Palmarum / Palmsonntag

Der Menschensohn muss erhöht werden,
damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Das Evangelium nach Johannes 3, 14-15

Die Worte »erhöhen« und »erhöht werden« haben im Johannes-Evangelium
einen merkwürdig doppeldeutigen Klang. Fast hat man den
Eindruck, man habe es mit einem sprachlichen Sarkasmus zu tun.
Wenn ein Kronprinz zum König erhöht wird, dann wird er auf seinen
Thron gesetzt. Er wird unter feierlichen Worten gekrönt mit einer
kostbar funkelnden Krone. Er bekommt im Rahmen uralter Rechte
Befehlsgewalt. Mindestens war das so zur Zeit Jesu. In der konstitutionellen
Monarchie sind diese Rechte eingeschränkt. Umso pathetischer
und prunkvoller läuft die Zeremonie vor den Fernsehkameras
aus aller Welt ab. Nun huldigt ihm das Volk. Es kam, um dieses erhabene
Schauspiel zu sehen. Es bedankt sich mit großem Applaus.
Wenn Jesus erhöht wird, dann wird er vorher ans Kreuz genagelt.
Das Kreuz wird dann aufgerichtet, was dem am Kreuz Hängenden
wahnsinnige Schmerzen verursacht. Vorher wurde ihm die Dornenkrone
in den Kopf gestoßen. Der am Kreuz Hängende ist extremer
Ohnmacht ausgeliefert, bevor er vollends ohnmächtig wird. Der Festgenagelte
kann keine Fliege verscheuchen. Das Volk steht und gafft.
Nicht wenige spotten: »Steig doch herab vom Kreuz …« Die betroffen
sein müssten, haben sich fast alle rechtzeitig aus dem Staub gemacht.
»Erhöhung« bei einem Kronprinzen und »Erhöhung« bei INRI, Jesus
Nazarenus Rex Judaeorum, Jesus von Nazareth, König der Juden.
Unterschiedlicher kann es nicht sein. Lediglich die Erhöhung seines
Stellvertreters auf Erden kann bei den Erhöhungen von irdischen
Herrschern mithalten oder sie weit übertreffen.
Merkwürdig ist die Art, wie es Gott seinem wirklich von ihm Erwählten
gehen lässt in dieser Welt. Warum? Weil es ihm selbst, Gott,
in dieser Welt so geht. Weil er, der die Liebe ist, mit Dornen gekrönt,
zynisch verspottet, gekreuzigt wird, weil ihm die Macht entzogen
wird von Menschen, die selbst Herr über Leben und Tod, Herrgott,
spielen wollen. Die Erwählten Gottes müssen alle etwas davon durchleben,
in Person abbilden, wie es Gott in seiner Menschheit geht.
Was wird hier aufgerichtet, wenn der Menschensohn am Kreuz erhöht’
wird? Es wird öffentlich gemacht, wie es Gott mit seiner
Menschheit geht. Unübersehbar, dass er selbst von Instanzen, die sich
dieses Recht anmaßen, verurteilt wird; dass er, Gott, zynisch verspottet
wird. Passen wir Christen auf, dass unsere Anbetung, unser Kult, auch
unsere Passionsfrömmigkeit, nicht in die Gottesverhöhnung derer im
Keller des Pilatus abgleitet! Am gekreuzigten Christus wird abgebildet,
wie die von Gott geschaffene und erhaltene Menschheit Gott ausschließt,
ausstößt, hinauskreuzigt aus ihrer »feinen« Gesellschaft. Das
Kreuz macht deutlich, dass das Ziel unserer Selbstherrlichkeit der Gottesmord
ist. »Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!« (Lk
19,14). »Das ist der Erbe, kommt, lasst uns ihn töten!« (Mt 21,38).
Von Johann Wolfgang von Goethe wird berichtet, wie sehr er den
Anblick des Gekreuzigten gemieden hat. Nicht nur, dass er möglichst
nie zum Gottesdienst ging. Er war auch nur sehr schwer außerhalb des
Gottesdienstes in eine Kirche zu bringen. Der Kruzifixus hat ihn abgeschreckt,
dieses Sinnbild des Gottesmordes, das jedenMenschen anklagt.
Das freilich auch daran erinnert, wie viele der »geringsten Brüder
« und Schwestern Jesu in dieserWelt »gekreuzigt«werden. Auch davon
wollte der Geheime Rat und MinisterGoethe wenig wissen.Geht man
durch die sieben von ihm selbst als Museum ausstaffierten Räume des
Goethehauses in Weimar, sieht man die wohl ausgesuchten Zeichnungen
und Bilder wohlproportionierter Menschen an der Wand, so
wird einem sofort der fundamentale Gegensatz zwischen der Sphäre
von Golgatha und der des Weimarischen Olympiers bewusst.
