Ostersonntag

Christus spricht: Ich war tot, und siehe,
ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und
habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

Die Offenbarung des Johannes 1, 18

Dieses Wort stammt aus der großen Eröffnungsvision (Offb 1,12–20),
die der Presbyter Johannes am Herrentag – hier wird zum ersten Mal
der Sonntag genannt – auf der Sträflingsinsel Patmos hatte. Dort ist
er »um des Wortes Gottes und des Zeugnisses von Jesus willen« (Offb
1,9). Er hört eine große Stimme wie von einer Posaune, sieht inmitten
der sieben goldenen Leuchter den Menschensohn im Schmuck
des Hohenpriesters. Glanz geht von ihm aus. Seine Augen sind wie
Feuerflammen, seine Füße wie goldenes Erz, das im Ofen glüht, seine
Stimme klingt wie gewaltiges Wasserrauschen, in seiner Hand sieben
Sterne, mit denen wohl seine Macht über den Kosmos und über alle
Schicksalsmächte versinnbildlicht wird. Nicht die Gestirne, kosmische
Einwirkungen, das eherne Schicksal haben die letzte Macht über
die Erde und die Menschen, sondern Christus. Aus seinem Mund
geht ein scharfes zweischneidiges Schwert. Er wird richten, auch
scheiden zwischen Recht und Unrecht. Sein Angesicht leuchtet, wie
die Sonne scheint in ihrer Macht. Johannes, über den die Vision
kommt, fällt zu seinen Füßen nieder wie ein Toter. Wer kann vor dem
erhöhten Christus bestehen? Aber er spürt die tröstende, aufrichtende
Hand Jesu Christi auf sich und hört das Wort: »Fürchte dich nicht!
Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und
siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel
des Todes und der Hölle.«
Wenn der Mensch dem heiligen Gott begegnet, bekommt er es mit
der Angst zu tun. Er spürt seine Ohnmacht. Und er spürt, wie gottfern
und fragwürdig er selbst ist. Auch in den ersten Osterberichten
dominiert zunächst die Furcht. Die Frauen am leeren Grab, als der
Engel ihnen erscheint, entsetzen sich (Mk 16,5) und auch, als er ihnen
gesagt hat, Jesus sei auferstanden und er werde ihnen in Galiläa
erscheinen, wird von den Frauen Maria Magdalena und Maria, der
Mutter des Jakobus, gesagt: »Sie gingen hinaus und flohen von dem
Grab; denn es war sie Zittern und Entsetzen angekommen. Und sie
sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich« (Mk 16,8).
Diese Furcht nimmt ihnen der Christus, indem er sie berührt,
ihnen ganz nahe kommt. Sein »Fürchtet euch nicht!« löst den Schrecken.
Er offenbart sich als »der Erste« und »der Letzte« (Jes 44,6; 48,12),
das heißt er identifiziert sich mit Gott, der Quelle und dem Ziel
alles Lebens. Und er fügt die Selbstbezeichnung »der Lebendige« hinzu.
Auch diese Bezeichnung ist im Alten Testament Gott vorbehalten
(Jos 3,10; Ps 42,3 »Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen
Gott«). In diesem Wort »lebendig« steckt nicht nur die Aussage,
dass er selbst kein toter Götze, sondern voller Leben ist, sondern
auch, dass er Leben schenkt, zum Leben erweckt, dass er sein Leben
anderen mitteilt. Der Lebendige lässt die, denen er begegnet, nicht im
Tod, sondern er ist Leben, von dem Funken des Lebens sprühen.
Die Übertragung dieser Bezeichnungen »der Erste und der Letzte
und der Lebendige« auf Jesus nimmt im Sinne einer »Präexistenzchristologie«
auf, dass Jesus bereits vor seiner Menschwerdung, ja sogar
vor der Schöpfung, bei Gott und mit Gott lebte (Phil 2,6; Joh
1,1; Hebr 1,3). Der Akzent liegt hier aber nicht darauf, dass er schon
in der Schöpfung mittätig war, sondern darauf, dass er die Geschichte
umspannt. Der Christus, der in Raum und Zeit Mensch wurde, ist
die allem Geschaffenen zugekehrte Seite Gottes, ist Gott selbst.
»Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit…«
Genauer übersetzt müsste es heißen: »Ich wurde tot.« Es ist
der Tod Jesu am Kreuz nicht eine ewig gültige mythische Wahrheit,
sondern ein geschichtliches Faktum, geschehen an dem heute noch
identifizierbaren Ort, dem Hinrichtungshügel, der ›Schädelstätte‹ vor
Jerusalem, irgendwann um das Jahr 30 nach Christi Geburt.
Aber er ist lebendig, wie er es immer war, noch ehe sich überhaupt
das Leben auf dieser Erde entwickeln konnte. In seinem historischen
Tod im Jahr 30 auf der Schädelstätte vor Jerusalem verdichten sich
tausend Tode des Christus, der die dem Menschen zugekehrte Seite
Gottes ist, auf ungezählten Schädelstätten dieser Erde. Und in seiner
historisch geschehenen, aber die Historie sprengenden Auferweckung
von den Toten konzentriert sich sein Leben von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Gottes Leben sprengt das Grab auf, in das Menschen ihn, den Lebendigen,
sperren wollten. Und weil der lebendige Gott sein Leben nie
für sich behält, sondern sich immer mitteilt, darum wird am Ostermorgen
das Leben der Menschheit, die sich selbst ruiniert und begräbt,
auferweckt von den Toten.
»Ich bin lebendig« heißt: »Ich lebe und ihr sollt auch leben« (Joh 14,19).
Wir könnten ebenso übersetzen: »Ich belebe, ich mache lebendig,
ich bringe zum Leben.«
»… und ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.« Das
Wort »Hades«, das hier gebraucht wird, kann auch den Bereich der
Unterwelt, den der Hebräer Sheol nennt, bezeichnen. Aber in der Offenbarung
Johannis werden Thanatos (Tod) und Hades immer personifiziert
als dämonische Mächte verstanden. Offenbarung 6,8: »Und
ich sah ein fahles Pferd, und der darauf saß, dessen Name hieß Tod,
und die Hölle folgte ihm nach. Und ihm wurde Macht gegeben über
den vierten Teil der Erde, zu töten mit dem Schwert und Hunger und
Tod und durch wilde Tiere auf Erden!« Wir denken hier unwillkürlich
an Heinrich Heines Vers:

