Kantate

Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.

Die Psalmen 98, 1

Mancher von uns hat den achtstimmigen Doppelchorsatz von Heinrich
Schütz zu diesem Psalm gesungen, einstudiert, dirigiert, hat miterlebt,
wie die beiden Chöre einander nachfolgen, einander begegnen,
sich wieder voneinander entfernen, um aufs Neue zusammenzukommen
zu der befreienden Aufforderung: »Jauchzet dem Herrn alle
Welt, singet, rühmet und lobet!« Wir haben Posaunen und Trompeten
eingesetzt und haben dann kräftig das Meer brausen, die Ströme
frohlocken, die Berge fröhlich sein lassen vor dem Herrn, der kommen
wird, den Erdkreis zu richten mit seiner Gerechtigkeit.
Alles klingt in diesem Psalm zusammen: die Menschen, die Gottes
Befreiungstaten erlebt haben, in denen er das Heil seines Volkes und
das Heil der Menschheit vorbereitet. Geistliches Singen kommt aus
der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und mit seiner Menschheit,
und es hat unser Singen diese Heilsgeschichte der großen Taten
Gottes zum Inhalt. In Zeiten, in denen »die süße Wundertat« Jesu
Christi das große Thema ist, wie zum Beispiel in der Reformationszeit,
brechen die Quellen neuer Lieder auf, die dann so stark sind,
dass sie Generationen zum Glauben und zum Gotteslob helfen.
Es klingen in den Psalmen die Instrumente, die Menschen in ihrer
großen Kunst entwickelt haben, das unendliche Reich der Töne
entdeckend, das uns erst wirklich erschlossen wird, wenn Christus es
uns aufschließt. Es braust, frohlockt, applaudiert die ganze Kreatur,
sie muss nun nicht mehr ächzen und seufzen unter dem, der sie
unterworfen hat, sie spürt die Erlösung der Kinder Gottes und fühlt,
dass sie mit ihnen zusammen erlöst wird. Im Osterjubel der orthodoxen
Kirche spüren wir, wie alle Kreatur einbezogen ist in den Lobgesang:
»Durch deine Auferstehung, o Herr, ist erleuchtet das All … die
ganze Schöpfung lobsingt dir, bringt dir täglich dar eine Hymne.« Es
klingt auch in manchem Osterlied unseres Gesangbuchs an: »Die
ganze Welt, Herr Jesu Christ, halleluja, halleluja, in deiner Urständ
fröhlich ist… Jetzt grünet, was nur grünen kann … Es singen jetzt
die Vögel all, jetzt singt und klingt die Nachtigall« (Friedrich Spee,
EG 110). Wir hören den Osterjubel der Kreatur auch in manchem
Morgenlied der Singbewegung des 20. Jahrhunderts, etwa bei Werner
Gneist in seinem Lied »Es tagt der Sonne Morgenstrahl, weckt alle
Kreatur«:

Zuletzt erschwingt sich flammengleich
mit Stimmen laut und leis
aus Wald und Feld, aus Bach und Teich,
aus aller Schöpfung Kreis
ein Morgenchor, an Freude reich,
zu Gottes Lob und Preis.

