1. Sonntag nach Epiphanias

Welche der Geist Gottes treibt,
die sind Gottes Kinder.

Der Brief des Paulus an die Römer 8, 14

Nach einer meiner Christfestpredigten kam es einst in einer Familie
zum Streit. Ich hatte frei und freudig aus der Tatsache, dass Gott in
Christus die Menschheit, jeden Menschen, angenommen hat, gefolgert,
dass jeder Mensch ein Kind Gottes sei. »Gottheit und Menschheit
vereinen sich beide, Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so
nah« (EG 66). Gott wurde in Jesus nicht ein Christ, sondern ein
Mensch. Das hörte eine Familie mit verschiedenen Ohren. Dem Ehemann,
einem Oberstleutnant, gefiel es gut, seiner Frau weniger. Das
sei unbiblisch, sagte sie. Es heiße im Johannesprolog: »Wie viele ihn
aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die
an seinen Namen glauben, welche nicht von dem Geblüt noch von
dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern
von Gott geboren sind« (Joh 1,12.13). Im Gespräch mit Nikodemus
in Johannes 3 sage Jesus: »Es sei denn, dass jemand von Neuem
geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh
3,3). In Matthäus 12,50 sage er: »Wer den Willen tut meines Vaters
im Himmel, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine
Mutter.« Und nun hier in Römer 8,14: »Welche der Geist Gottes
treibt, die sind Gottes Kinder.« Und der Zusammenhang, in dem dieses
Wort steht, zeigt, dass Paulus sehr deutlich unterscheidet zwischen
»fleischlich gesinnt sein«, »nach dem Fleisch wandeln« und »geistlich
gesinnt sein«, »nach dem Geist wandeln«. »Die fleischlich gesinnt
sind, die sind fleischlich gesinnt, die aber geistlich gesinnt sind, die
sind geistlich gesinnt. Fleischlich gesinnt sein, ist der Tod, und geistlich
gesinnt sein, ist Leben und Friede. Fleischlich gesinnt sein ist
Feindschaft wider Gott … die fleischlich gesinnt sind, können Gott
nicht gefallen.« Und dann die Zusicherung – ist es eine Feststellung
oder ein Zuspruch für Verzagte? – »Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern
geistlich, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt.« Wer Johann
Sebastian Bachs Motette »Jesu, meine Freude« im Ohr hat, der hört
die sehr lebendig wirkenden, sozusagen geistbewegten Klänge bei der
Vertonung des Wortes »geistlich«. Und dann Bachs unglaublich wehmütige
Trauer, die gar nichts Ausgrenzendes hat, sondern erschüttert
mittrauert, bei der Vertonung des Satzes »Wer aber Christi Geist nicht
hat, der ist nicht sein« (Röm 8,9). Wer diese traurige Feststellung in
Bachs Motette je gehört hat, der wird sie nie vergessen.

Keine Aufteilung

Je weiter wir uns aber in dieses achte Kapitel des Römerbriefes hineinlesen,
desto deutlicher spüren wir: Paulus teilt nicht die Menschheit
auf in solche, die den Geist nicht haben, und andere, die ihn haben.
Noch weniger unterscheidet er zwischen den Gemeindegliedern in
Rom, die er kaum kennt, und anderen. Es wird hier nicht zwischen
Menschen sondiert, vielmehr zeigt er, wie der Mensch dran ist, der lediglich
von seinem Fleisch regiert wird. Das müssen gar nicht einmal
nur die rohen Triebe sein, es kann eine hohe Geistigkeit sein, die ihn
leitet, aber eben eine Mentalität, in der er sich selbst verwirklicht, sich
selbst rechtfertigt, sich selbst vervollkommnet. Und er zeigt, wie der
Mensch dran ist, wenn der Geist Gottes ihn »treibt«. Dann kann er in
aller Freiheit Gott vertraut anrufen »Abba, lieber Vater«. Und der
Geist Gottes wird ihn in der Frage, ob er ein Gotteskind sei, auch
nicht für immer im Ungewissen lassen. »Der Geist gibt Zeugnis unserem
Geist, dass wir Gottes Kinder sind« (Röm 8,16).
Fleisch und Geist ringen nach der Auffassung des Paulus um jeden
Menschen. Auch der vom Geist Gottes erweckte und zum Glauben befreite
Christ kann nicht davon ausgehen, dass sein »Fleisch« damit abgestorben
sei. Würde er davon ausgehen, dann könnte es sein, dass er
sich schwer täuscht. »Wer da glaubt, er stehe, der sehe zu, dass er nicht
falle« (1. Kor 10,12). Die Streitlinie zwischen Fleisch und Geist verläuft
nicht zwischen Menschen, sondern sie geht durch jeden Christenmenschen
hindurch, wobei die Front sich oft im Menschen hin
und her bewegt, was sehr weh tun kann.

