Judica / 5. Sonntag der Passionszeit

Der Menschensohn ist nicht gekommen,
dass er sich dienen lasse, sondern dass er
diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.

Das Evangelium nach Matthäus 20, 28

Die Geschichte, an dessen Ende dieses Wort steht (Mt 20,20–28),
zeigt uns, wie allzumenschlich es unter den Jüngern in der unmittelbaren
Umgebung Jesu zuging. Man versteht, dass er – bei anderer Gelegenheit
– sagen konnte: »Wie lang soll ich noch bei euch sein? Wie
lang soll ich euch noch aushalten?« (Mt 17,17).
Die Mutter der Kinder des Zebedäus – so umständlich kann man
sich nur in einer patriarchalischen Gesellschaft ausdrücken, in der die
Frau über ihren Mann und ihre Söhne definiert wird – fällt vor Jesus
nieder wie vor einem König, der Audienz hält, und trägt ihm ihren
Herzenswunsch vor. Es geht ihr um ihre Söhne, ihre beiden Prachtsbuben,
um deren künftige Stellung. Sie rechnet damit, dass Jesus
demnächst seine Herrschaft aufrichten wird, der Davidssohn, der
künftige König. Ein König braucht Minister. Auch unter den Ministern
gibt es Hierarchien. Die wichtigsten, sagen wir: der Kanzler und
der Außenminister, sitzen bei großen Anlässen rechts und links vom
König. Wäre das nicht der gegebene Ort für ihre Söhne? Wahrscheinlich
hat sie mit deren Begabung, ihrer Gescheitheit, Tatkraft, ihren
rhetorischen Fähigkeiten, ihrem Fleiß, ihrer Treue und Zuverlässigkeit
argumentiert.
Jesus versteht diese Frau, die immer für ihre Söhne gelebt hat und
die nun noch etwas tun will für deren Karriere. Aber lächelnd sagt er:
»Ihr wisst nicht, um was ihr bittet, könnt ihr den Kelch trinken, den
ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich
getauft werde?« Er meint die Bluttaufe, auf die er zugeht. Die beiden,
die auch dabeistehen, antworten forsch – als hätten sie vorher ein Bewerber-
Coaching der Personalabteilung absolviert, nur ja zu seiner
Kompetenz stehen! »Ja, das können wir!« Der Leser fragt sich unwillkürlich:
So viel Ahnungslosigkeit in der unmittelbaren Umgebung
Jesu kurz bevor dessen Passion in die heiße Phase kommt? Offenbar.
Wie mag Jesus dieses »Ja, das können wir« empfunden haben?
Dann sagt er: »Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken, aber das Sitzen
zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu, sondern
denen es bereitet ist von meinem Vater.« Ich verstehe diese Auskunft
so: Mit euren Karrierewünschen seid ihr bei mir am falschen. Damit
kann ich nicht dienen.
Die hoch vertrauliche Unterredung blieb im Jüngerkreis nicht
ganz geheim. Die anderen fühlen sich hintergangen. Ärger kommt
auf. Es ist Zeit, dass Jesus ein klärendes Wort spricht: »Ihr wisst, die
Fürsten halten ihre Völker nieder, und die Mächtigen tun ihnen Gewalt.
So soll es nicht sein unter euch!« Mit diesem »So unter euch
nicht!« trennt Jesus die Jüngergemeinschaft ganz entschieden von anderen
Gemeinschaften. Haben wir Kirchenleute dieses »So soll es unter
euch nicht sein!« in seiner Tragweite verstanden? Oder ist unsere
Art »Kirche zu machen« gerade dadurch charakterisiert, dass wir dieses
»So nicht!« leichthändig wegwischen, um zu argumentieren: »In
der Wirtschaft …, so macht man das heute?« Es wird dann aus dem
Kreis der zusammenarbeitenden Geschwister eine Art Aufsichtsrat. Es
wird dann nicht mehr geleitet, sondern gesteuert. Und wer eine höhere
Position erreicht hat, nimmt unwillkürlich das Gehabe des Generalmanagers
oder gar des Gouverneurs an. Es gibt aber – und es wird
sie immer geben – Gemeindeglieder, die sich von alledem nicht beeindrucken
lassen, weil sie dieses »So soll es nicht sein unter euch!«
noch im Ohr haben.
Wie dann? »Wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener;
und wer der Erste sein will unter euch, der sei euer Knecht.« Geht
das? Funktioniert so ein großer Betrieb wie die Kirche? Hat nicht eine
klare Hierarchie, in der die Leute wissen, wo sie dran sind, viel für
sich? Es kann sich ja einer »nach oben« dienen, wenn er tüchtig und
anpassungsfähig ist! Gewiss. Aber »So soll es nicht sein unter euch.« Je
höher die Position, desto entschiedener dienen. Der Erste soll der
letzte Knecht sein.
Nun haben freilich Herrscher zu allen Zeiten, die um die Auseinandersetzung
mit diesem sperrigen Jesus-Wort nicht einfach herumkamen,
um sich die Aura verbreitet, sie seien »der erste Diener des
