Rogate

Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft,
noch seine Güte von uns wendet.

Die Psalmen 66, 20

Christian Friedrich Daniel Schubart hat wohl keine Chance, sich
irgendwann in einem Heiligenkalender wiederzufinden. Zwar hat er
viel Mut bewiesen, indem er dem württembergischen Herzog Carl
Eugen verbalen Widerstand geleistet hat. Und er hat seine kecken Bemerkungen
über den Herzog und seine Donna Schmergalina, das
Fränzel, Franziska von Hohenheim, gegen des Herzogs »Sklavenplantage«,
die Hohe Karlsschule, mit elf Jahren Haft auf dem Hohenasperg
hart büßen müssen. Aber ein Heiligsprechungsprozess wird für
ihn nie eingeleitet werden. Seine Frauengeschichten, sein Alkoholismus,
seine Spottlust…
Aber Schubart hatte ein Gespür dafür, wie wir Menschen dran
sind. So schrieb dieser Pfarrerssohn und früh gefeuerte Kirchenmusiker
im Januar 1776 in Ulm, ein Jahr vor seiner arglistigen Gefangennahme
und Verhaftung, folgende Sätze in seiner »Deutschen Chronik«:
»Sind wir doch alle Bettler vor Gott und Bettler untereinander.
Oft bettelt der Höhere bei dem Niedrigen und die Untertanen bei
ihrem Fürsten. Der Soldat nennt seinen Bettelbrief Kontribution, der
Zahnarzt Patent, der Handwerksbursch Pass und der Skribent nach
der Sanduhr Merkur, alter Deutscher, Korrespondent, Postreuter
oder Chronik. Der Virtuose bettelt mit seinem Instrument und einigen
armseligen Koncerten durch die Welt. Unsere Hochzeiten, Kindstaufen
und Leichen sind Betteleien. Wir betteln mit Neujahrswünschen,
Panegyren, Päanen, Motetten, Zinken und Posaunen, heiligen
Dreikönigssternen und Kühhörnern durch die Welt, und der
Nachtwächter verkündet am hellen Tage die Stunde der Mitternacht,
und das alles darum – weil wir Bettler sind; arme, arme Bettler,
die wir nach dem Tode der Mutter Erde ein Plätzchen abbetteln
müssen.«
Ernst Barlach war bis zu seinem 36. Lebensjahr ein talentierter
Jugendstil-Gebrauchsgraphiker, mehr nicht. Im Jahr 1904 besuchte er
seinen Bruder in Charkow. Auf dieser Reise stieß er sehr oft auf russische
Bettlerinnen und Bettler. Sie gingen in seiner Seele um. Er modellierte
nun Bettler, aus Ton, Keramik, Klinkerstein. Die Bettler
wurden zum Thema seines Lebens. An ihnen wurde er, fast von einem
Jahr auf das andere, zum großen Künstler, der in der Konzentration
auf das Wesentliche Menschen schaffen konnte. Ich freue mich, dass
das Deutsche Brotmuseum als ständige Leihgabe im Ulmer Münster
einen wertvollen Abguss des »Bettlers«, der für die Lübecker Katharinenkirche
geschaffen worden ist, aufgestellt hat. Es war mir einst, als
ich dazu beitrug, wichtig, dass in diesem hohen Haus, dort, wo die
Touristen das Münster betreten, dieser Bettler steht. Wenn Barlach
gefragt wurde, warum er immer neu Bettlerinnen und Bettler gestalte,
dann konnte er sagen: »Weil das doch unsere wahre Situation zwischen
Himmel und Erde ist«.
Bekannt ist, dass die letzten Worte, die Luther vor seinem Tod
1546 in Eisleben, schon fieberkrank, aufgeschrieben hat, heißen:
»Wir sind Bettler, das ist wahr.«
Der Name des Sonntags Rogate (Bittet!) erinnert an Jesu Worte:
»Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet
an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt, und wer
da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Welcher
ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet ums Brot, der
ihm einen Stein biete? oder, so er ihn bittet um einen Fisch, der ihm
eine Schlange biete? So nun ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch
euren Kindern gute Gaben geben, wieviel mehr wird euer Vater im
Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten« (Mt 7,7–11).