Jürgen Moltmann hat in seinem Buch »Das Kommen Gottes« die
Hoffnung auf den Lobgesang der ganzen Schöpfung vielfältig entfaltet.
Ich zitiere die letzten Sätze dieses großen Werkes der Eschatologie: »Aus
der Auferstehung Christi entfaltet die Freude kosmische und eschatologische
Perspektiven auf die Erlösung des ganzen Kosmos. (…) Im Fest
der ewigen Freude sollen alle Geschöpfe und die Schöpfungsgemeinschaft
Gott ihre Hymnen und Lobgesänge singen. (…) Die Hymnen
und Lobgesänge der sich am auferstandenen Christus freuenden Menschen
sind nach ihrem eigenen Verständnis nur ein schwacher Widerhall
der kosmischen Liturgie und der himmlischen Lobgesänge und der
zum Ausdruck gebrachten Daseinsfreude aller anderen Lebewesen. Das
Fest der ewigen Freude wird von der Fülle Gottes und dem Jubel aller
Geschöpfe bereitet. Aus der unerschöpflich reichen Phantasie Gottes,
seiner schöpferischen Einbildungskraft, geht Leben um Leben in bunter
Fülle hervor.« Die verklärte Schöpfung ist »wie ein großer Gesang
oder ein reiches Gedicht oder ein wunderbarer Tanz seiner Phantasie,
um seine göttliche Fülle mitzuteilen. Das Lachen des Universums ist
Gottes Entzücken. Soli Deo gloria.«
In der Bibel wird über das Singen wenig theoretisiert. Und den
Sonntag Kantate haben wir weniger dazu, einander musiktheoretische,
theologische, psychologische Abhandlungen über das Singen zu
bieten. Es ist besser, wir folgen schlicht der Aufforderung »Kantate«
und singen miteinander.
Einige biblische Erinnerungen können zum Verständnis helfen:
Nach der wunderbaren Errettung am Schilfmeer singen die Kinder Israel
ihren Lob- und Dankgesang: »Der Herr ist meine Stärke und
mein Lobgesang und mein Heil.« Das ganze atemberaubende Geschehen
der Rettung des Volkes wird besungen und Mirjam, die Schwester
Aarons, eröffnet mit der Handpauke den Reigen der Frauen dazu
(2. Mose 15,20. 21). Von David, als er die Bundeslade nach Jerusalem
holt, heißt es, er habe mit ganz Israel »mit aller Macht in Reigen, mit
Liedern, mit Harfen und Psalmen und Pauken und Schellen und
Zimbeln« getanzt (2. Sam 6,5.14.15). DieGegenwartGottes, der sein
Volk in die Freiheit führt, kann nur mit jubelnden Klängen gefeiert
werden. Und wie in Mirjams Tanz auch hier wieder: Alle meine Gebeine
loben Gott. Der Tanz der Befreiten ist nicht eine moderne Marotte,
sondern, so schüchtern und ungeübt er in unseren Kirchen daherkommen
mag, er bricht in der Bibel jeweils dann auf, wenn Gottes wunderbare
Heilstaten Menschen aus der lethargischen Ruhe bringen.
Eigentlich wird in der Bibel nicht sehr oft vom Singen Israels berichtet.
Aber die 150 Psalmen sagen mehr als alle Berichte über Gesangstage
oder als theoretische Erörterungen sagen könnten. Sie sind
ein unglaublich reiches Gesangbuch, in welchem von der Klage des zu
Tode Betrübten bis zum Jubel der Erlösten die ganze Skala der
menschlichen Möglichkeiten sich vor Gott entfaltet. Schade, dass wir
nicht mehr sagen können, wie die Melodien dieser Gesänge geklungen
haben. Denn sie wurden ja doch wohl großenteils nicht gesprochen,
sondern gesungen. Und gelegentlich erinnert noch eine kleiner
Hinweis an den Chormeister betreffend die Melodie, dass es sich um
gesungenes Gotteslob handelt (z.B. Ps 56,1; 57,1; 58,1; 59,1; 60,1;
69,1; 75,1; 76,1; 77,1). Aus den Psalmen nur eine kleine Passage, die
uns einen Eindruck gibt von der Schönheit des Lobgesangs, der Menschen
am frühen Morgen weckt:

Mein Herz ist bereit, Gott,
mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe.
Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe,
ich will das Morgenrot wecken!
Herr, ich will dir danken unter den Völkern,
ich will dir lobsingen unter den Leuten.
Denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist,
und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.
Erhebe dich, Gott, über den Himmel.
Und deine Herrlichkeit über alle Welt.
(Psalm 57,8–12)