Gerecht und Sünder zugleich

Martin Luther hat dasselbe ausgedrückt mit der Formulierung »simul
iustus et peccator«, gerecht und Sünder zugleich. Oder »peccator
in re, iustus in spe«, Sünder in der vorfindlichen Wirklichkeit, aber
gerecht in der Hoffnung auf Jesus Christus.
Als im Jahr 1999 evangelische und katholische Kommissionen die
»Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« vorbereitet haben,
gab es ein langes heftiges Ringen um diese Formel, die für die evangelischen
Kirchen die Bedingung war, ohne die sie das Dokument nicht
unterschrieben hätten. Als schließlich die römische Glaubenskongregation
mit ihrem Vorsitzenden Kardinal Josef Ratzinger sich zu dieser
Formulierung bekannte, sagte auch Eberhard Jüngel zu der neuen
Fassung des Dokumentes ja mit der Folge, dass die evangelischen Lutheraner
bereit wurden zu unterschreiben (wobei nicht verschwiegen
werden kann, dass einstweilen ca. 250 evangelische Dozentinnen und
Dozenten der Theologie vor der Unterschrift gewarnt haben).
Warum diese Formulierung »gerecht und Sünder zugleich« als Bedingung
zur Unterschrift? Weil wir nach evangelischer Lehre bis zum
Lebensende ganze Sünder bleiben. Weil der ganze Sünder den ganzen
Zuspruch der ganzen Vergebung und Gnade Gottes braucht, um als
Christ seines Heiles gewiss zu sein und seines Lebens froh zu werden.
Steht das Leitwort »Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes
Kinder« gegen jene Sicht, die Luther mit »gerecht und Sünder zugleich
« meint? Durchaus nicht. Aber es ist ein Unterschied, ob ich
meine Gotteskindschaft sozusagen als einen Status mit mir trage, ohne
dass ich mit ihr etwas anfange, oder ob ich mich vom Geist Gottes
zu herzlichem Glauben befreien und zu einem Leben in der Nachfolge
Christi bewegen lasse. Paulus wirbt für das Zweite, das dann auch
bedeutet: bewusst Kind Gottes sein, das enorme Vorrecht verstehen,
annehmen, in ihm leben, sich vom Geist Christi wirklich bewegen
lassen.
Gibt es dann sozusagen eine aktive Gotteskindschaft, bei der der
Geist Gottes das Gotteskind »treibt«, erfüllt, aktiviert, in Spannung
versetzt, dann wieder beglückt und zu Taten der Nächstenliebe beflügelt,
und andererseits passiver Gotteskindschaft, bei der wohl Gottes
Annahme zum Kind Gottes gilt, aber nicht erkannt, nicht wahrgenommen
wird? So wie viele Gemeindeglieder sich wohl zur Kirche
zählen, aber deswegen doch keine aktiven Gemeindeglieder sind? Vergleichbar
der aktiven und passiven Mitgliedschaft in einem Fußballclub?
Würden wir dieses so feststellen, dann hätten wir sozusagen zwei
verschiedene Klassen in der Gemeinde ausgemacht und hätten den
Leib Christi damit mindestens in Gedanken segmentiert. Vor allem
aber hätten wir damit der werbenden Einladung entgegengewirkt:
Lasst euch vom Geist bestimmen! Erkennt, was es bedeutet, ein Kind
Gottes zu sein! Setzt euch der Ausstrahlung Jesu Christi wirklich aus!
Kehrt um zu dem, was ihr seid. Erwacht zu dem, wozu ihr berufen
seid. Werde, was du bist, ein freies Gotteskind, frei zum herzlich vertrauenden
Glauben, frei zur unverzagt tätigen Liebe, frei zur immer
neuen Hoffnung für dich und für alle anderen Menschen!

Wer hat Recht?

Hat nun bei jenem weihnachtlichen Familienstreit der Oberstleutnant
recht oder seine bibelkundige Frau? Keine Frage, dass die biblischen
Argumente der Frau nicht vom Tisch gewischt werden können.
Aber ebenso keine Frage, dass Jesus Christus der Bruder aller Menschen
geworden ist, für alle gelebt hat und für alle gestorben ist, um alle
hineinzunehmen in die Gottesherrschaft. Das kann nicht umsonst
sein. Aber: Was bringt es ihnen, wenn sie es nicht erkennen? Wenn sie
es nicht wahrnehmen? Wenn sie mit ihrem Bruder Jesus und ihrem
Vater im Himmel keinen Kontakt pflegen? Wenn sie seinen Geist
nicht wirken lassen. Ist nicht diese sozusagen schlafende Gotteskindschaft
im Grund ein Jammer? Und kann man sie überhaupt eine Gotteskindschaft
nennen?
Es wird wenig bringen, wenn wir uns und einander als schlafende
oder erweckte, als nur nominelle oder tatsächliche Gotteskinder klassifizieren.
So unangemessen es ist, wenn ein Pfarrer die Gemeindeglieder
in »Karteileichen« und aktive Mitglieder der Kerngemeinde klassifiziert.
Es kann sein bei solchen Klassifizierungen, dass er sich sehr
täuscht, dass er Menschen dabei schwer abstößt und verletzt, aber
auch, dass er dem Geist Gottes sehr unrecht tut. Obendrein handelt
er als Missionar töricht. Aber alles für eine herzliche, eine erweckliche
Einladung, sich dem Geist zu öffnen, sich von ihm »treiben«, bestimmen
zu lassen, seinen Impulsen zu folgen. Und vor allem: Wir selbst
können uns nie genug dem Wirken des Geistes öffnen, um uns von
ihm »treiben« zu lassen.

Wegworte zum Herunterladen: 10_1.So_n_Epiphan (pdf)