Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit
Gott erweist seine Liebe zu uns darin,
dass Christus für uns gestorben ist,
als wir noch Sünder waren.
Der Brief des Paulus an die Römer 5, 8
Das lateinische Wort »reminiscere« heißt »gedenke an« und stammt
aus Psalm 25,6 f.: »Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an
deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der
Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber
meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner Güte willen!«
Der Wochenspruch aus Römer 5,8 nimmt die Erinnerung an Gottes
Güte, die von Anfang an ihn charakterisiert hat, auf. Was dieses Wort
bedeutet, hat meines Erachtens Christoph Blumhardt in Bad Boll besonders
verstanden. Darum zum Anfang einige Zitate von ihm:
»Werft die Gefangenen in die Hölle, so werden sie Steine; schimpft
über sie, so werden sie teuflisch; aber liebet sie, so werden sie Engel.«
Es gilt, die Liebe Gottes rückhaltlos jedermann zu bezeugen; nicht
nur denen, die sie bereits erkannt und angenommen haben und die
durch sie bekehrt wurden.
»Mit uns ist Gott, also mit den anderen auch – ehe sie sich bekehren; wenn du wartest, bis sie bekehrt sind,bist du ein schlechter Mensch im Reich Gottes; denn eben das ist so bezeichnend, dass Jesus für uns gestorben ist, als wir noch Gottlose
waren. Das ist die Liebe Gottes, die vorauseilt und nicht wartet. Das ist Jesus. Aber wir müssen seine Fortsetzung sein.«
Aus Blumhardts Weihnachtspredigt 1896 zum Thema »Die Nacht
ist vergangen, der Tag ist herbeigekommen« (Röm 13,12):
»Was ist der Tag? Tag wird es in deinem Herzen, wenn du die Liebe Gottes
glaubst und in der Liebe Gottes stehst. Die Liebe Gottes schmelzt alles
Schlechte, alles Gemeine, alles Verzweifelte; die Liebe Gottes
zwingt auch den Tod. Aber es muss eine Gottesliebe sein; eine Liebe,
die auch den Feind liebt. Eine Liebe, die nichts und niemand verwirft;
eine Liebe, die unentwegt durch alles hindurchschreitet wie ein
Held und sich nicht beleidigen, nicht verachten, nicht wegwerfen
lässt; eine Liebe, die mit dem Helm der Hoffnung auf dem Haupt
durch die Welt schreitet. Wir haben es bis jetzt nicht genug gewagt zu
sagen: Jesus ist geboren, und darum sind alle Kreaturen geliebt. Man
hat es nicht gewagt, weil viele aussehen, als ob sie bloß ihren Begierden
nachfolgten, als ob sie mit Lust Sünder wären; jedermann ist mit
Seufzen Sünder, ein jeder seufzt, der im Tode liegt. Und in dieses
Seufzen der Sünder und des Todes hinein schreitet kühn die Liebe
Gottes, die ausgegossen ist in unser Herz, die Liebe Gottes, die ganz
Mensch geworden ist in Jesus Christus. Jesus will als die grenzenlose
Liebe verstanden werden. In dieser Liebe will er die Flamme sein, an
der wir uns reinbrennen.«
In den Jahren 1896 bis 1900, also in den Jahren, an deren Ende er
sich politisch für die unterdrückten »Proletarier« einsetzt und Landtagsabgeordneter
der damals in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen
verpönten SPD wurde (was ihm seinen Pfarrerstitel gekostet hat), stehen
seine Hausandachten und Predigten unter dem Motto »Ihr Menschen
seid Gottes!« Das führt er so aus: »Von jeder Kanzel und in jeder
Mission sollte verkündigt werden: Ihr Menschen seid Gottes! Ob
ihr noch gottlos seid oder schon fromm, in Gericht oder Gnade, in
Seligkeit oder in Verdammnis, Gottes seid ihr, und Gott ist gut und
will euer Bestes. Ob ihr tot seid oder lebendig, ob ihr gerecht seid
oder ungerecht, ob ihr im Himmel seid oder in der Hölle, ihr seid
Gottes; und sobald ihr einmal in den Glaubensstrom hineingezogen
seid, kommt das Gute in euch heraus...Unser Glaube muss ein
Leuchten von Gott sein; in den Strom des Glaubens müssen wir die
Leute hineinziehen. Dann können die Gottlosesten gerecht werden.