Ein besonderer Lobtanz und wohl auch Lobgesang begegnet uns im
Neuen Testament nach der Heilung des Lahmen im Tempel (Apg
3,1–11). Der lang gelähmte Mann, dessen Füße und Knöchel nun
wieder fest sind und der endlich durch die »schöne Pforte« in Gottes
Haus durfte, führt einen – wohl noch ungelenken – Freudentanz auf,
dankt und lobt Gott. Dieses spontane, elementare Lob Gottes rührt
den, der sich das Geschehen vorstellt.
Ein Urbild österlichen Singens in einer unösterlichen Welt ist der
Lobgesang des Paulus und des Silas im innersten Verließ eines Gefängnisses
in Philippi (Apg 16,23–26). Die Ausgepeitschten, die nun,
die Füße im Stock fest eingeschraubt, im untersten Verließ sitzen oder
liegen und sich gegen keine Ratte wehren können, loben Gott mit österlichen
Gesängen. Der folgende Bericht hat hohen Symbolwert:
»Plötzlich aber ward ein großes Erdbeben, so dass sich die Grundfesten
des Gefängnisses bewegten. Es wurden alsbald alle Türen aufgetan
und die Fesseln aller gelöst« (Apg 16,26). Das österliche Lob Gottes
in der Nacht sprengt das Todesgefängnis dieser unerlösten Welt. Es
befreit auch andere Gefangene, die es hören, aus ihren Fesseln.
In Kolosser 3,16 ff. lesen wir den apostolischen Rat: »Lasst das
Wort Christi reichlich in euch wohnen; lehrt und vermahnt euch
selbst in aller Weisheit mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen
Liedern und singt Gott dankbar in euren Herzen.« Wo das Wort
Christi reichlich in uns wohnt – reichlich bedeutet hier nicht die
Vielzahl der Worte, sondern dass wir seinem Wort reichlich Entfaltungsraum
geben in unserem Denken, Fühlen und Zusammenleben –,
da wird ein Mensch fast von selbst in die Lieder der Kirche hineinfinden.
Und er wird spüren, wie sehr diese Lieder auf seinen Sinn eine
hilfreiche, heilende, ihn orientierende Wirkung haben werden.
Besonders in den Passagen des Alten und des Neuen Testaments,
die den Ausblick auf die letzte Erlösung öffnen, finden wir Danklieder
der Erlösten, so in Jesaja 12. Und mehrfach in der Offenbarung
des Johannes. Etwa wenn die 24 Ältesten das neue Lied dem singen,
der würdig ist, das Buch der menschlichen Geschichte mit seinen sieben
Siegeln in die Hand zu nehmen und die Siegel zu öffnen. Sie singen
dem, der allein die Menschheitsgeschichte entschlüsseln, verstehen
und verständlich machen kann (Offb 5,8 ff.). Oder in Offenbarung
14,2. 3, wo die 144 000 Erlösten (die Symbolzahl 12 × 12 000 ist schwer
zu dechiffrieren) vor dem Thron des Lammes, den »vier Gestalten«
(welche die Himmelsrichtungen verkörpern; in unseren Kirchen auch
als vier Evangelisten dargestellt) und den Ältesten ihr Loblied singen.
Oder in Offenbarung 15,2 ff., wo die Überwinder am »gläsernen
Meer« (einem Symbol des für Gottes Licht transparent gewordenen
Kosmos) das Siegeslied singen, das Moses nach der Rettung aus dem
Roten Meer mit dem Volk der Erlösten gesungen hat: »Groß und
wundersam sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und
wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.«
Wenn wir unsere Dank- und Loblieder singen, dann stimmen wir
ein in den Chor derer, die in der Kraft Jesu Christi bereits diese Welt
überwunden haben. Unser Singen feiert quasi vorweg, wie das Mahl
des Herrn eine Vorfeier ist auf das Mahl der letzten Vollendung.
Ist es noch nötig darauf hinzuweisen, dass wir unsere Lieder dem
Herrn singen sollen, nicht den Menschen? Leicht werden unsere kirchenmusikalischen
Ereignisse zu puren Darbietungen. Man ist dann
hin- und hergerissen in der Frage, ob man ihnen in der Kirche applaudieren
soll oder nicht. Einerseits will und sollte man als Zuhörer
den Ausführenden seine Freude und Dankbarkeit für die gelungene
Aufführung zeigen. Die Leute haben sich angestrengt, haben wohl
auch ihr Bestes gegeben. Sie haben ihre Kunst und Leidenschaft in
den Dienst der guten Sache gestellt. Wir sollten sie darin bestärken
und ihnen zeigen, dass sie uns, den Zuhörenden, viel gegeben haben.
Andererseits beschleicht uns das Gefühl, es sei komisch, wenn nach
einer Aufführung, die soli Deo gloria stattfand, wie im Konzerthaus
das Ritual des vielfachen Applauses zelebriert wird. Es ist schwer, sich
hier richtig zu verhalten zwischen rigoroser Strenge und billiger Anpassung.
Wichtig ist, dass die Singenden und Musizierenden ihr gemeinsames
Wirken als Gebet und Gotteslob auffassen, nicht als
Selbstdarstellung.
Und was bedeutet das »neue Lied«? Schön, dass wir in einer Zeit
unübersehbarer Fülle von neuen geistlichen Liedern jeglicher Qualität
leben. Das ist ein Zeichen von geistlicher Kreativität. »Den Geist
dämpfet nicht« (1. Thess 5,19)! Aber das »neue Lied« im Sinn der Bibel
bedeutet: Es kommt, egal in welchem Jahrhundert verfasst, von
Ostern her. Das »alte Lied« ist das Gebrumm der Selbstrechtfertigung,
das Gebruddel der Unzufriedenheit, der bitteren Resignation:
immer das alte Lied!
Der auferstandene Christus ist dabei, unser Wesen zu verwandeln,
es neu zu schaffen. In dieser Gewissheit, mit dieser Erfahrung im Rücken
und erfüllt von dieser Hoffnung, singen wir das »neue Lied«.
Treffend schreibt Bonhoeffer: »Neu ist dasjenige Lied, das den Menschen
neu macht, das aus Dunkelheit und Sorgen und Angst hervorbricht
zu neuer Hoffnung, neuem Glauben, neuem Vertrauen. Neu
ist das Lied, das Gott selbst neu in uns erweckt – und ob es ein uraltes
Lied wäre – der Gott, der sich ›Lobgesänge schafft mitten in der
Nacht‹. Der Lobgesang in der Nacht unseres Lebens, unseres Leidens
und unserer Furcht, in der Nacht unseres Todes … – das ist das neue
Lied von Christus, dem Herrn und Erlöser.«

Wegworte zum Herunterladen: 30_Kantate (pdf)