Goethe hat in seinem Ärger über das Kreuz Christi das Kreuz und
den Gekreuzigten aber wohl besser verstanden als mancher oberflächliche
Christ, für den das Kreuz oder Kreuzchen ein Ziergegenstand,
ein Schmuckstück geworden ist. Dass der Sohn Gottes in dieser Weise
erhöht wird, das ist eine unerhörte Herausforderung der ganzen
Menschheit. Sie muss sich fragen lassen, ob sie sich dieses Sinnbild ihres
eigentlichen Wesens oder Unwesens gefallen lässt. Jeder Humanist,
für den der Mensch im Grunde schon gut ist, ärgert sich am Kreuz.
Und dass in Bayern Eltern, die der Humanistischen Union angehören,
die Entfernung des Kruzifixus aus dem Schulzimmer fordern,
weil sie diesen Anblick ihren Kindern nicht zumuten wollen, ist aus
ihrer Sicht jedenfalls folgerichtig.
Der am Kreuz erhöhte Gottessohn sagt aber noch etwas ganz Anderes.
Und das ist die Hauptbotschaft. Er ist das Sinnbild für den
Gott, der aus unerfindlichen Gründen seine Menschheit so sehr liebt,
dass er sich so tief mit ihr einlässt. Dabei kommt dann der Gottesmord
heraus. Wie viel einfacher und plausibler ist der Allah des Koran.
Er ist und bleibt der Menschheit unendlich überlegen. Er hat
seine Propheten – auch Isa, Jesus gehört dazu, freilich ohne die Geschichte
von Jesu Passion. Allah bleibt in unendlicher Distanz. Er hält
sich heraus. Er lässt sich mit den Menschen auf nichts ein, das ihn in
Verlegenheit bringen könnte. Am Ende wird er sich mit jedem Menschen
als Richter befassen, wird jedem geben, was er wert ist. Die
Botschaft vom gekreuzigten Gott zeigt aber, wie weit christliches und
muslimisches Gottesverständnis voneinander entfernt sind. In der Peripherie
ähnlich klingende Vorstellungen –; Im Zentrum totaler Dissens.
Der Gott, den Jesus seinen Vater nennt und der sich in Jesus
verkörpert, ringt um jeden Menschen unter Einsatz seines Lebens. Er
liefert sich den Menschen aus, um sie zu gewinnen. Er wird ihr Opfer,
um sie aus ihrer mörderischen Verzweiflung herauszulösen. Er erleidet
und trägt ihre Sünde, um sie zu bewältigen und sie von ihnen wegzutragen.
Hier spielt die alte Geschichte von Moses und der ehernen Schlange
mit hinein (4.Mose 21,6–9). Das Volk Israel murrt und wirft Gott
seine Erlösungstat vor: »Warum hast du uns aus Ägypten geführt,
dass wir sterben in der Wüste?« (4. Mose 21,5). Gott straft es damit,
dass er es in ein Schlangental geraten lässt. Die Schlangen könnten
hier ein Sinnbild für das Gift der Gottesfeindschaft und des Unverständnisses
für sein Heil sein. Das Volk kämpft gegen die Schlangen
um sein Leben. Ohne jede Chance. Je entsetzter die Menschen auf ihre
Todfeinde, die Schlangen, starren, desto hilfloser werden sie deren
Opfer. Um das Volk nicht einfach zugrunde gehen zu lassen, lässt
Gott den Mose eine eherne Schlange aufrichten, Sinnbild der besiegten
Schlange. In den alten Abbildungen wird die eherne Schlange
meist mit dem aufs Kreuz genagelten Kopf – »er wird dir den Kopf
zertreten« (1. Mose 3,15) – dargestellt. »Wenn nun jemanden eine
Schlange biss, sah er die eherne Schlange und blieb am Leben«
(4. Mose 21,9).
Die uralte Geschichte ist ein Symbol für unsere Chancen im
Kampf gegen das, was uns kaputtmacht. Nennen wir es Sünde, Tod
und Teufel. Wir haben keine Chance. Und je angstvoller oder kämpferisch
angestrengter wir diese vernichtenden Gewalten fixieren, desto
übermächtiger fixieren sie uns. Ihr Biss trifft ein fixiertes, ganz und
gar erstarrtes Opfer. Aber im gekreuzigten Jesus ist uns das Sinnbild
des Sieges über Sünde, Tod und Teufel gegeben. Der allmächtige Gott
nimmt den tödlichen Biss auf sich. Sehen wir unbeirrt auf dieses Zeichen
des Heils, so kann uns der Schlangenbiss und Giftstich nichts
tun. Dann beißt uns die Schlange wohl noch, was uns weh tut, aber
der Giftzahn ist ausgebrochen. Der Biss bringt uns nicht um.