Staates«. Friedrich der Große schreibt in seinen »Memoires de Brandenbourg«
mehrfach »Un prince est le premier serviteur et le premier
magistrat de l’etat« – ein Prinz ist der erste Diener und der erste Beamte
des Staates. Und es mag sein, dass er in seiner Weise durchaus
versucht hat, diesem seinem Selbstverständnis zu entsprechen.
Die Art, in der Jesus dieses Dienen lebt, ist aber völlig anders. »Der
Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern
dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.« Die
Herrscher dieser Welt, auch wenn sie sich als »erste Diener des Staates
« verstehen, setzen ihre Leute für ihre Machtinteressen ein. Es ist
bekannt, mit welch zynischen Worten der alte Fritz seine Soldaten in
die Schlacht geschickt hat. Jesus dagegen setzt sich selbst für das Wohl
und das Heil der Seinen ein. Die Herrscher dieser Welt, auch religiöse,
lassen Menschen vor ihnen knien. Jesus kniet vor seinen Jüngern und
wäscht ihnen die Füße.
Mir kommt dazu auch Papst Benedikt XVI. in den Sinn. Wie soll
ich die Bilder aus Bayern, die Bilder der großen Papstauftritte mit
dem irdischen Jesus zusammenbringen? Der Mann, der sich trotz der
klaren Anweisung Jesu in Matthäus 23,9 »Heiliger Vater« nennt, der
sich den Titel Stellvertreter Jesu gefallen lässt, in seinem Aufzug so
anders als der, den er – ist Jesus abwesend? – glaubt vertreten zu müssen?
Ich zweifle nicht daran, dass Benedikt XVI. seiner Arbeitsleistung
und seinem Eifer nach »der erste Diener der römisch-katholischen
Kirche« ist. Dass er darüber hinaus gern der erste Diener der
Weltchristenheit und sogar der Menschheit sein wollte, ich verneige
mich vor seinem guten Willen und seinem Einsatz. Ich halte es auch
für möglich, dass ihm selbst das päpstliche Gepränge nicht viel bedeutet.
Warum aber lässt er dies alles mit sich veranstalten? Warum
tritt er auf, wie niemals ein Staatsmann auftreten würde? Kann er in
diesem Aufzug Zeuge dessen sein, der zu den Jüngern gesagt hat: »So
soll es nicht sein unter euch?« Meine katholischen Geschwister mögen
zu verstehen versuchen, dass ich als Protestant, der von der Bibel
her über das Erlebte nachdenkt, diesen Widerspruch nicht so leicht
vergessen kann. Am meisten wundert es mich, dass ich bis jetzt, wenn
ich etwa den Personenkult, der um den Papst wie um keinen anderen
»Herrscher« dieser Welt getrieben wird, in führenden Kreisen der ka-
tholischen Kirche thematisiert habe, nur einhellige Abwehr bewirken
konnte. Nie habe ich bei Mitgliedern der römisch-katholischen Kirchenleitung
bei solchen Bedenken Verständnis erlebt. Es muss nach
ihrer Auffassung wohl so und nicht anders sein. Heute, im Medienzeitalter,
sowieso. Personenkult um den Papst? Man sagte mir, da die
Zeitgenossen vorbildliche Personen suchten, würde man ihnen helfen,
indem man den Papst als solchen herausstellen und zur Verehrung
freigeben würde.
Daneben und dagegen das schlichte Wort – es kommt aus einer
anderen Welt (Joh 18,36) – von dem Menschensohn, der nicht gekommen
ist, um sich wie einem König huldigen zu lassen, sondern
»dass er diene«. Der Titel Menschensohn gerade in diesem Zusammenhang.
Seit Daniel 7,10–14 ist der Menschensohn der endzeitliche
Richter, an dem und durch den sich das endzeitliche Geschick
jedes Menschen entscheidet (vgl. Mt 25,31–46). Er ist es, der »es
richten wird«, der uns zurechtbringt, nicht ohne das Gericht, in welchem
wir mit der Wahrheit über uns selbst konfrontiert werden. Er,
dem die letzte Vollmacht gegeben ist, ist gekommen zu dienen.
»… und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele«. Wir Menschen
des 21. Jahrhunderts haben es – nach so vielen Individualisierungsschüben
– schwer, zu verstehen, dass die Lebenshingabe eines
Menschen auf andere irgendeine wesentliche Wirkung haben könnte.
Das Lebensgefühl sehr vieler Zeitgenossen lässt sich auf den schlichten,
oft ebenso wehmütig wie endgültig vorgetragenen Satz Hermann
Hesses vereinfachen »Keiner kennt den andern, jeder ist allein.« Lang
vorbei ist die Zeit, in der Schiller mit seiner »Bürgschaft« Saiten zum
Schwingen brachte. Der Freund, der jede Schwierigkeit überwindet,
um den für ihn bürgenden Freund vor dem Kreuzestod zu bewahren,
um selbst an seiner Stelle zu sterben, erweckt nur Kopfschütteln. Lang
vorbei auch die Zeit, in der Fontanes Ballade verstanden wurde:

John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.

Zwar gibt es auch heute Menschen, die ihr Leben für andere einsetzen:
bei der Bergwacht, der Rettungsmannschaft nach dem Grubenunglück,
bei der Polizei, der Feuerwehr. Und, viel zu wenig bemerkt
und geachtet, Mütter, die für ihre Kinder, besonders etwa für ein behindertes
Kind, leben. Aber der spätbürgerlich verblödete Individualist,
der seiner Selbstverwirklichung lebt und seine Karriere plant,
nimmt das kaum wahr. Es sagt ihm nichts.
Doch gibt es dann und wann Schriftsteller, in deren Werk die Frage
aufblitzt, ob es außer der letzten Sterbenseinsamkeit des Menschen
noch anderes gibt. Ausgerechnet der Existentialist Albert Camus schildert
einen Maler, der sich in die Höhe seines Ateliers zurückzieht. Unter
der Decke hat er sich ein Nest gebaut, um ungestört sein definitives
Werk zu schaffen. Eines Tages bleibt das Essen, das man ihm täglich
hinstellt, unberührt. Man findet ihn da oben knapp unter der Decke
tot. Wo ist nun sein definitives Werk? Sie sehen nichts. Bis einer im
Gips der Decke ganz klein zwei Worte, nein, ein Wort findet, dessen
mittlerer Buchstabe durchgestrichen und durch einen anderen ersetzt
wurde. Das Wort »solitaire« – einsam, dessen »t« durch ein »d« ersetzt
ist; »solidaire«, gemeinsam. Einsam – gemeinsam, auf dieses Thema hat
sich für den sterbenden Künstler zuletzt alles konzentriert.
Wenn der endzeitliche Richter, der uns durch sein Richten in Ordnung
bringen wird, sein Leben zu unserer Erlösung gibt, dann eröffnet
er mit dieser über alles kostbaren Gabe die Dimension des Wortes
»solidaire«, gemeinsam! Das »solitaire« streicht er mit seinem einsamen
Tod am Kreuz ein für allemal durch.
Kann ich dieses Mysterium einem Skeptiker demonstrieren? Wohl
nicht. Ich könnte ihn einladen zum Tisch des Herrn. Wir könnten
miteinander die Worte »Das ist mein Leib, das ist mein Blut« wörtlich
nehmen. Jesus gibt uns sein Leben, damit wir eine Vitalität höherer
Ordnung, Liebesvitalität, Glaubensvitalität, Hoffnungsvitalität empfangen.
Erlösung für viele? Von vielem, was uns die Luft abstellt, will er
uns erlösen. Nicht zuletzt von jener trostlosen Vereinsamung auf vertikaler
und horizontaler Ebene. Er will die Ohren unseres Herzens erwecken,
dass wir seine Stimme hören können. Er will die Zunge unseres
Herzens lösen, damit wir zu ihm reden können, betend, singend,
stammelnd, seufzend, mit Stößen des Jubels und dann wieder in
wortloser Stille. Er will uns dazu erlösen, dass wir auf der horizontalen
Ebene wieder zusammenkommen. Mit den Nahen und den Fernen.
Mit den nahen Fernen besonders. Auch so, dass wir selbst unsere Unnahbarkeit,
die von allen uns trennt, verlieren und dass wir herzlich
zugängliche Menschen werden.

Wegworte zum Herunterladen: 23_Judika (pdf)