Sexagesimae

Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet,
so verstockt euere Herzen nicht.

Der Brief an die Hebräer 3, 15

Verstockung sei eine Art geistlicher Empfängnisverhütung, schreibt Wilhelm
Stählin zu diesem Wort. Gott will mit dem Samen seines Wortes
tief in unser Wesen eindringen. Wir aber verhüten. Wodurch? Es kann
sein, dass unsere Vernunft, die eigentlich vernehmen sollte, was Gottes
Stimme ihr sagt, jetzt hundert intellektuelle Zweifel auffährt. Sie sind oft
nur Mittel zum Zweck: Es soll nicht geschehen, dass Gott in unserem
Wesen etwas wirklich Neues wirkt. Wir wollen unfruchtbar bleiben,
wollen unser Wesen nicht verändern lassen, denn wir sind derzeit viel zu
sehr beschäftigt mit dem, was wir uns vorgenommen haben, was unser
Werk sein soll, was unser Eigenes ist. Oder wir geben uns der allgemeinen
Banalität hin, Brot und Spiele, ein wenig Fußball, ein wenig Zerstreuung,
Essen und Trinken, ein wenig Geselligkeit. Das soll genügen.
Verstockt und absolut unempfänglich kann ein Mensch sein, wenn
er im Bann eines politischen Heilsbringers ist. Walter Schlenker zitiert
den Reichsjugendführer Baldur von Schirach, der den Führer Adolf
Hitler andichten konnte: »Wir hörten oftmals deiner Stimme Klang
und lauschten stumm und falteten die Hände, da jedes Wort in unsere
Seelen drang… Mein Führer, du allein bist Weg und Ziel.«
Leute meiner Generation haben es erlebt, wie christliche junge
Männer über Nacht in Karl Marx oder Mao Tse-tung ihre geistigen
Führer gefunden haben und dann nicht nur für Christliches nicht
mehr ansprechbar waren, sondern auch von der Stimme der Vernunft
nicht mehr erreicht wurden. Hier geschieht Ähnliches wie das, was im
Blick auf Herodes kurz vor dessen grausamem Tod in Apostelgeschichte
12,22 berichtet wird: Sie halten seine Stimme für Gottes
Stimme, und er lässt es sich gern gefallen, legt es sogar drauf an.
Oft muss ich an einen Freund denken, der einige Jahre christlicher
Pfadfinder war, der dann über seine Mao-Verehrung zum Bewunderer
des Massenmörders Pol Pot wurde und über dessen revolutionäre Ta-
ten begeisterte Zeitungsartikel schrieb. War er, dem es sonst weder an
Verstand noch an Moral fehlte, mit Blindheit geschlagen? Und wie
hat er seine spätere Karriere als bundesdeutscher Politberater mit diesem
Teil seines Lebens zusammengebracht? Wer ideologisch gefangen
ist, der ist sozusagen örtlich betäubt.
Heute begegnen uns selten Menschen, die auf diese oder jene politische
Heilslehre schwören. Dafür umso mehr Zeitgenossen, die ganz
instrumentalisiert sind von einer Mentalität der schrankenlosen Konkurrenzwirtschaft.
Sie wissen sich in einem System, das für sie nicht
hinterfragbar ist, als sei es göttliche Setzung. Sie funktionieren in diesem
System und kennen kein anderes. Was ihnen als innerhalb dieses
Systems für das Überleben der Firma notwendig dargestellt wird, das
tun sie und haben, was das Mitmenschliche betrifft, kaum Gewissensbisse.
Ihre Firma kann sie gerade deswegen gebrauchen. Je mehr sie
innerhalb des Systems funktionieren, desto höher ist die Leistungszulage,
die sie am Jahresende erhalten. Ich schließe nicht aus, dass ein
Mann, der so im System funktioniert, ein Christ ist, der menschlich
erfreuliche Seiten hat und der manches Gute tut. Aber innerhalb des
Wirtschaftssystems, dessen funktionierender Teil er ist, ist er ganz unansprechbar,
für die Stimme Gottes örtlich betäubt.
Eine Art Verstockung kann sich aber auch bei dem Pfarrer ereignen,
der ganz regelmäßig seine Predigten und seinen Konfirmandenunterricht
hält, der auch die Schwungräder der Gemeindearbeit
durchaus tüchtig am Laufen erhält, für den aber der gemeindliche Betrieb
viel wichtiger wurde als die möglicherweise störende Stimme
Gottes. Er ist ein tüchtiger Pfarrer und Gemeindemanager, Störendes
kann er nicht brauchen. Die Stille weiß er sich schon zu vertreiben.
