Miserikordias Domini

Christus spricht: Ich bin der gute Hirte.
Meine Schafe hören meine Stimme,
und ich kenne sie und sie folgen mir,
und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Das Evangelium nach Johannes 10, 11

Wenn Jesus in Johannes 10 sich als den guten Hirten bezeichnet,
dann tut er das in dem Wissen, dass im Psalm 23 Gott der gute Hirte
genannt wird. Es ist eine Bezeichnung, die er nur als der Messias oder
der Sohn Gottes auf sich beziehen darf. Jesus gibt damit zu verstehen,
dass er das Hirtentum Gottes verkörpert und offenbart im Sinn des
Wortes »Wer mich sieht, der sieht den Vater« (Joh 14,9 und 12,45).
Zu Hirten waren im alten Israel vor allem die Könige berufen. Die
Erwartung, der politische Führer des Volkes möge ein Hirte sein, begann
schon viel früher. Der alte Mose bittet Gott, »er wolle einen Mann setzen
über die Gemeinde, der vor ihnen her aus- und eingeht und sie aus- oder
einführt, damit die Gemeinde des Herrn nicht sei wie die Schafe
ohne den Hirten« (4.Mose 27,15–17). Darauf hört Mose die Stimme
Gottes, die Josua zum Hirten des Volkes bestimmt. Als solcher wird
Josua durch Handauflegung von Mose eingesetzt (4.Mose 27,18–23).
Alle Könige Israels standen unter der Erwartung, sie mögen das
Volk wie ein Hirt die Schafe führen. Die Erwartung war jedoch nicht
allein auf die Person des Königs fixiert. Wer immer im Volk Gottes
politisch oder religiös eine führende Position hatte, der hatte ein Hirtenamt.
Das heißt, von ihm wurde erwartet, dass er die Herde Gottes
weidet, führt, schützt.
Wie sehr im Lauf der Jahrhunderte diese Erwartung enttäuscht
wurde, das zeigt das 34. Kapitel im Buch des Propheten Hesekiel, das
sich wie eine Generalabrechnung mit den Hirten Israels liest: Sie weiden
sich selbst! »Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt
ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr
nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet
ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind verstreut, weil sie kei-
nen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden
und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen
Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist
da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet« (Hes 34,4–6). Ein schonungsloses,
vernichtendes Urteil wird da über die Hirten Israels gesprochen.
Es folgt die Ankündigung: »Ich will meine Schafe erretten aus ihrem
Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen« (Hes 34,10). Und
darauf: »So spricht der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst
annehmen und sie suchen… Ich selbst will meine Schafe weiden,
und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene
wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete
verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark
ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist« (Hes 34,11.15.16).
Aber wie, durch wen soll das geschehen? Die Antwort: »Ich will
ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich
meinen Knecht David« (das meint selbstverständlich nicht den König
David, der seit Jahrhunderten tot ist, sondern es meint den Gottesknecht,
von dem Deuterojesaja spricht, und den künftigen Messias,
den Davidssohn). »Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, und
ich, der Herr, will ihr Gott sein, aber mein Knecht David soll der
Fürst unter ihnen sein; das sage ich, der Herr« (Hes 34,23. 24).
Dieser Knecht Gottes und Davidssohn wird verwirklichen, was
Deuterojesaja in geradezu zarten Farben – wir hören Händels Arie aus
dem »Messias« – dem verzweifelten Volk vor Augen malt: »Er wird
seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinem
Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe
führen« (Jes 40,11). Als dieser Hirte stellt Jesus sich vor:
»Ich bin der gute Hirte.«
»Meine Schafe hören meine Stimme.« Schafe haben ein untrügliches
Gehör für die Stimme ihres Hirten. Der beste Stimmenimitator
könnte sie nicht täuschen. Wenn eine große Herde von circa fünfhundert
Schafen mit einer anderen ebenso großen zusammenweidet,
wenn die Hirten dann wieder mit ihren Schafen auseinandergehen
und ihrer Wege ziehen wollen, dann müssen sie sich nur an zwei verschiedene
Seiten der Menge der Schafe stellen und rufen. Die Schafe
folgen ihnen instinktiv. Es wird nachher kein Schaf dabei sein, das in
die falsche Richtung gelaufen ist.
Wenn uns die große Sorge um die Christenheit ankommt – ihr
fehlt doch offenbar dieser untrügliche Instinkt, wie soll sie unter den
vielen lauten Stimmen, die auf sie eindringen, die Stimme ihres guten
Hirten unterscheiden können? – dann sollen wir dieses Wort »Meine
Schafe hören meine Stimme« als eine Zusage nehmen. Etwa in folgender
Weise: Es mag sein, dass bei uns Menschen, auch bei uns Christen,
alles ungleich komplizierter geht als bei Schafen. Unser geistlicher Instinkt