Das ist der böse Thanatos,
er kommt auf einem fahlen Ross;
ich hör den Hufschlag, hör den Trab,
der dunkle Reiter holt mich ab…


Und Offenbarung 20, 14: »Und der Tod und sein Reich wurden geworfen
in den feurigen Pfuhl.« Der Tod hier als personifizierte Macht
wie in 1. Korinther 15,26: »Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist
der Tod.« Das bedeutet dann nicht nur: Der Tod als physischer Zustand
ist überwunden, sondern der Tod als Macht, die schon die physisch
Lebenden umklammert im Sinn des Liedes Martin Luthers:
»Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen« (EG 518). Es ist
der »gegenwärtige Tod«, der uns das Leben entwertet und der uns um
unser Leben betrügt, indem er sich wie ein dichter Grauschleier auf
unser Leben legt, uns die Freude am Leben, die Lebenslust, nimmt
und uns immer lebensunwilliger und lebensunfähiger macht. Es ist
der »Tod im Topf«, der manche Beziehung, die eine Liebesbeziehung
hätte werden können, zu einer Beziehung des Misstrauens und der
Qual werden lässt. Es ist der gegenwärtige Tod, der Menschen zu verzweifelter
Aggression und Todesdrohung verführt, sodass sie ihr Leben
damit sichern wollen, dass sie anderen, in denen sie Feinde vermuten,
drohen: »Du bist ein Kind des Todes«, wenn du mir zu nahe
kommst. Es ist die Macht des Todes, die sich in der Schreckensherrschaft
manifestiert und Menschen Werkzeuge des Todes bauen lässt,
um mit ihnen voreinander ihr Leben zu schützen.
Der Tod ist tot! Wer diese Botschaft wirklich feiert, der wird sich
auf der Seite derer wiederfinden, die aufbegehren gegen ein System, in
welchem durch ein »Gleichgewicht des Schreckens« das Leben gesichert
werden soll. Auf der Seite derer, die nicht glauben, dass dem Leben
gedient wird durch die Drohung mit der massenhaften Entfesselung
des Todes.
Ich denke gern an die Ostersonntage meiner Jugend. Man traf sich
am frühen Morgen auf dem Friedhof und feierte mit Posaunenklängen
über den Gräbern den Sieg des Lebens. Wir gingen in die Kirche,
hörten das Osterevangelium, sangen und lobten den, der den Tod
überwunden hat. Und dann zogen wir uns um, den Sportsack auf den
Buckel, Wanderschuhe an, und eilten nach Stuttgart zur Demo gegen
die Atombewaffnung. Vor uns Kämpen, im Kirchenkampf des Dritten
Reiches hochbewährt, wie Otto Mörike, die mit lauter Stimme
durch die Straßen Stuttgarts riefen: »Die Bombe muss weg!« Mag
sein, dass viele Bürger uns, die wir sofort als Pfarrer und Pfarrerssöhne
kenntlich waren, wie wir da unter ganz anderen Leuten daherkamen,
komisch fanden. Und ich muss gestehen, dass mein »alter Adam«
dann und wann lieber im Winkel mit einem guten Buch zu Hause geblieben
oder mit einer Freundin durch Wald und Wiesen gestreift wäre.
Aber es war dieser österliche Dreischritt stimmig: zuerst Osterfeier
des Lebens auf dem Friedhof, dann in der Kirche, dann in den Straßen