Weil diese Botschaft von äußerster Gefährdung, Kampf und Sieg –
den nicht wir ausfechten – die Zentralbotschaft der Erhöhung des
Gottessohns am Kreuz ist, darum heißt unser Wochenspruch im Zusammenhang:
»Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so
muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben.«
Merkwürdig aber, dass gerade bei diesem Wort der Menschensohn-
Titel Jesu genannt wird, der doch eigentlich dem ohnmächtigen, gekreuzigten
Jesus am fernsten stehen müsste. Der Titel Menschensohn
meint den endzeitlichen Richter, von dessen letztgültigem Urteil unser
Heil und Unheil abhängt. Wenn Jesus sagt, der Menschensohn
werde wie die eherne Schlange am Kreuz erhöht, deutet er dann damit
an, wie Gott der Herr durch seinen Beauftragten Gericht übt?
Dass der Richter die Strafe selbst trägt? Dass dieser Richter den
Schuldigen nicht büßen lässt? Dass er dessen Schuld selbst bewältigt
oder am Kreuz Christi längst bewältigt hat?
Dann wird am Jüngsten Tag wohl unsere Schuld rückhaltlos herauskommen.
So rückhaltlos sie für den, der sehen kann, schon am
Kreuz Jesu herauskommt. Er wird uns von unserer bereits bewältigten
Schuld vollends befreien und reinigen, so dass wir als Gereinigte vollends
fähig werden zum Leben im Licht. Es wird, wie Christoph
Blumhardt sagt, kein Hinrichten, sondern ein Herrichten sein. Der
»Tag des Zorns« wird Luthers »lieber Jüngster Tag«, den wir letztlich
nur herbeiwünschen können.
Was aber am Kreuz Jesu geschehen ist, das hat keine sozusagen
automatische Wirkung, als seien wir Menschen wie Feilspäne, die auf
einem magnetischen Feld durch das Kreuz neu gepolt und automatisch
neu ausgerichtet würden. Wir sind und bleiben Personen im Gegenüber
zu Gott. Er achtet unser Personsein. Wir werden zu unserem
Heil nicht gezwungen. Was Gott für uns bewältigt, zielt darauf, von
uns im Glauben angenommen zu werden.
»… damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.« Das
Wort »glauben« können wir nicht personal genug fassen. Ich glaube
an den gekreuzigten und auferstandenen Christus, das heißt: Ich weiß
die Frage meines ewigen Heils, ob ich endgültig scheitere oder ob
mein Leben zum guten Ziel kommt, bei Jesus Christus in den besten
Händen. Er wird mit meinem Irren und Wirren fertig. Er bewirkt es,
dass auch meine Fehlleistungen und Irrtümer letzten Endes dazu beitragen,
dass ich »hergerichtet« werde zum ewigen Leben. Ich kann
und will vielerlei tun für manchen guten Zweck. Für mein ewiges Leben
will ich nichts tun. Ich verlasse mich darauf, dass dafür bereits alles
getan ist und dass am Jüngsten Tag dieses und nichts anderes herauskommen
wird.
Was bedeutet nun »ewiges Leben«? Es ist die Beschreibung einer
ewig gültigen und ewig dauernden Beziehung. Es meint: ein auf immer
ungetrübtes Verhältnis zu Gott. Dieses ist jetzt gestört, getrübt,
gefährdet. Aber Christus gibt mir sein ungetrübtes Gottesverhältnis.
Nichts behält er für sich allein. Gerade das Kostbarste teilt er mit uns.
Anders gesagt: In sein ungetrübtes Verhältnis zum Vater nimmt er
mich, den verlorenen Sohn, mit hinein. An der Seite Jesu kann ich
ungehindert und ungetrübt vor Gott stehen und bestehen.
Das Lebendige, das zwischen Gott und uns lebt, wird uns noch
einmal lebendig machen, wenn wir gestorben sind. Nicht irgendein
Personkern in uns, unsterbliche Seele genannt, wird die Gewalt des
Todes überstehen, sondern diese Beziehung. Gott will in alle Ewigkeit
»etwas mit uns haben«. Damit er etwas mit uns haben kann, ruft er
uns zu sich, ruft er uns aus dem Tod ins Leben.
Warum das Wort von der Erhöhung Jesu am Palmsonntag? Die
Begeisterten am Tor Jerusalems mit ihren Palmwedeln wollten Jesus
erhöhen. Sie wollten den Ben David zu ihrem König machen. Sie
ahnten wohl gar nicht, in welcher Weise Gott ihn erhöhen wird. Ich
weiß nicht, wie viele von ihnen wenige Tage später vor dem Richthaus
des Pilatus dabei waren und »Kreuzige!« geschrien haben. Aber damit
hatten sie doch Recht, dass uns geholfen wird, wenn er erhöht wird.

Wegworte zum Herunterladen: 24_Palmsonntag (pdf)