Okuli / 3. Sonntag der Passionszeit

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück,
der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.

Das Evangelium nach Lukas 9, 62

Pflügen – vollends ohne Motorpflug – ist eine schwere Arbeit. In meiner
Kindheit habe ich manchem Bauern beim Pflügen zugesehen. Er
stemmt sich auf den Pflug, damit er ins Erdreich eindringt. Dumm,
wenn er immer wieder auf große Steine oder Baumwurzeln stößt. Er
muss das Zugvieh – bei Laune halten und so leiten, dass es jeweils an
dem Punkt ankommt, den er ins Auge gefasst hat. – Einen Ochsen
gab es in meinem Heimatdorf nicht, auch fast keine Pferde, TBC-geschädigte
Kühe zogen den Pflug. Sieht der Bauer nach links und
rechts oder gar nach hinten, so macht er krumme Furchen. Das Ergebnis
wäre ein aufgewühltes Schlachtfeld statt eines ordentlich gefurchten
Ackers, in den man säen kann.
Das Wort aus Lukas 9,62 steht im Zusammenhang mit zwei anderen
Auskünften Jesu, die uns schroff erscheinen: Ein Mensch will Jesus
nachfolgen. Aber Jesus sagt zu ihm (Lk 9,58): »Die Füchse haben
Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der
Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege!« Das heißt, du
wirst heimatlos wie Kain. Auch zwischenmenschlich. Auch geistig.
Willst du dir das antun?
Zu einem anderen, dem gerade der Vater gestorben ist, sagt Jesus:
»Folge mir nach!« Der Mann will. Aber er will zuerst seinen Vater begraben,
wie das seine Pflicht ist. Und eigentlich hätte Jesus nicht lang
auf ihn warten müssen. Noch heute ist es in Israel so, wie meine
Tochter Eva es im Altenheim in Haifa erlebt hat: Der Mann, der
beim Frühstück gestorben ist, wird nach dem Mittagessen begraben.
Was antwortet Jesus auf diesen selbstverständlichen Wunsch? »Lass die
Toten ihre Toten begraben, geh du aber hin und verkündige das Reich
Gottes!« (Lk 9,60). Er stößt mit diesem Wort hart an die Grenze dessen,
was wir verstehen. Offenbar meint er, den verstorbenen Vater
könnten andere begraben, die nichts Wichtigeres zu tun hätten. Du
speziell sollst jetzt nicht deinen Hut vor dem Tod lüpfen. Du sollst
den Sieg des Lebens bekannt machen. Erfülle diese Aufgabe sofort!
Ein wenig erinnert mich dieses Drängen Jesu an meine fixe Mutter.
Wenn ich als Junge etwas tun sollte und ein lang gezogenes »Gleich«
rief, dann kam prompt die Antwort: »Nicht gleich, sondern sofort!«
Und dann der Dritte, der von selbst den Entschluss fasst, Jesus
nachzufolgen. Aber er will in aller Form vorher Abschied nehmen von
denen, die in seinem Hause sind. Und Jesus? »Wer die Hand an den
Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes«
(Lk 9,62). Hätte das Abschiednehmen jenen zur Nachfolge Bereiten
noch wankelmütig gemacht? Wenn die Freunde ihm gesagt hätten,
was er ihnen bedeute? Wenn sie miteinander zurückgeblickt hätten
auf gute und auf schwere Tage, die sie miteinander durchgestanden
haben? Abschiede haben ihre eigene Poesie der Wehmut, so dass nach
einem solchen Abschied mancher wie benommen ist, weil sein Herz
sich noch nicht gelöst hat.