Es fällt auf, dass Jesus, wenn er vom Beten redet, fast immer, als sei
das selbstverständlich, vom Bitten redet. Warum erinnert er uns nicht
viel mehr an das Danken, zu dem wir viel Grund haben und das in
den Psalmen eine ganz große Rolle spielt, zu dem wir auch in den
apostolischen Briefen immer wieder ermahnt werden? Lediglich die
Erzählung von den zehn vom Aussatz Geheilten, von denen nur einer
den Weg zu Jesus zurückfindet, um ihm zu danken (Lk 17,11–19),
erinnert uns daran, wie wichtig Jesus das Danken und wie wesentlich
für unsere wirkliche Heilung es ist.
Und könnte er uns nicht mehr auf die stille Meditation hinweisen,
die uns gewiss gut tun würde? Etwa im Sinne des Verses von Gerhard
Tersteegen »Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge…«?
Aber Jesus ist kein fernöstlicher Meditationslehrer. Er geht in seinen
Worten über das Gebet ganz selbstverständlich davon aus, dass unserer
Situation als Menschen das Bitten angemessen ist. Oder, zugespitzt,
dass wir Bettler sind.
Auch was das Kommen des Gottesreiches betrifft, so können wir
nur Gott bitten, dass er das Entscheidende tut: »Dein Reich komme!«
(Mt 6,10). Auch in der Frage, ob in unserer Menschenwelt die richtigen
Menschen gefunden werden, das Gottesreich anzukündigen und
in Gottes Ernte in seinem Auftrag zu arbeiten, ist es angemessen und
primär, dass wir ihn bitten, das Entscheidende zu tun. Angesichts des
Volkes, das ihn jammert, weil die Menschen verschmachtet und zerstreut
sind‚ wie die Schafe, die keinen Hirten haben (Mt 9,36), rät er
uns: »Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet
den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende« (Mt
9,37. 38).
Besonders in den Abschiedsreden im Johannes-Evangelium macht
er uns – ganz im Sinne von Psalm 66,20 – Mut, damit zu rechnen,
dass Gott unser Gebet nicht verwirft, als sei es für ihn unwesentlich,
was wir erbitten, oder als seien wir für ihn keine Partner. Er sagt uns
zu, dass unser Gebet erhört werden wird. Hier kommt noch hinzu,
dass er uns empfiehlt, in seinem Namen zu bitten: »Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: Wenn ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem
Namen, so wird er’s euch geben. Bisher habt ihr nichts erbeten in meinem
Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen
sei« (Joh 16,23. 24, vgl. Joh 15,16). Der Abschied nehmende,
zum Vater gehende Christus spricht so. Er kann dann auch sagen, dass
er selbst die Arbeit seiner Jünger fruchtbar machen und ihr Gebet um
Frucht ihrer Arbeit erhören werde: »Wahrlich, wahrlich, wer an mich
glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als
diese tun, denn ich gehe zum Vater. Und was ihr bitten werdet in meinem
Namen, das will ich tun, auf dass der Vater verherrlicht werde in
dem Sohn. Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich
tun« (Joh 14,12–14). Diese Zusagen erinnern stark an das, was Paulus
am Ende seines großen Auferstehungskapitels 1. Korinther 15 schreibt:
»Darum, meine lieben Brüder, seid fest, standhaft, und nehmt immer
zu in dem Werk des Herrn, weil ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich
ist in dem Herrn« (1. Kor 15,58).
In diesem Zusammenhang ist es eindrücklich, wie Jesus in der
Zeit, in der er als Wanderprediger und Heiler durch Galiläa zog, mit
den Bitten, die an ihn herangetragen wurden, umging. Vor allem die
Bitten Kranker um Heilung erfüllt er, zum Beispiel die Bitte des Aussätzigen
(Mk 1,40). Er erfüllt die Bitte des Jairus, seiner sterbenden
Tochter zu helfen (Mk 5,21ff.) und ebenso die Bitte des Hauptmanns
von Kapernaum, dessen Knecht Gicht hat und in großen Qualen liegt
(Mt 8,5–13). Er erfüllt aber nicht die Bitte der Mutter der Zebedäussöhne,
die will, dass ihre Söhne, wenn er das Gottesreich aufrichten
wird, ihm zur Rechten und zur Linken säßen. »Ihr wisst nicht, was ihr
bittet«, sagt Jesus und verweist auf die Leiden, die der eingeht und an
die sich sein Weg in die Passion anschließt.
