelle aller
wirklichen Humanität, aller Hoffnung für das Geschlecht der verlorenen
Söhne und Töchter Evas. Das Menschengeschlecht wird unendlich
gewürdigt, wenn Gott ein Mensch wird. Da geht der Species
Mensch der Morgenstern auf, und sie wittert Hoffnungsluft. »Gottheit
und Menschheit vereinen sich beide; Schöpfer, wie kommst du
uns Menschen so nah« (Johann Ludwig Konrad Allendorf, EG 66).
Dass Gott seine Menschheit keineswegs aufgibt, dass er ihr bis zum
Äußersten nachgeht, dass er sie nicht sich und ihren Unheilsmechanismen
überlässt, dass er ihre Misere, ihr Elend, auch ihre Schuld auf
sich nimmt, dass er ihr sein Leben geben will und sie zu sich ziehen,
zu sich erhöhen will, all das steht in diesem »das Wort ward Fleisch«.
Jeder einzelne Mensch, der sich oft fragt, ob seine Sache nicht verloren
sei und was aus ihm wohl noch werden wird, darf sich sagen: Das
ist jetzt Gottes Sache. Gott selbst hat sich mit mir identifiziert, hat
sich meiner Sache angenommen.
Keine Frage, dass dieser Akt der Fleischwerdung Gottes jeden Versuch
des Menschen, sich selbst zu vergotten, sein zu wollen wie Gott
(1. Mose 3,5), als etwas ganz Unsinniges, dazu hin etwas durchaus Unnötiges,
durch Gottes Inkarnation längst Überholtes links liegen lässt.
Und keine Frage, dass ein Christ, der von Weihnachten her kommt,
für solche Unternehmen schlichtweg nicht zur Verfügung steht. Wir
haben Besseres zu tun. Wir sind genug damit beschäftigt, dass wir
dem nachdenken und dessen innewerden, was geschah, als Gott in Jesus
Mensch wurde.
Er wohnte unter uns. Das Wort heißt, wörtlich übersetzt, »er zeltete
unter uns«. Das Wort »zeltete« erinnert noch mehr als das Wort
»wohnte« an die ganze Geschichte der Ablehnung Jesu. Luther: »Der
Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt hier ward (EG
23). Oder: »Sei mir willkommen, edler Gast« (EG 24). Aber von diesem
»willkommen« hat er nicht viel spüren können. Von Anfang an
war er der Mensch, der draußen vor der Tür zur Welt kommt. In unseren
Krippenspielen mimen wir die Herbergssuche nach. Bis der
Wirt singt: »Nein, o nein, das kann nicht sein, so schert euch fort, ihr
kommt nicht rein.« Schon im Johannes-Prolog heißt es: »Er kam in
sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh 1,11)
und: »Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s
nicht begriffen.« Die Flucht nach Ägypten zeigt überdeutlich, wie die
machthabenden Vertreter der Menschheit mit dem göttlichen Kind
umgehen. Es erleidet, was die Liebe täglich erleidet. In Nazareth, seinem
Heimatort, stoßen sie ihn schon nach der ersten Begegnung mit
ihm nach seiner Taufe aus, als er zu erkennen gibt, die Weissagung des
Deuterojesaja sei in ihm erfüllt. Und sie hätten ihn vom Hinrichtungsfelsen
gestürzt. »Aber er ging mitten durch sie hinweg« (Lk
4,30). Dass der Menschensohn »nicht hat, wo er sein Haupt hinlege«
(Lk 9,58), dass ihm und den Seinen auch im samaritanischen Dorf
das Nachtquartier verweigert wird (Lk 9,53), dass er schließlich zwischen
Himmel und Erde hängt wie Gottes Geschenk, auf dem steht
»Annahme verweigert«, dass die Seinen immer wieder vertrieben wurden
– »sie sind umhergezogen in Schafpelzen und Ziegenfellen, mit
Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach; deren die Welt nicht wert war,
die sind im Elend umhergeirrt in den Wüsten, auf den Bergen und in
den Klüften und Löchern der Erde« (Hebr 11,37. 38) – all das scheint
schon auf in diesem Wort »er zeltete unter uns«.
»Und wir sahen seine Herrlichkeit.« Soll man diesen Begriff mit dem
ganz normalen Sehen, einem physiologischen Vorgang der Augen,
übersetzen oder mit dem Wort »schauen«, das ein Sehen der Seele, des
Herzens, meint? Wir sollten zuerst ganz schlicht und vordergründig
vom Sehen reden. Gott hat sich in Jesus Christus sichtbar gemacht.
»Wer mich sieht, der sieht den Vater«, sagt Jesus (Joh 14,9). »Sehet,
was hat Gott gegeben«, dichtet Paul Gerhardt (EG 39). Es ist ein
wirkliches, leibhaftiges Sehen mit unseren leiblichen Augen, dem sich
Gott aussetzt. Das darf in unserer evangelischen Kirche, die sich so
ganz aufs Hören eingestellt hat, nicht übersehen werden.
Aber es geht, wenn der Geist Gottes unsere Augen leitet, vom Sehen
zum Schauen. Wenn Paul Gerhardt in seinem Meditationslied
vom Kind in der Krippe singt, dann ist aus dem Sehen ohne Zweifel
ein Schauen geworden. Die Seele erkennt, schaut, wer dieser Gast ist.
Und sie ahnt, welche Dimensionen er in sich verkörpert.
Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht sattsehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
dass ich dich möchte fassen!
Wir sahen seine Herrlichkeit. Das griechische Wort »doxa« nimmt das
hebräische »kabod« auf. Der Lichtglanz Gottes wird deutlich in diesem
Kind, in diesem Mann, der redet, wirkt und heilt in göttlicher
Vollmacht, in dem Gekreuzigten, der in der dreistündigen, eigentlich
neunstündigen, Finsternis stirbt. Die Doxa Gottes erscheint in dem
Auferstandenen. Immer neu erscheint denen, die mit Jesus gehen,
diese seine Herrlichkeit, besonders in den Heilungstaten, von denen
Johann Albrecht Bengel mit Recht sagt: »spirant resurrectionen«, sie
atmen Auferstehung, und in der Geschichte von der Verklärung Jesu
auf dem Berg Tabor (Mt 17,1–9), die schon vor dem Karfreitag ein
vorweggenommenes Osterereignis ist.
Dass von »doxa«, von Herrlichkeit die Rede ist, das darf uns freilich
nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese seine Herrlichkeit in
der Regel tief verborgen ist in seiner niedrigen Gestalt als Gottesknecht.
»Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da
war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste
und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet,
dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn
für nichts geachtet« (Jes 53,3). Die Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus
ist nach Luther »tectum sub cruce«, »verborgen unter dem Kreuz«.
Auf jedem rechten Weihnachtsbild finden wir irgendwo das Kreuz, so
etwa mindestens zweimal in Grünewalds Stuppacher Madonna oder
in all den Dürerschen Holzschnitten von der Geburt Jesu im Stall.
Doch müssen wir am Christfest nicht schon den Karfreitag feiern.
Am Christfest soll der Jubel der Engel zusammenklingen mit den besten
Instrumentenklängen, die Menschen hervorbringen können, mit
den stärksten Chören – »Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!«

Wegworte zum Herunterladen: 05_1.So_n_Weihn (pdf)