Jubilate
Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur;
das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 5, 17
Der Sonntag Jubilate – der Name erinnert an Psalm 66,1 »Jauchzet
Gott, alle Lande« – ist in der Regel mitten im schönen Monat Mai platziert.
Die »neue Kreatur« erblickt, riecht, atmet jeder Mensch, der das
Sehen, Riechen, Schmecken noch nicht ganz verlernt hat. Manches Gedicht
mag uns im »holden, holden Frühling« in den Sinn kommen.
Mörike, Uhland, Fontane, Eichendorff. Nur eines von Ludwig Uhland
sei erwähnt:
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und weben Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual
Nun muss sich alles, alles wenden!
Indem ich dieses hoffnungsvolle Frühlingsgedicht hier aufschreibe,
fühle ich mich als Theologe, der seinem Vater versprochen hat, nicht
etwa ein Feld-, Wald- und Wiesentheologe zu werden, vielmehr die
Dinge allein von der Heiligen Schrift – und das heißt: allein von Jesus
Christus her – zu bedenken. Mit der »neuen Kreatur« ist nicht die alljährlich
im Frühling aufwachende und aufblühende Pflanzenwelt gemeint,
die auch ein noch nicht ganz »gefrorner Christ« spürt. Nicht
die Schöpfung, die nur blüht, um im Sommer zu reifen, im Herbst
ihre Früchte zu geben, im November ihre Blätter fallen und im Winter
sich vom weißen Leichentuch des Schnees bedecken zu lassen.
Vielmehr ist die »neue Kreatur« die Schöpfung, die nicht mehr dem
Winter entgegenstirbt, die das Erstarren und Sterben hinter sich hat.
Die Kreatur, die im neuen Menschen und durch ihn neu werden soll.
Darf man im Maienduft jede Blumenwiese und jedes Waldgezwitscher
als göttliche Erinnerung an diese neue Schöpfung verstehen, ohne
sich der Sünde der natürlichen Theologie schuldig zu machen? Ich denke,
man darf. Wir müssen nicht Klötze sein, die sich von der Maienschönheit
der Schöpfung nicht zu Gefühlen dem Schöpfer gegenüber
und zu neuer Hoffnung auf die Erneuerung der Welt rühren lassen.
Paul Gerhardt hat in seinem Lied »Geh aus, mein Herz, und suche
Freud« , das mancher Busfahrer auswendig kann, weil so oft Kirchenchöre
auf Ausflugsfahrt es mit Inbrunst singen, die Fülle der uns umgebenden
Schönheit besungen: der Gärten Zier, Narzissus und die
Tulipan, die Lerche, das Täublein, die Nachtigall, die Glucke, der
schnelle Hirsch, das leichte Reh, das Lustgeschrei der Schafe und ihrer
Hirten, die unverdrossne Bienenschar, der Weizen, der mit Gewalt
wächst … Er verweilt mit Lust in all dieser irdischen Schönheit.
Aber dann die zweite Hälfte des Liedes, die man im Bus fast nie
singt. Sie beginnt mit der Strophe:
Ach, denk ich, bist du hier so schön
und lässt du’s uns so lieblich gehn
auf dieser armen Erden:
Was will doch wohl nach dieser Welt
dort in dem reichen Himmelszelt
und güldnen Schlosse werden?
Schade, dass diese und die folgenden Strophen meist weggelassen werden.
Paul Gerhardt jedenfalls will uns einladen, hinter der lustvollen Vielfalt
der Frühlingswelt den Schöpfer zu sehen, der sie ins Leben gerufen hat,
und im Schöpfer den Neuschöpfer zu glauben, der uns eine neue, unvergängliche
Schöpfung bereithält, die noch viel schöner sein wird.
Es wäre freilich ebenso wenig im Sinn des Dichters, würden wir
die ersten Strophen vergessen und erst mit der neunten Strophe, die
an die Schönheit der kommenden Welt erinnert, beginnen. Christsein
– das können wir von Paul Gerhardt lernen – heißt in der alten
Schöpfung, die nicht nur nach Erlösung seufzt, in der es vielmehr
auch Lustgeschrei gibt, mit der neuen, an Ostern aufgebrochenen unvergänglichen
Schöpfung zu rechnen.