Heißt dieser Wochenspruch, dass wir in unserem Leben keine Erinnerungskultur
pflegen, kein Fotoalbum anlegen, kein Jubiläum
feiern, keine Memoiren schreiben sollen? Heinrich Böll sagt einmal,
Pilatus sei der Schutzheilige all derer, die ihre Memoiren schreiben.
Die Beobachtung trifft nicht nur Politiker. Auch die Autobiographien
von bedeutenden Kirchenmännern machen oft den Eindruck, als
wollten sie ein für allemal klarstellen, dass sie alles zuletzt so recht gemacht
haben. Aber ist es nicht eine Chance, aus dem, was wir erlebt
haben, zu lernen und anderen die Gelegenheit zu geben, aus unserem
Lernen zu lernen?
Und soll es im deutschen Volk keine Erinnerungskultur geben?
Soll nicht gerade die Kirche hier einen besonderen Auftrag haben –
am 9. November, am Volkstrauertag und am 3. Oktober? Ist ein Volk,
das seine Vergangenheit vergisst, nicht in der Gefahr, sie wiederholen
zu müssen? Liegt nicht im Erinnern das Geheimnis der Erlösung?
Und überhaupt, stimmt das Wort nicht: Nur wer um seine Herkunft
weiß, gewinnt seine Zukunft? Geschichtslosigkeit ist doch oft eine
Form von Leichtsinn und Dummheit.
Und sollen wir uns nicht in das Leben von Christenmenschen vertiefen,
die den Glauben an Jesus Christus unter großen Schwierigkeiten
bewährt haben? Sollen wir nicht ergründen, wo die Quellen ihrer
Kraft lagen und wie sie klug wurden, die Geister zu unterscheiden?
Schließlich: Ist nicht unser ganzes Bibellesen ein Blick zurück in
die Geschichte Gottes mit seinem Volk, auf die Geschichte Jesu mit
seinen Jüngern, auf die Apostelgeschichte und das, was die Apostel
den Gemeinden geschrieben haben?
Das Wort »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der
ist nicht geschickt zum Reich Gottes« will uns nicht abhalten vom
Rückblick auf die Geschichte Gottes mit seinem Volk und mit einzelnen
Menschen. Jesus selbst hat in diesem ständigen Rückblick gelebt.
Aber wir sollen uns nicht fixieren lassen durch das, was war. Wenn wir
etwa aus den Biographien von Personen lernen, wie wir unseren Weg
gehen können, dann doch nicht so, dass wir ihren Weg nachahmen
sollten. Tun wir das, dann sind wir nicht geschickt zur Gottesherrschaft.
Gott arbeitet nicht mit Imitationen, sondern mit Originalen.
Martin Buber berichtet in seinen Chassidischen Geschichten von Susja
von Hannipol, der gesagt hat: »Am Jüngsten Tag werde ich nicht
gefragt: Susja, warum bist du nicht Mose gewesen? Warum bist du
nicht Elia gewesen? Ich werde gefragt: Susja, warum bist du nicht
Susja gewesen?« Gott hat mit jedem von uns seine unverwechselbare
Geschichte. Wir sollen uns nicht gegen sie sperren, weil wir gern die
Geschichte eines anderen wiederholen wollen.
Oder: Es gibt eine Ausrichtung an einem Gemeindemodell, wie es
etwa in der Apostelgeschichte beschrieben wird, das uns daran hindert,
im 21. Jahrhundert auftragsgemäß so christliche Gemeinde zu sein,
dass wir »Salz der Erde« sein können. Gottes Geist führt uns voran
und konserviert uns nicht als ein Modell. Wenn wir uns auf ein vergangenes
Modell fixieren, dann werden wir eine museale Existenz
führen wie etwa die Hutterer in Nordamerika. Wir werden in unserer
exotischen Art vielleicht manchem Menschen imponieren, werden
aber nicht wirklich einwirken können auf die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Das gilt auch für unsere Vision vom Europa der Zukunft. Mancher
Vertreter des christlichen Abendlandes hat ein Wunschbild von
Europa, das dem der Schrift von Novalis »Die Christenheit oder
Europa« entspricht. Es verklärt eine mittelalterliche, von einer ungeteilten
Kirche geprägte Gesellschaft. Das neue Europa hat verschiedene
geistige Quellen. Erst wenn wir das anerkennen, können wir daran
erinnern, dass ein Europa, das sich seiner Wurzeln schämt und sie
ängstlich verschweigt, trotz allen Absingens von »Freude, schöner
Götterfunken« auch künftig nur ein seelenloses Wirtschaftsgebilde
bleiben wird, das den Völkern nichts zu sagen hat.
In unserer Landeskirche sehen wir gern auf die Jahre 1552 bis
1568 zurück, in denen Herzog Christoph zusammen mit Johannes
Brenz das Herzogtum Württemberg zu einem Musterstaat und europäischen
Modell gestaltet hat. Damals war Württemberg dabei, ein
Musterländle zu werden. Wir sehen an diesen Jahren, was eine gute
Zusammenarbeit zwischen einer vom Evangelium geweckten Kirche
und einem Land, das sich raten lässt, bringen kann. Es hat aber keinen
Sinn, wenn wir an diesem Modell für unser Gegenüber zum
Land Baden-Württemberg Maß nehmen. Und wir dürfen nicht grollen,
wenn unser Staat uns nicht die Rolle überlässt, die Herzog Christoph
einst Johannes Brenz überlassen hat. Wer vergangenen Vorrechten
nachtrauert, ist nicht geschickt zum Reich Gottes.
Oder: Mancher von uns denkt gern an die Zeit zurück, in der er
Jugendarbeit gemacht hat. Und je weiter sie zurückliegt, desto lieber
verklären wir sie. Goldne Abendsonne, wie bist du so schön! Es bringt
aber denen, die heute einen Weg für die Jugendarbeit suchen, gar
nichts, wenn sie bei uns die Erwartung spüren, sie sollten es machen
wie wir.
Oder: Ein Ruheständler – das soll es bei Pfarrern i. R. oft geben –
erlebt mit wachsendem Befremden den Weg der Gemeinde, zu der er
nun gehört. Und er empfiehlt denen, die jetzt die Verantwortung tragen,
es so zu machen, wie er es gemacht habe. Seine Sätze beginnen
jeweils mit »Zu meiner Zeit …« So ist er aber nicht geschickt zur
Gottesherrschaft, die dafür sorgt, dass wir »nicht zweimal in den gleichen
Fluss« steigen. Gott will Neues schaffen. Und er braucht Leute,
die in einer gewissen Neugier darauf in die Zukunft gehen.
Nicht umsonst wurde Hermann Hesses Gedicht »Stufen« so populär.
Es steckt etwas von der Hoffnung auf das Reich Gottes drin in
diesem »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« und »Des Lebens
Ruf an uns wird niemals enden...Wohlan denn, Herz, nimm Abschied
und gesunde!«
Okuli heißt der Sonntag, zu deutsch »Augen«. Das erinnert an
Psalm 25,16: »Meine Augen sehen stets auf den Herrn; denn er wird
meinen Fuß aus dem Netze ziehen.« Dieses Netz könnte auch unsere
Verhaftung in die Vergangenheit sein, aus dem Gott unsere Füße befreien
will.

Wegworte zum Herunterladen: 21_Okuli (pdf)