Er ist ein Funktionär geworden.
Verstockung kann uns alle treffen, wenn wir Impulse der Liebe, die
uns durch die Stimme Gottes gegeben werden, ständig auf Eis legen mit
dem Argument: Jetzt nicht, später! Die Folge der Verstockung: dass uns
kein Wort der Bibel mehr eigentlich etwas sagt. Es läuft an uns herunter
wie an einer Regenhaut. Es wird alles egal. Wir werden wie einer, dem eine
Krankheit den Geschmackssinn genommen hat. Es ist egal, was er isst.
Er spürt es allenfalls daran, dass sein Magen oder Darm kaputtgehen.
Verstockung bewirkt, dass wir nicht mehr wirklich beten.
Es werden uns auch die Menschen immer gleichgültiger. Wir merken
uns ihren Namen kaum mehr. Ihre Anliegen hören wir und hören
sie nicht. Menschliche Not, die wir selbst bewirken oder die wir
miterleben, rührt uns nicht. Wir verkriechen uns in eine Rolle, die
wir meinen spielen zu müssen, aus der wir angeblich nicht herausfallen
dürfen. »Das ist nicht meine Rolle«, sagen wir dem, der uns um
eine helfende Reaktion bittet. Ich gerate in eine Art Sklerose bei voll
funktionierendem Betrieb. Ich verleugne mein besseres Ich, den Menschen
in mir, werde für Verzweifelte unerreichbar. Vielleicht bin ich
auf so viel »Rollenklarheit« sogar ein wenig stolz.
Ist Verstockung Schicksal oder persönliche Schuld? In Calvins Prädestinationslehre
wird stark betont, dass Verstockung über einen Menschen
komme, wenn Gott es so über ihn beschlossen habe. Pharaos
Herz wird verstockt, weil es Gottes Ratschluss ist (2. Mose, 4,21; 10,
20; 11,10; 14,4. 8). Jesaja bekommt den schweren Auftrag: »Verstocket
das Herz dieses Volkes und lasst ihre Ohren taub sein und ihre Augen
blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren,
noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und
genesen« (Jes 6,10). Und Jesus nimmt in Matthäus 13,10–15 diese
»Verstockungstheorie« auf. Paulus schreibt in Römer 9,18: »So erbarmt
er sich nun, wessen er will, und verstockt, welchen er will.«
Im Wochenspruch zum Sonntag Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)
werden wir auf unsere eigene Verantwortung im Blick auf unsere mögliche
Verstockung angesprochen. Hebräer 3,15 nimmt Psalm 95,7. 8
auf. An beiden Stellen werden wir ermahnt: »Heute, so ihr seine
Stimme hören werdet, so verstocket euer Herz nicht.« Wir haben –
leider – die Fähigkeit, uns gegen Gottes Anruf an uns permanent zu
verschließen, was dann die Folge hat, dass wir für die Stimme Gottes
taub werden. Diese unsere Verstockung ist dann eine Art Gericht
Gottes über uns. Niemand wird verstockt, der nicht selbst sein Herz
verstockt hat.
Wir müssen aber die beiden Hälften des Satzes »Heute, wenn ihr
seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht!« so nacheinander
lesen, wie sie dastehen. Es geht um die Frage, wie wir uns
verhalten, wenn Gottes Stimme tatsächlich zu uns spricht. Dass sie
uns anspricht, das können wir nicht steuern. Es ist seine Freiheit, zu
uns zu sprechen oder nicht. In der Augsburger Konfession (CAV) heißt
es: »Denn durch das Wort und die Sakrament wie durch Instrumente
wird der Heilige Geist gegeben, der Glauben wirkt, wo und wann es
Gott gefällt, in denen, die das Evangelium hören.« Aber es kommt
nun drauf an, ob wir als solche, an denen der Geist wirkt und die im
Evangelium die Stimme Gottes hören, den Geist wirken lassen oder
ob wir ihn »betrüben« – »betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes,
mit dem ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung« (Eph 4,30) –
oder »dämpfen« – »den Geist dämpfet nicht« (1. Thess 5,19).
Was Gott durch seinen Geist an uns tut, geschieht ja nicht sozusagen
mechanisch. Wir sind keine Marionetten Gottes. Gott achtet uns
als sein Gegenüber, das sich zu ihm so oder so verhalten kann. Wir tragen
Verantwortung für unser Tun, sind keine drogengesteuerten Menschen,
die in bestimmten Zuständen nicht mehr wissen, was sie tun.
