Lätare / 4. Sonntag der Passionszeit

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt,
bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Das Evangelium nach Johannes 12, 24

In der Antike dachte man sich den Vorgang von Saat und Frucht so:
Das Korn stirbt in der Erde. Aus seinem Sterben heraus wächst der
Halm, der neue Frucht bringt: Stirb und Werde, Leben aus dem Tod.
Wenn Jesus in Johannes 12,24 seinen eigenen Tod und das neue
Leben, das durch ihn entsteht, im Bild dieses Naturvorgangs anschaulich
macht, dann sollten wir allerdings einen ganz entscheidenden
Unterschied zwischen einem allgemeinnatürlichen »Stirb und Werde«
im Sinne Goethes und dem Weg Jesu durch die Passion sehen: Jesus
stirbt nicht kraft einer naturhaften Zwangsmäßigkeit, sondern er
stirbt freiwillig. Er gibt sein Leben in den Tod. Besonders im Johannes-
Evangelium, aber auch bei Matthäus, Markus und Lukas, wird
deutlich, dass Jesus diesen Weg in eigener Entscheidung geht. Zwar
als den Weg, den Gott ihm bestimmt hat, aber er geht ihn nicht gezwungenermaßen.
Er folgt ihm aus eigenem Entschluss.
Eine Zeichnung Rembrandts, die Jesus bei der Gefangennahme
zeigt, sehe ich vor mir, wenn ich im Johannes-Evangelium die Geschichte
von der Passion Jesu lese: Der Jesus, der gefangen genommen
wird, ist etwa doppelt so groß wie die Leute des Verhaftungskommandos,
die ihn gefangen nehmen. Im Gegenüber zu ihm wirken sie wie
Pygmäen. Er ist und bleibt der Herr der Szene. So bleibt Jesus, auch
wenn er Objekt und Opfer wird, der Herr seiner Passion. Er gibt sein
Leben in den Tod, indem er es ohne Wenn und Aber einsetzt für die
verlorene Menschheit.
Petrus widersteht ihm heftig. »Herr, das verhüte Gott! Das widerfahre
dir nur ja nicht!« (Mt 16,22). Aber Jesus fährt ihn ungewöhnlich
hart an – als habe Petrus etwas ausgesprochen, das für ihn, Jesus,
eine enorme Versuchung sei. »Verschwinde, Satan! Du bist mir ein
Ärgernis; du denkst nicht, was göttlich, sondern, was menschlich ist«
(Mt 16,23). Was Petrus hier äußert, ist »menschlich«, ist unser aller
Empfinden. Aber Jesus weiß, dass er zum Werkzeug der Versöhnung
der Menschheit mit Gott nur werden kann, indem er sich völlig für
sie einsetzt und ganz auf sich nimmt, was die Menschheit Gott, der
die Liebe ist, und zugleich sich selbst täglich antut.
Fruchtbar an anderen Menschen wird sein hingebungsvolles Leben
nur, wenn er es in den Tod gibt. »Wer sein Leben lieb hat, der wird’s
verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten
zum ewigen Leben«, sagt er (Joh 12,25, ähnlich Mt 10,39; 16,25;
Mk 8,35) in unmittelbarem Zusammenhang zu dem Wort vom Weizenkorn,
das in der Erde stirbt. Walter Jens gibt uns eine gute Verstehenshilfe,
indem er diese Worte so überträgt:

Ein Weizenkorn, das in der Erde nicht zugrunde geht,
bringt keine Frucht und bleibt nutzlos:
ein Körnchen, für sich allein.
Nur wenn es stirbt,
macht es die Erde reich und bringt Frucht.
Wer sein Leben liebt,
über alles,
und nur an sich selbst denkt,
der geht zu Grunde und stirbt ab.
Wer aber in dieser Welt sein Leben für nichtswürdig hält,
weil es nur sein Leben ist,
und es hingibt, damit es Frucht bringe unter den Menschen,
der wird es wiedergewinnen,
unter den Himmeln,
und wird in Ewigkeit leben.