Die Art, wie Jesus mit Bitten umgeht, zeigt seine große Barmherzigkeit
denen gegenüber, die in höchsten Nöten sind; ebenso aber
auch, dass er eine Bitte auf das hin prüft, ob ihre Erfüllung dem Bittenden
gegenüber wirklich hilfreich ist. Er bleibt, wenn er Bitten erfüllt,
der Herr. Er wird nicht zu unserem Erfüllungsgehilfen.
Besondere Beachtung verdient seine Empfehlung: »… bittet für die,
die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel«
(Mt 5,44.45). In unseren Bitten sollen wir besonders für die
Menschen eintreten, die uns das Leben schwer machen. Keineswegs
darf unser Beten dazu verkommen, dass wir in unseren Konflikten
Gottes Macht gegen Menschen instrumentalisieren wollten. Man
wird in diesem Gebot, für und nicht gegen die Feinde zu bitten, auch
eine deutliche Auseinandersetzung mit dem Tenor nicht weniger Psalmen
erkennen können, in denen der Beter Gottes Hilfe gegen seine
Feinde erbittet. Nicht dass eine solche Bitte in den Augen Jesu nicht
bestehen könnte, besonders wenn dem Beter das Wasser am Hals
steht und er von nirgendwoher Hilfe erfährt. Aber sie wird nie ein
Gebet gegen Menschen sein, sondern ein Gebet für Menschen, die
derzeit eine dem Beter feindliche Rolle einnehmen.
Entschieden lehnt Jesus das Gebet ab, das zu einem wortreichen
»Plappern wie die Heiden« gerät. Sie meinen, sie würden erhört,
wenn sie viele Worte machen (Mt 6,7).
Im Blick auf Menschen, die »viel plappern wie die Heiden«, sagt
Christoph Blumhardt: »Nun gibt es Leute, die beten immer fort und
schwatzen und können gar nicht aufhören, und vor lauter Beten bekommen
sie gleichsam einen Schwindel. Hast du gebetet, so sei still, und
mach es wie der Bauer, der seinen Samen ausgestreut hat; jetzt ist er in
der Kraft Gottes, jetzt geht er eben auf. Aus deinem ewigen Wortemachen
im Gebet kommt keine Hilfe heraus. Aus deiner Stille kommt die
Hilfe heraus, aus deiner Geduld, aus deinem Glauben: ›Gott macht es,
ich bin still‹, aus deiner Hoffnung: ›das Reich Gottes hört nicht auf, es
rumort in allen Übeln der Welt‹. So werde ein Gottesdiener in stiller,
heiliger Ruhe, und du wirst eins ums andere erleben dürfen zur Freude
deines Herzens und zum Trost für alle deine Umgebung.«
Das Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,1–8) darf man nicht
als Ermutigung zu einem gewaltsamen, Gott ermüdenwollenden Bitten
heranziehen. Es wird hier eine arme Frau geschildert, der schweres
Unrecht geschieht und die beharrlich dieses Unrecht anmahnt und
heftig Abhilfe von diesem Unrecht erbittet. Sie steht für Menschen,
die beständig die Bitte »Dein Reich komme!« beten, die sich mit dem
ungeheuren Unrecht, das ungezählten Menschen täglich angetan
wird, nicht müde abgeben. Die bittende Witwe ist das Sinnbild der
Christenheit, die leidet an dem, was menschliches Leben so schwer
schädigt und was vor Gott nicht recht ist. Ihr sagt Jesus zu: »Sollte
Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag
und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lang hinziehen? Ich sage
euch, er wird ihnen Recht schaffen in Kürze« (Lk 18,7).