Eine neue Kreatur ist der Mensch, der in Christus ist. Bei der neuen
Kreatur müssen wir uns sehr vorsehen, dass wir nicht gleich dem Hang
nachgeben, in einer individualisierenden Engführung sie nur oder vor allem
in uns selbst zu suchen, in Anzeichen einer bei uns erfolgten Wiedergeburt
oder Bekehrung. Es gibt im württembergischen Pietismus gelegentlich
einen Hang, solche Aussagen zu verinnerlichen. (Ich meine
hier freilich nicht die »Klassiker« des württembergischen Pietismus, Bengel,
Oetinger oder die beiden Blumhardts, die ja alle die neue Schöpfung
in ihrer umfangreichen Weite gesehen haben.) Durch diesen Hang bleibt
uns nichts anderes übrig, als die erfolgte Bekehrung oder Wiedergeburt
in uns selbst dingfest zu machen, mit der Folge, dass wir zu introvertierten,
skrupulösen Menschen werden, die zwischen Selbstgerechtigkeit
und Verzweiflung hin- und herschwanken. Nein, die neue Schöpfung,
die mit der Auferstehung Jesu Christi aufgebrochen ist, schafft in allen
Kreaturen. So auch in uns. Wir dürfen uns als ihr Teil verstehen, dürfen
an ihrer neuen, erlösten Art Anteil haben, uns ihr öffnen.
Das können wir, wenn wir in Christus sind. In diesem Bild wird die
versöhnende, erlösende und erneuernde Ausstrahlung Jesu wie ein
Raum verstanden, in den ich eintreten kann. Zugleich wird bei Paulus
dieses Bild wieder umgekehrt gebraucht, indem das scheinbare Gegenteil
gesagt wird: nicht nur ich in Christus, sondern zugleich auch Christus
in mir! Dasselbe kann ich von der Luft sagen. Ich befinde mich in
dem Bereich jener linden Lüfte, die Uhland so wirkungsvoll beschreibt.
Zugleich atme ich diese linden Lüfte ein und hoffe, mich durch sie vom
rauen Winter zu erholen und in dem neuen Klima gesund zu werden.
Ich atme diese linden Lüfte ein. Sie sind dann auch in mir.
So kann man die Geistesausstrahlung Jesu Christi beschreiben: wir
sind in ihr, sie ist in uns. Ich muss aber, dass ich in Christus bin und
dass er in mir ist, es weder mir noch anderen nachweisen. So wenig
ich die Frühlingsluft um mich und in mir messen kann. Ich darf dazu
ein schlichtes, glaubendes, herzliches »Ja« sagen, es gelten lassen und
unter der Voraussetzung leben, dass ich in Christus bin und dass er in
mir ist. Wobei dieses Teilhaben am auferstandenen Christus und an
seiner Neuschöpfung ein reines Gnadengeschenk des barmherzigen
Gottes ist, nie und nimmer von mir bewirkt. Es ist so sehr ein Geschehen,
das an mir geschieht, wie meine Geburt ein Geschehen war,
zu dem ich nichts beigetragen habe.
Freilich, was hätte ich von der neuen Schöpfung, deren Teil ich
sein darf, wenn ich mich ihr verschließen würde, wenn ich der bleiben
wollte, der ich immer war? Was hätte ich von der Ausstrahlung
Jesu Christi, in die ich versetzt bin, wenn ich mich vor ihr schützen,
ihre Einflüsse auf mich abblocken, mich ihr gegenüber unzugänglich
erweisen wollte? Wir werden nicht Teil einer neuen Schöpfung gegen
unseren bleibenden dumpfen Widerstand. Was an uns ohne Zutun
unseres Willens geschieht, bleibt nicht an oder in uns, wenn unser
Wille nicht freudig in diesen Zustand einstimmt, wenn wir zur Einwurzelung
in den Garten Jesu im Grunde Nein sagen. Dann werden
wir in ihm allenfalls verdorren.
Ist damit das In-Christus-Sein genügend beschrieben? Ich will
nicht verschweigen, dass Dietrich Bonhoeffer in seiner Dissertation
mit dem Titel »Sanctorum Communio« (Gemeinschaft der Heiligen)
feststellt, dass Paulus darunter das bewusste Leben in der Gemeinde
Jesu versteht: nicht in einer idealen, gedachten himmlischen Gemeinschaft
von Christen, deren Gemeinschaft mich jederzeit erhebt und
nur immer stärkt, sondern das bewusste Leben in der real existierenden
christlichen Gemeinde vor Ort, im Besuch ihrer Gottesdienste,
im Teilhaben an Wort und Sakrament in ihr, in der Teilnahme an ihrem
Gemeindeleben, im gemeinsamen Tragen der Lasten Einzelner.