In dieser entschlossenen Hingabe kann ein Mensch nur glauben und
leben, wenn er mit dem Gott rechnet, der uns im Tod nicht vergisst,
der uns aus dem Tod herausholt, der aus dem Nichts Leben schafft.
»Wenn er spricht, so geschieht’s, wenn er gebietet, so steht’s da«
(Ps 33,9); »Gott (…), der da lebendig macht die Toten und ruft dem, was
nicht ist, dass es sei« (Röm 4,17). Wenn er an den Gott glaubt, der
das Totenfeld lebendig macht (Hes 37).
Das ist Jesu Weg nach dem Christus-Hymnus in Philipper 2,5–11:
Selbstentäußerung, Knechtsgestalt, Weg ganz »nach unten«, Gehorsam
bis zum Tod am Kreuz. Aber Gott hat ihn erhöht, hat ihm den
Namen gegeben, der über allen Namen ist, mit der Folge, dass die
ganze Menschheit samt den Engeln im Himmel und samt denen, die
»unter der Erde« sind, ihn anbeten und bekennen werden, dass er der
Herr ist.
Und so ist sein Weg auch im Lied vom leidenden Gottesknecht Jesaja
53 vorgezeichnet: durch Schändung, Qual, Verachtung, Unverständnis
der Menschen, durch harte Seelenarbeit, durch einen Tod,
der an den Tod eines Lammes auf der Schlachtbank erinnert, zur Fülle
eines wirksamen, ungemein fruchtbaren Lebens: »… er wird Nachkommen
haben und in die Länge leben … er wird das Licht schauen
und die Fülle haben.« Er wird »den Vielen Gerechtigkeit schaffen
(…). Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die
Starken zum Raube haben, dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben
hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünden der
vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten« (Jes 53,12). Auch
hier: Durch ein Leben und Leiden, das total fruchtlos erscheint, zu einem
Leben, das vielfältig Frucht bringt: Viele, viele Menschen werden
sich selbst zu ihm bekennen und werden sich seiner Sache, sozusagen
mit Haut und Haaren, zur Verfügung stellen. Er wird Vielen
Gerechtigkeit schaffen. Sogar ausgesprochen starke Menschen wird er
gewinnen. Alles, was hier gesagt wird, hat sich in Jesu Geschick erfüllt
und erfüllt sich täglich an ihm.
Und was an Jesus geschieht, das bleibt nicht auf ihn beschränkt. Er
nimmt andere Menschen mit auf seinen Passionsweg. Sie geraten
durch ihn in Mitleidenschaft, in Seelenarbeit, Konflikt und Leid. Sie
nehmen, wie er selbst, viel Kopfschütteln, Entfremdung, Einsamkeit
auf sich. Es sieht so aus, als würden sie in ihrer Jesusnachfolge sich selbst
isolieren. Aber er nimmt sie mit in die große Gemeinschaft der versöhnten
und erlösten Menschen diesseits und jenseits der Todeslinie.
Nicht der Christus-Nachfolger, der sich ganz für andere Menschen
einsetzt und dabei auf mancherlei in seinem Leben verzichtet, vereinsamt.
Vielmehr der Mensch, der sich selbst immer mehr zum Mittelpunkt
wird, der in seinen Gefühlen und Gedanken ständig um sich
selbst und seine Selbstverwirklichung kreist und der es gern hätte,
dass andere ständig um ihn kreisen, er vereinsamt. Das Korn, das sich
nicht in den Boden hineinsäen lässt, das nicht »sterben« will, »bleibt
allein«. Es kümmert vereinsamt und fruchtlos vor sich hin, bis ein
Spatz sich seiner erbarmt.
Augustinus hat diese Lebenshaltung und das mit ihr verbundene
Geschick in folgendem Bild ausgedrückt: »Die Traube, welche die
Kelter der Leiden scheut, wird von den Spatzen gefressen.« Er will sagen:
Wer sein Leben nicht einsetzt in der Nachfolge Christi für andere,
der kann nicht mit anderen zusammen ein kostbarer Wein werden.
Aus dessen Leben wird »Spatzenfutter«.
Wenn bei Jesus von Frucht und Fülle die Rede ist, dann soll auch
die Fülle des Lebens erwähnt werden, die er uns schon im Diesseits
schenkt. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in seinem Lied »Wir wolln
uns gerne wagen« schreibt:
Wir sind nicht einsam blieben,
wir wolln uns üben
mit größern Gnadentrieben
als eins allein.
Wir sind am Stamm geblieben
der Kreuzgemein.
Drum gilt’s gemeinsam lieben,
sich mit betrüben,
und unsre Lasten schieben,
die Christi sein.
(EG 254)
An den Herrnhuter Missionaren hat Zinzendorf erfahren, dass aus der
Tränensaat der Nachfolger Christi eine neue Frucht wird. Diese Missionare
haben sich auf der Sklaveninsel St. Thomas im Karibischen
Meer ganz zu den Ärmsten und Entrechteten herunterbegeben. Einige
ließen sich als Sklaven verkaufen und an Wagen anketten, die sie
ziehen mussten. Sie erfuhren dabei, dass Menschen, die geschändet
werden, durch Brüder und Schwestern, die ihr Los teilen, etwas von
der »herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« entdecken. Obgleich sie
geschundene Kreaturen sind, werden sie sich ihrer Würde bewusst.
Sie werden frei von Furcht- und Minderwertigkeitskomplexen, die
man ihnen gnadenlos ins Wachs ihres Charakters gedrückt hat. Es erfüllt
sich an ihnen, was geheimnisvoll im Psalm 126 so beschrieben wird:

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden...
Die mit Tränen säen,
werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben.