Gott hat uns geliebt, so lange wir noch Gottlose waren. Wenn Gott
dich geliebt hat, da du noch ein Sünder warst, und dich in den Strom
hineinbrachte und zu sich führte, wie kannst du dann andere Menschen
verdammen? Es kann ja nur eine Frage der Zeit sein, dann
kommt auch der andere in den Glaubensstrom hinein. Wenn wir aber
Hindernisse in den Strom hineinwerfen, wenn wir christliche und
kirchliche Bedenken haben, wie kann es dann einen Strom geben, der
die Leute mitreißt?«
Christus für uns gestorben, als wir noch Sünder waren. Die gesamte
Passionsgeschichte Jesu zeigt uns, wie das vor sich ging. Nehmen wir
die Personengruppen und Einzelgestalten, die da agieren, als Reprä-
tanten der Menschheit und nicht zuletzt als Personen, mit denen
wir selbst auf der Bildfläche erscheinen, so stellt sich hier vor uns eine
Menschheit dar, die in ihren Sünden lebt. Die Hohenpriester in der
Sünde, dass sie den lebendigen Gott aus ihrem Religionsbereich aussperren.
Die Pharisäer, dass sie ohne ihn in ihrer Weise ihre »Spiritualität«
pflegen wollen. Die Schriftgelehrten offenbaren bei so viel Bibelwissen
und Scharfsinn ihre Blindheit gegenüber dem lebendigen
Gott. Das Volk zeigt, dass es »wetterwendisch« (Mt 13,21) ist. Pilatus
erweist sich als erpressbar, wo es um seine Macht geht, und als heuchlerisch,
als er in die Unschuldsgeste des Händewaschens flieht. Herodes
erweist sich als gleichgültig und frivol. Die »Kriegsknechte« – der
Ausdruck gibt zu denken – zeigen ihre Brutalität – wer hat daran
mehr Schuld, sie selbst oder die Herren, die sie zu »Kriegsknechten«
gemacht haben und sich ihrer als der »Männer fürs Grobe« bedienen?
Die Problematik von KZ-Wächter-Biographien taucht hier auf. Dass
sie sich unter dem Kreuz um seine Sachen streiten, noch ehe der Verblichene
kalt ist, das freilich tun auch feinere Leute. Man denke an
den Streit ums Erbe, den manche Familie schon vor dem Tod des
Erblassers eröffnet. Und die Jünger? Verrat, Verleugnung, Einschlafen,
wenn es ernst wird, Abtauchen, Abwesenheit. Die drei Frauen
und den Jüngsten des Jüngerkreises lassen sie unter dem Kreuz allein.
Sehen wir in jeder dieser Personen unsere eigenen Persönlichkeitsanteile,
dann illustriert uns die Passionsgeschichte, »dass Christus für
uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren«.
Er stirbt für uns. Das zeigt seine Fürbitte am Kreuz »Herr, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23,34). So sehr die verschiedenen
Akteure der Passionsgeschichte uns und die Menschheit
aller Zeiten repräsentieren, so und noch viel mehr repräsentiert Jesus
in seinem Tod Gott selbst. Jürgen Moltmann spricht mit Recht vom
»gekreuzigten Gott«. Es ist der Gott, der diese unerbauliche Menschenwelt
ohne Wenn und Aber liebt (Joh 3,16), der, obgleich er der
Stärkere ist (Mt 26,53!), sich so mit ihr einlässt, dass er durch sie umkommt.
Es ist der Gott, der diese Welt mit sich selbst versöhnt und
ihr ihre Sünden nicht nachrechnet, der vielmehr, wie die Menschheit
auf Golgatha das Kreuz seines Sohnes aufgerichtet hat, unter uns das
Wort von der Versöhnung »aufrichtet« (2. Kor 5,19), längst ehe wir
Menschen des 20. oder 21. Jahrhunderts zur Welt kamen und anfingen,
uns in dieser Welt und in uns selbst zurechtzufinden.
Es ist ganz und gar entscheidend, dass wir uns immer neu klarmachen,
dass Gott in Jesus Christus längst alles getan hat, was wir für
unser Heil brauchen. Nichts, was wir tun, ist »heilsnotwendig«. Alles,
was wir tun, kann nur den Sinn haben, das, was Gott längst für uns
getan hat, zu entdecken, zu verstehen, zu ihm ein klares Ja zu sagen
mit unserem ganzen Leben. Diese Versöhnung dann auch wirklich zu
bezeugen durch unser Verhalten. Dann mögen wir »Frieden schaffen
ohne Waffen« im Wissen, dass der Friede längst geschaffen ist. Wir
haben diese Botschaft in unsere Lebensbereiche hinein durchzubuchstabieren,
in denen die verzweifelte Menschheit ihrem gärenden Unfrieden
ausgeliefert ist.