ist schwer beschädigt, abgestumpft; er kann getäuscht werden.
Doch wird der gute Hirte sich den Seinen immer neu selbst hörbar
machen. Er wird ihnen das Ohr wecken und öffnen (Jes 50,4. 5). Sie
werden sehr wohl unterscheiden können, was die Stimme des guten
Hirten ist. Die Reformatoren, Luther besonders, haben sich auf dieses
Wort verlassen und darum der Gemeinde Recht und Pflicht zugesprochen,
Lehre zu beurteilen.
»Und ich kenne sie.« Von Schäfern erlebt man es immer wieder,
dass sie in einer großen Herde jedes Schaf kennen. Sie erkennen es an
ihren Bewegungen, Reaktionen, an ihrer Stimme. Der gute Hirte hat
einen Blick auf jedes seiner Schafe. Christus kennt die Seinen. Er erkennt
sie mit dem Blick der Liebe. Ob wir Menschen einander kennen,
ist mehr als fraglich. »Ach! Wir kennen uns wenig!«, klagt Hölderlin.
Er sieht dem Treiben der Menschen zu, die miteinander
umgehen, »als kennten sie sich«.
Kennen wir uns selbst? Das bekannte Gedicht Bonhoeffers mit der
Frage »Wer bin ich?« endet mit dem Vers: »Wer bin ich? Einsames
Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein
bin ich, o Gott.« Dass Christus uns kennt, ist weniger ein bedrohliches,
als vielmehr ein tröstliches Faktum. Gerade wenn ich mich bei
mir selbst nicht mehr auskenne und meine eigenen wirren Gedankenfetzen
mich bedrohen, kann ich mit dem Psalm 139,2 beten: »Du
verstehst meine Gedanken von ferne.«
»Und sie folgen mir.« Können wir das einfach so bestätigen? Etwa
auch dann, wenn dieses Nachfolgen vor allem Schwierigkeiten
bringt? Oder ist das eine Zukunftsaussage? Vieles von dem, was Jesus
sagt, ist bis jetzt mehr verheißen als erfüllt. Ehe wir uns aber in Dis-
kussionen darüber einlassen, was verheißen und was davon erfüllt ist,
tun wir besser daran, anzufangen, es bei uns wahr werden zu lassen.
»Und ich gebe ihnen das ewige Leben.« Leben ist ein Zwischen,
sagt Martin Buber. Es lebt zwischen Personen. Und in dem Maß, als
das geschieht, leben sie. Es lebt zwischen Gott und uns. Der gute Hirte
bringt uns zurück in die lebendig machende Gottesbeziehung. Er
nimmt uns hinein in seine eigene Beziehung zu Gott. So ist er selbst
unser Leben und gibt uns von seinem Leben. Das ewige Leben ist
nicht irgendein unzerstörbarer Personkern in uns, sondern es ist diese
Beziehung zwischen Gott und uns, die uns Jesus neu eröffnet. Sie wird
uns ewig beleben. Zu wem Gott redet, der ist nicht tot, sagt Luther.
Schade, dass in diesem Leitwort zum Hirtensonntag die anderen
Aussagen aus Johannes 10 über den guten Hirten ausgelassen werden.
Dass der gute Hirte im Gegensatz zum Mietling, der nur jobbt, sich
total für das Leben der Schafe einsetzt. Er lässt sein Leben für die
Schafe. Oder die Aussage: »Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus
diesem Stall sind; auch diese muss ich herführen und es wird eine
Herde und ein Hirt sein« (Joh 10,16). Dieses Wort verhindert jede
Verengung des guten Hirten auf seine Christenheit. Er ist größer und
weiter als sie. Wir tun gut daran, in Menschen, die ganz anderswo
ihre Wurzeln haben, potenzielle Christen zu sehen und entsprechend
mit ihnen umzugehen.
»Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen.« Ein Christ hat
einen unzerstörbaren Charakter, weil der gute Hirte ihn sucht und
findet, wenn er sich auch weit von ihm entfernt (Lk 15,4–7).
Am Sonntag »Misericordias Domini«, Barmherzigkeit des Herrn:
Sollen wir an diesem Tag auch alle die Hirtenämter in der Kirche, in
der Gesellschaft, im Erziehungswesen, im Krankenhaus, im Gefängnis
und bei den Suchtkranken, in der Mitternachtsmission, bei behinderten
Menschen, sollen wir auch das Hirtenamt der Mütter und Väter
bedenken? Durchaus. Es gibt so etwas wie ein »allgemeines Hirtentum
aller Glaubenden«. Wir haben Anlass, die Würde und die Schönheit
von Hirtenämtern deutlich zu machen. Wir tun aber gut daran,
recht weltlich davon zu reden. Der Fußballtrainer einer Jugendmannschaft
hat ein Hirtenamt. Der Chef einer Firma hat ein Hirtenamt an
den Arbeitenden. Sie sind nicht nur Arbeitskräfte. Sie sind Menschen.
Und er ist nicht nur der Manager des Großbetriebs XY. Er hat eine
Hirtenfunktion.
Und kirchenleitende Ämter? Die solche ausüben, haben ihren Auftrag
und ihre Würde von dem Erzhirten Jesus Christus. Reden wir
nüchtern über diese Ämter. Eine pathetische Überhöhung irdischer
Hirten ist mit der Gegenwart des guten Hirten nicht vereinbar. Noch
weniger passt der derzeitige inszenierte oder erduldete, jedenfalls genutzte
Papstkult zum Glauben an den guten Hirten, der so lebendig
und gegenwärtig ist, dass er keinen »Stellvertreter auf Erden« braucht.
Erst wenn wir am Hirtensonntag dem guten Hirten die ganze Ehre
geben, erst dann werden wir auch recht nüchtern und dann umso
hoffnungsvoller von den vielen Hirtenaufgaben reden können, in die
uns Christus hineinstellt.

Wegworte zum Herunterladen: 28_Miserikordias (pdf)