Mindestens ist das von Menschen, die von Gottes Geist angesprochen
und berührt sind, zu sagen, dass sie dazu herausgefordert sind, sich
dem Wirken des Geistes weiter zu öffnen. Das ist durchaus unsere Verantwortung.
Wir können uns da auf keine höhere Macht herausreden.
Das ehrliche und herzliche Gebet um das Wirken des Heiligen
Geistes in uns wird die beste Art sein, uns dem Geist zu öffnen, ihm
offen entgegenzukommen. Kein Kirchgang ohne dieses »stille Gebet«
für mich als den Hörer: »Herr, mein Gott, wirke heute in mir durch
deinen Geist, was du wirken willst. Ich will mich ihm ganz öffnen.
Lass es mir gelingen.« Und kein Kirchgang ohne Gebet für den Predigenden:
»Barmherziger Gott, lass die armen Worte, die wir heute hören
werden, zu Werkzeugen deines Geistes an uns werden.« Für den,
der den Gottesdienst hält und predigen wird, ist es sehr wichtig, dass
er in der Sakristei noch einmal in aller Schlichtheit um das Wirken
des Geistes bittet. Wenn einzelne Gemeindeglieder das mit ihm zusammen
tun, kann das eine Hilfe für ihn sein. Und es ist auch das
stille Kanzelgebet noch einmal für den Prediger die Gelegenheit, Gott
zu bitten, die dürftigen Worte, die der Prediger vorbereitet hat, mit
Geist und Leben zu erfüllen, etwa nach dem Vers »Und wenn in meinem
Amt ich reden soll und muss, so gib den Worten Kraft und
Nachdruck ohn Verdruss« (EG 495).
Der Prediger soll sich von der dunklen Möglichkeit, dass seine
heutige Predigt auch verstockende Wirkung haben und er damit zum
Werkzeug göttlicher Verstockung werden könnte, nicht schrecken lassen.
Ist es so, dann ist es Gottes Sache, nicht meine. Ich soll über die
Wirkung meiner Predigt auf verschiedene Leute aber nicht spekulieren.
Vollends nicht so, wie Calvin gelegentlich schreibt, er habe den
Eindruck, wenn er predige, würden 80% seiner Zuhörenden durch
seine Predigt verstockt, nur bei 20% seiner Zuhörenden würde sie
zum Heil wirken. Man darf bei solchen düsteren Feststellungen fragen:
Woher weißt du das? Wirkt der Geist nicht im Verborgenen viel
mehr Leben, als es dir in deinem kleingläubigen Sinn bewusst ist? Ist
es nicht eher deine allzu menschliche Resignation, die solche angeblichen
Feststellungen trifft? Vertrauen wir lieber, dass der barmherzige
Gott sich über unseren Gottesdienst erbarmt und unsere Verlegenheit
zu seiner Gelegenheit macht.
Das Wort »heute«, mit dem hier so betont der Wochenspruch beginnt,
soll noch besonders beachtet werden. »Unser Gott kommt und
schweigt nicht.« Er hat die verschiedensten Möglichkeiten zu uns zu
reden. Nicht nur im Gottesdienst, auch im Bibelgespräch, auch beim
stillen Bibellesen, auch im Gespräch mit Geschwistern, auch in der
Stille, wenn wir mit unseren Gedanken und Eindrücken allein sind
und Worte und Erlebtes in uns umgehen. Aber es ist immer seine
Freiheit, wann er zu uns reden will. Das Wort Gottes ist keine Nahrung,
die wir in der Tiefkühltruhe einfrieren und, wenn es uns gerade
behagt, auftauen und verzehren können. Es ist lebendiges Wort an
uns. Entweder wir hören es jetzt, ob es uns jetzt hineinpasst oder
nicht, und wir lassen es jetzt in uns wirken, oder wir hören es gar
nicht, und es wird lang nichts mehr in uns geschehen.
Maria, die Schwester Marthas, nutzte, als Jesus kam, die Gelegenheit,
ihm hingegeben zuzuhören. Sie hat, anders als Martha, »das gute
Teil erwählt« (Lk 10,42). Luther spricht vom Evangelium als dem
fahrenden Platzregen, der kommt und dann wieder ausbleibt. Zu Zachäus
sagt Jesus: »Ich muss heute in dein Haus einkehren« (Lk 19,5).
Es könnte hier in gewisser Weise Gorbatschows Wort wahr werden:
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Damit das an uns
nicht geschieht, die dringliche Ermahnung: »Heute, so ihr seine Stimme
höret, so verstockt eure Herzen nicht.«

Wegworte zum Herunterladen: 17_2.So_v.d_Passions (pdf)