Das Wort von der Liebe Gottes, die alles für uns getan hat, soll in
die verschlossenen Winkel unseres Wesens eindringen, in denen noch
immer Spuren – mehr als Spuren! – der Religion hocken, die unser
Gottesverhältnis verstehen und zu praktizieren versuchen als eine Art
Handel mit Gott im Sinne von: »Ich, Menschenkind, bringe dir,
Gott, gewisse Vorleistungen, was kriege ich dafür? Ich bemühe mich
fromm zu sein, wie stehst du zu mir? Ich setze mich in diesem Leben
in verschiedenen humanitären Aktivitäten ein, was habe ich davon im
Diesseits und im Jenseits?«
Gegen einen Religionsbetrieb, der unser Verhältnis zu Gott zum
Handel macht, haben Luther, Melanchthon, Brenz, Calvin und ihre
Freunde den Aufstand gewagt. Es ging hier um das Zentrum des Glaubens.
Sie haben damit bis zum heutigen Tag auch viele gläubige Katholiken
sensibilisiert. So dass die lutherischen Kirchen in Deutschland
mit den Vertretern der römisch-katholischen Kirche zusammen
am 31. Oktober 1999 in Augsburg die »Gemeinsame Erklärung zur
Rechtfertigungslehre« unterschreiben konnten. In ihr heißt es an entscheidender
Stelle: »Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnaden im
Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes,
werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen
Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten
Werken.« Mag sein, dass ein lutherischer Christ bei diesem Satz die
erste, ein Katholik die zweite Hälfte unterstreicht. Und denen, die kritisch
nach den praktischen Folgen dieses Satzes im Verhältnis der Konfessionen
zueinander fragen, können wir auch nur Recht geben. Aber
es ist ein Fortschritt, dass die Repräsentanten der römisch-katholischen
Kirche und der lutherischen Kirchen sich darin einig wurden: Es gibt
keinen »Handel« zwischen Gott und Mensch. Es gibt nur die grundlose
Barmherzigkeit Gottes, auf die wir von Herzen vertrauen dürfen.
Dass wir an den Gott glauben, der alles für uns getan hat, das soll
unser Verhältnis prägen zu Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen.
Wir werden beim Gräbenziehen und Frontenaufrichten zwischen
Christen und Atheisten nicht mitmachen. Wir werden in
Atheisten immer Menschen sehen, die Gott liebt. Jesus Christus ringt
um sie. Wir werden auch ohne Bedenken dazu stehen, dass der
Atheist auch in uns lebt, dass die Line zwischen Christ und Atheist
mitten durch jeden von uns selbst hindurchgeht.
Selbstverständlich werden wir jeden Atheisten zum Glauben an Jesus
Christus einladen. Wir werden ihm deutlich machen, dass es dem
Geist Gottes, der uns zu Christen gemacht hat, ein Leichtes ist, auch
sie zum Glauben an Jesus Christus zu befreien. Wir werden auch bei
allem Respekt den Atheismus des anderen nicht so bierernst nehmen,
wie er ihn vielleicht ernst genommen haben wollte. Er fixiert sich in
seinem Atheismus, macht aus ihm womöglich eine Ideologie. Würden
wir die Front gegen ihn befestigen, so würden wir ihn sehr wahrscheinlich
in seinem Atheismus bestärken. Das tun wir durchaus
nicht. Wir bleiben dabei, dass Gott für ihn ist.
In den Sechzigerjahren, auf einem ersten Höhepunkt des »Kalten
Krieges« zwischen Ost und West, sagte der Abgeordnete Gustav Heinemann
im Bundestag das Wort, das besonders christliche Politiker
zur Empörung reizte. Er sagte, Jesus Christus sei nicht gegen, sondern
für die Atheisten in Moskau gestorben. Damit hat Heinemann nichts
anderes gesagt, als was Paulus in Römer 5,8 sagt. Ich wunderte mich
damals als Bonner Theologiestudent, wie empört gute Christen über
diesen Ausspruch waren.
Wegworte zum Herunterladen: 20_Reminiszere (pdf)