Er sieht in der christlichen Gemeinde keinen geringeren als »Christus,
als Gemeinde existierend«. Die Rede des Paulus von der Gemeinde als
Leib Christi (Röm 12,5; 1. Kor 12,12–31) nimmt er nicht als ein
Gleichnis, sondern als eine Gleichung: Christus ist unter uns in Gestalt
seiner Gemeinde, sie mag dürftig sein, aber sie ist der gegenwärtige
Christus. Wobei man Bonhoeffer nicht darauf hinweisen musste,
dass es doch ein Gegenüber zwischen Haupt- und Restleib gebe, dass
wir alle auch Christus gegenüberstehen. Aber Bonhoeffer, der in Berlin-
Grunewald ziemlich fern von der Gemeinde aufgewachsen ist, der
die Gemeinde erst entdecken musste, beharrt darauf: »In Christus
sein« heißt, bewusst und entschlossen in der Gemeinde sein. Das sollten
wir – gegen alle protestantisch-bürgerliche Individualisierung des
Christseins und gegen alle nischenhafte Innerlichkeitskultur, die oft
durch Gemeindeferne erkauft wird, bedenken.
Was ist aber gemeint mit »Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist
geworden«? Im Zusammenhang 2. Korinther 5,16 ff. ist das Neue,
dass Gott uns in Christus mit sich versöhnt hat. »Gott versöhnte in
Christus die Welt mit ihm selbst und rechnete ihnen ihre Sünden
nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung«
(2. Kor 5,19). So sieht Paulus auch sein eigenes Leben: Es ist
geprägt durch eine harte Zäsur in vorher und nachher. Vorher, ehe
Christus ihn vor Damaskus aus dem Sattel geworfen hatte (Apg 9, 4),
versuchte Saulus als gesetzestreuer, gewissenhafter, eifriger Jude, der
aus angesehener Familie war, der bei den besten Gelehrten in Jerusalem
gelernt hatte, sich seinen Status vor Gott und den Menschen
durch seine eigene Tüchtigkeit zu bauen und zu suchen. Erst später
wurde ihm klar, dass seine ganze Lebenseinstellung und Lebensart damals
die Folge dessen war, dass er mit Gott unversöhnt war. Er konnte
nach dem umstürzenden Ereignis vor Damaskus all das, was ihm
früher Sicherheit geben sollte, in dem er sich eingerichtet, das sein
Selbstbewusstsein begründet hatte, sehr respektlos als »Kot« bezeichnen
(Phil 3,8). Durch die Begegnung mit Jesus Christus wurde er ein
anderer Mensch. Einer, der nicht mehr aus seiner religiös verkleideten
Selbstbehauptung, sondern aus reiner Gnade lebte. Ein Mensch, der
im Frieden mit Gott lebt, weil Gott ihn eingeholt, ihn vom hohen
Ross gestürzt, ihn zuerst in einen völlig desolaten Zustand versetzt
und dann durch den tapferen Diener Christi Ananias in ein neues Leben
geführt hat (Apg 9,1–19).
Paulus ist nicht der Versuchung erlegen, aus dem »Einst und Jetzt«
in seinem Leben ein Schwarz-Weiß-Schema zu machen, mit dem er
dann sein Leben vereinfachend dargestellt hätte. Sehr offen lässt er in
Römer 7 in seine Verzweiflung hineinsehen, die ihn immer wieder
überkam, wenn er an das dachte, was er als bekehrter und wiedergeborener
Mensch faktisch zu tun vermochte. »Ich elender Mensch, wer
wird mich erlösen?« Doch kann er dann getrost antworten: »Ich
danke Gott durch Jesus Christus, meinen Herrn« (Röm 7,24. 25).
Und in 2. Korinther 4,7 ff. zeigt er auf, wie wir den Schatz des neuen
Seins »in irdenen Gefäßen« haben. Also nicht in unzerstörbaren
Eisentöpfen, sondern wie in einem Tongefäß, das dünne Wände hat
und das man leicht zerbrechen kann. Er will damit sagen: Das neue
Sein in Christus macht uns nicht zu geistlichen Superman-Leuten,
die nichts mehr umwirft. Wir bleiben die verletzlichen Personen, die
wir sind. Aber gerade in diesen lebt eine Kraft, die nicht von uns ist.
Bei Paulus heißt das: »Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen
uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden
Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt,
aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an
unsrem Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar
werde. Mitten im Leben werden wir immer neu in den Tod gegeben
um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem
sterblichen Fleisch… Darum werden wir nicht müde; sondern
wenn auch der äußerliche Mensch verfällt, so wird doch der innerliche
von Tag zu Tag erneuert« (2. Kor 4,8–16).
So feiern wir – in der Regel mitten in blühender Maienlandschaft
– den Sonntag Jubilate und die Gabe des neuen Seins in Christus
doch als Menschen, die jeder böse Schlag treffen und daran erinnern
kann, dass diese unsere Maienwelt noch durchaus nicht erlöst und
dass in einzelnen Menschen die pure Verzweiflung übermächtig ist,
während andere mit österlichen Liedern Gottes Neuschöpfung feiern.
Wegworte zum Herunterladen: 29_Jubilate (pdf)