Um an den Zusammenhang zwischen einem Sterben in der Nachfolge
Jesu mit der Frucht, die dabei herauskommt, zu erinnern, nannte
Zinzendorf die Gräber der Herrnhuter »Beete«. So heißen sie in der
Herrnhuter Brüdergemeine, nicht nur in Herrnhut, sondern auch in
Bad Boll, Königsfeld im Schwarzwald und an vielen Orten rund um
den Globus, auch heute noch.
In Martin Luther Kings Gedankenwelt und Erfahrung finden wir
Ähnliches: Durch gewaltloses Leiden von Menschen, die sich entschieden
einsetzen für das Recht der Ärmsten – das können die Müllarbeiter
von Memphis ebenso sein wie die von Napalmbomben verbrannten
Kinder in Vietnam – geschieht eine erlösende Wirkung.
Menschen, die weggesehen haben, sehen hin, lassen sich vom Leid der
Geschändeten erschüttern. Das Gute in ihnen, das Gefühl für die
Würde des Menschen, das verdrängt und verschüttet war, kommt
zum Vorschein, setzt sich durch gegen die Schuttschicht, unter der es
begraben war. Sie werden durch das gewaltlose Leiden anderer »neu
geboren«. Beobachter nannten das gelegentlich Martin Luther Kings
psychosoziale Theologie des Kreuzes. Er selbst und die Wirkung seines
Todes auf ungezählte Menschen meiner Generation – nicht umsonst
hängt sein Bild in meinem Studierzimmer neben den Bildern
Christoph Blumhardts, Paul Schneiders und Dietrich Bonhoeffers –
zeigen etwas von dem Weizenkorn, das, wenn es im Boden erstirbt,
Frucht bringt. Der Moskauer Dichter Jewgeny Jewtuschenko schrieb
nach Kings Ermordung folgenden Vers:

Er war ein Neger, aber weiß wie Schnee
und rein war seine Seele.
Er wurde getötet von Weißen
mit schwarzen Seelen.

Als ich’s erfuhr,
traf mich die gleiche Kugel.
Ihn tötete die Kugel,
doch mich gebar sie neu,
gebar mich als einen Neger.
Martin Luther King wusste sich in der Auffassung, dass gewaltloses
Leiden zur Geburt eines neuen Rechtsbewusstseins und zu einer Art
Erlösung der Menschenwürde führt, einig mit Mahatma Gandhi. Beide
haben vielfach eingewirkt auf die Friedensbewegung der Siebzigerund
Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Ihre Gedanken wurden seither
von vielen vergessen. Viele wurden ihrer müde – auch des Anspruchs,
der mit ihnen verbunden ist. Einstweilen wächst an allen
Ecken und Enden dieser Erde die Gewalttätigkeit. Immer deutlicher
wird, dass wir der Gewalt nicht durch Gewalt beikommen. In dieser
sich zuspitzenden Situation hege ich die Hoffnung, dass wenigstens
von Einzelnen die Botschaft von dem Weizenkorn, das im Boden viel
Frucht bringt, neu entdeckt wird. Vielleicht in einer entideologisierten,
gereiften Gestalt.
In einer Kirche, in der das nervöse Gieren nach Erfolg und Effektivität
das spannkräftige Warten auf Frucht verdrängt, die sich auf allerlei
Abwege begibt, um sich Erfolge zu schaffen und diese vorzuführen,
wird, wenn Gottes Geist sich über unsere hektische Dürftigkeit
erbarmt, neu die Hoffnung grünen auf die Frucht, die unter Schnee
und Eis wächst und die, wenn das Eis taut, wachsen und reifen wird.
Und in einer Welt, in welcher ein Selbstmordattentäter, Mörder und
Selbstmörder, Gegenbild des sich hingebenden Christus, »Märtyrer«
genannt wird, werden wenigstens Einzelne – so hoffe ich – im Nachdenken
über den gekreuzigten und auferweckten Christus die wahre
Passion der Liebe entdecken. Aus ihr lebt alles Lebendige, durch sie
wird erdrücktes Leben von Schutt und Eis befreit und in ihrer Kraft
allein wird unser Leben fruchtbar.

Wegworte zum Herunterladen: 22_Laetare (pdf)