Ebenso verabscheut Jesus das Gebet, mit dem ein Mensch seine
Frömmigkeit vorführt (Mt 6,5). Das Gebet ist ein Reden des Herzens
mit Gott (Luther). Es ist kein Reden mit anderen Menschen, und sei
es zum Zweck, sie zu erbauen. Wo immer der Betende durch sein Gebet,
etwa als Liturg im Gottesdienst, nicht nur Gott, sondern zugleich
anderen zuhörenden Leuten etwas sagen will – womöglich etwas, das
er ihnen längst einmal sagen wollte und das er sich in der freien Rede
Auge in Auge zu sagen nicht traute – missbraucht er das Gebet.
Es ist kein Plädoyer gegen das gemeinsame Gebet, wenn Jesus emp-
fiehlt »Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ
die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist« (Mt
6,6), sondern es ist gegen jeden Missbrauch des Gebets als Mitteilung
an andere oder gar als Demonstration gerichtet. Müssten wir Friedensbewegten,
die wir gern von Martin Luther King lernen, unter diesem
Aspekt auch einmal unsere Gebetspraxis bei Friedensgebeten untersuchen?
So herzlich wir um den Frieden bitten sollen, so leicht kommt
doch ein falscher Nebenton in unser Gebet, wenn wir im Gebet das sagen
wollen, was in einer Ansprache oder im Gespräch gesagt gehört.
Man kann und soll auch auf einer Demo beten. Aber das Gebet taugt
nicht zur Demonstration. Es bleibt ein Reden des Herzens mit Gott.
Im Vaterunser gibt uns Jesus die entscheidende Orientierung, um
was wir bitten sollen. Das dreimalige »Dein« in der ersten Hälfte dieses
Gebets wird ergänzt durch das dreimalige »Unser« im zweiten Teil. Zuerst
geht es im Gebet um Gott, um ihn selbst, und um das, was er tun
will: dass sein Name geheiligt werde – nicht zuletzt von uns! – dass seine
Gottesherrschaft komme – zu uns! – die erlöst und in Ordnung
bringt; dass sein Wille geschehe – nicht zuletzt bei uns und durch uns.
Das Gebet ist keine Möglichkeit, dass wir vor Gott unsere allzumenschlichen
Wunschzettel ausbreiten, die – wie einst die Weihnachtswunschzettel
in wohlhabenden Bürgerhäusern – unter der Überschrift
»Das wünsche ich mir«, stehen. Es geht um das, was Gott tun
will. Nicht umsonst sagt Jesus »Trachtet am ersten nach dem Reich
Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen
« (Mt 6,33).
Und dann, sozusagen in dieser Klammer, die Brotfrage, die
Schuldfrage, die Frage nach Führung und Erlösung. Aber dem »Dein«
entspricht nicht das »Mein«, sondern das »Unser«, wie ja auch Gott
als »unser Vater« angerufen wird. Es geht um unsere Ernährung mit
allem, was dazu gehört, das uns lebensnotwendig ist: Um unsere gemeinsame
Schuld, die wir miteinander vor Gott bringen; es geht darum,
dass wir nicht in Versuchung geführt und darum, dass wir erlöst
werden vom Bösen. Wobei offen bleiben kann, ob hier der oder das
Böse gemeint ist. Es ist immer primär unsere Sache, um die es Gott
geht, nicht meine Sache. Und erst wenn dieses Wort »unser« recht bedacht
ist, kann es dann auch um meine Sache gehen, um das, was ich
brauche zum Leben, um meine persönliche Schuld, um meine Bewahrung
vor Versuchungen und um meine Erlösung vor dem Bösen.
Erhört Gott unser Gebet? Erhörung heißt nicht einfach Erfüllung
unserer Bitten. Der Arzt bleibt Arzt, wenn er dem Patienten wirklich
helfen will. Er lässt sich von ihm nicht das Heft aus der Hand nehmen.
Gott bleibt der Herr, wenn er unser Gebet erhört. Er hilft uns
auf seine Weise. Besser, wir fixieren uns nicht auf unsere Vorstellungen,
wie er helfen soll. Und: »Es gibt ein erfülltes Leben trotz vieler
unerfüllter Wünsche« (Bonhoeffer). Wer das versteht, der kann zuversichtlich
und freudig beten.

Wegworte zum Herunterladen: 31_Rogate (pdf)