bei der Demo. So haben wir versucht, dem nachzufolgen, der der
»Fürst des Lebens« (Apg 3,15) ist.
Wenn gesagt wird, Christus habe »die Schlüssel des Todes und der
Hölle«, so knüpft dieses Bild einerseits an der alten Vorstellung an,
die oft Thanatos und Hades mit Schlüsseln in der Hand zeigt. Tod
und Hölle können entfesselt werden oder sich selbst entfesseln. Sie
können Menschen in ihr finsteres Reich wie in ein Gefängnis verschließen.
Vielleicht spielt auch das Bild vom Wesir mit, dem im
Schloss die Schlüsselgewalt übertragen ist, der zuschließen und aufschließen
kann. Mich erinnert das Bild von den Schlüsseln des Todes
und der Hölle an die Novelle des Jeremias Gotthelf mit dem Titel
»Die schwarze Spinne«. Im Gebälk eines alten Hauses, fest verschlossen,
lebt die schwarze Spinne, Sinnbild all dessen, was den Menschen
um sein Leben bringt. Eines Tages zieht ein Übermütiger den Holzkeil
heraus, der das Loch der schwarzen Spinne verschlossen hat. Die
schwarze Spinne springt heraus und setzt sich in Windeseile auf Menschen,
meist auf deren Wangen. Ein Stich von ihr genügt und in der
Wange des Getroffenen wächst eine weitere schwarze Spinne, die bald
aus der eiternden Beule herausbricht und sich ihrerseits auf andere
Wangen setzt, um den Menschen, der sie beherbergt hatte, der Pest zu
überlassen. Keiner wird verschont, nicht das Kind, nicht die junge
Frau, nicht der Greis. Und es ist nun die Frage, wer die schwarze
Spinne wieder in ihr Loch verschließen und der Vervielfachung ihrer
Macht ein Ende setzen kann.
Christus, dem der Schlüssel über den Tod und den Hades gegeben
ist, Christus, der den Tod und die Hölle wegschließt! Das viel diskutierte
und immer wieder in schlimmer Weise kopierte »tausendjährige
Reich« in Offenbarung 20,1–3 beginnt damit, dass ein Engel vom
Himmel »den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan
«, bindet, in den Abgrund wirft und im Abgrund verschließt, damit
er tausend Jahre die Völker verschont. So schließt Christus den
Tod von uns weg, damit wir als »Kinder des Lebens«, auch im Angesicht
des physischen Sterbens, frei nach dem Lied des Matthias Claudius
»wie Kinder fromm und fröhlich sein« können.
Und er verschließt die Hölle, die trostlose Gottesferne, in der
Menschen auch einander nur trostlos fern sein können, wie Jean-Paul
Sartre formulierte: »Die Hölle, das sind die andern.« »Es heizt der
Mensch sich seine Hölle selbst«, sagt ein Sprichwort. Christus verschließt
uns diese finstere Möglichkeit, die wir durchaus in uns tragen.
So dass wir miteinander leben, uns am eigenen Leben und aneinander
freuen können. Keiner hat diese österliche gemeinsame Feier
des Lebens so schön dargestellt wie Goethe in seinem Faust:

Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden …

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