Exaudi

Christus spricht: Wenn ich erhöht werde von der Erde,
so will ich sie alle zu mir ziehen.

Das Evangelium nach Johannes 12, 32

Manchmal steht vor mir jenes sehnsüchtig einfache Weihnachtslied
aus dem Mittelalter, in dem einer singt und betet: »Trahe me post te,
trahe me post te.« Das ist gräuliches Mönchslatein, mit dem ich vor
meinem Lateinlehrer nicht hätte bestehen können. Aber die Sache ist
richtig: »Ziehe mich zu dir.«
Danach sehnt sich einer, dem die Welt zu eng wird. Nicht diese
Erde – sie hat viel Platz und sie ist bildschön, so dass es geradezu eine
Sünde oder mindestens eine Geschmacklosigkeit wäre, sie zu verachten.
Aber unser Eingebundensein in tägliche Konflikte, bei denen wir
selbst hin und her schwanken, weil wir spüren: »Da ist keiner, der
Gutes tue, auch nicht einer« (Röm 3,12). Wir selbst nun wirklich
auch nicht. Diese banalen Konflikte ermüden uns.
Unser Hin-und-her-Gerissensein im Eingehen auf andere und in
der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, die mit ihren Auffassungen
uns bestürmen, die von uns Recht bekommen wollen, die ja
teilweise auch Recht haben, denen wir gern gerecht werden würden,
die aber so ungemein schwierig sind und die an uns bewirken, dass
wir durch sie selbst zu »schwierigen Menschen« werden.
Unsere Bemühung, im Leben unsere Spur zu finden und unsere
Spur zu halten, wie schwer wird sie uns in Wind und Wetter im unwegsamen
Gelände. Vor allem, da wir ja auch unseren Weg durchaus
nicht allein gehen. Christian Morgenstern schreibt:

Sieh nicht, was andre tun,
der andern sind so viel,
du kommst nur in ein Spiel,
das nimmer mehr wird ruh’n.
Geh einfach Gottes Pfad,
lass nichts sonst Führer sein,
so gehst du recht und grad,
und gingst du ganz allein.

Ja gut, aber kann einer das, wenn er Familie hat und sich abstimmen
muss mit denen, für deren Wohl und Wehe er sich verantwortlich
weiß? Geht das bei einem, der einen Teil seines Tages in Gremien verbringt,
die demokratisch verfasst sind und auf Mehrheitsfindung angelegt?
Geht das bei einem, der in untergeordneter Position in einer
Firma ist, die erwartet, dass er ausführt, was auf der oberen Etage beschlossen
wurde? Und ginge es, wenn er im Chefsessel sitzen würde?
Sind nicht die Chefs am abhängigsten – von ihren Aufsichtsräten, von
den Aktionären, von der Presse und vor allem von dem Gott unserer
Tage, auf den jeder starrt, von dem Gott Erfolg?
»Trahe me post te!« Wenn ich spüre, dass ich immer wieder zurückfalle
auf die Ebene meiner Triebe, Sehnsüchte, meiner leibseelischen
Schlaffheit und darum wenig von dem zuwege bringe, was ich
als meinen Auftrag vom Herrn meines Lebens erkannt habe? Dass
dieses lähmende Gemisch aus Müdigkeit, Verzagtheit und Willensschwäche
stärker ist? Was dann?
Das Wort aus Johannes 12,32 »Wenn ich erhöht werde von der Erde,
so will ich sie alle zu mir ziehen« ist sowohl am Himmelfahrtsfest
als am darauffolgenden Sonntag Exaudi das Leitwort. Vom Geschehen
der Himmelfahrt Christi wird im Neuen Testament nur in wenigen
Versen berichtet: Markus 16,19; Lukas 24,51; Apostelgeschichte
1,9; andeutungsweise Matthäus 28,16–20.
Es geht bei Jesu Himmelfahrt nicht um eine Art astronautisches
Ereignis. Sonst müssten wir – wie schon einige naturwissenschaftlich
aufgeklärte Theologen im 16. Jahrhundert – fragen, ob Christus denn
schon im Himmel angekommen sei. Und Gagarins Ausspruch nach
dem ersten Weltraumflug im Sputnik, er habe dort oben keinen Herrgott
und keinen Christus gefunden, beruht natürlich auf der irrigen
Voraussetzung, die Christen meinten, Jesus Christus habe irgendwo
im Weltenraum räumlich Platz genommen.
Die Wolke, die ihn bei der Himmelfahrt aufnimmt, ist ebenso die
Verhüllung, die ihn unseren Blicken, unserer sinnlichen Wahrnehmung,
vollends unseren Messgeräten, entreißt. Und sie ist Ausdruck
der Gegenwart Gottes. Die entscheidende Aussage bei der Himmelfahrtsbotschaft
ist: Derselbe Jesus, der auf der untersten Stufe mit den
Ohnmächtigen dieser Erde gelitten hat und weiter leidet, der sich ihr
Wohl und Heil zu seiner Sache gemacht hat, derselbe Jesus Christus,
der in der hilflosesten und entehrendsten Weise den Sklaventod am
Kreuz gestorben ist und der weiterhin in ihnen, die seine Leiden voll
machen, Schande, Verzweiflung und Elend der Menschen erduldet, er
»sitzt zur Rechten Gottes«. Mit ihm teilt Gott seine Macht. Er ist befugt,
das entscheidende Wort zu sprechen über jeden Menschen. Und
ihm steht rechtmäßig die Macht zu in der Auseinandersetzung mit
den menschenfeindlichen und gottfeindlichen Gewalten.
Er will uns, die wir an ihm hängen, zu sich ziehen. Das sollten wir
nicht so verstehen, als wolle er uns dieser Erde, unseren Mitmenschen,
unseren Aufgaben entfremden im Sinn von Rosenmüllers
Chorsatz »Welt ade, ich bin dein müde, ich will nach dem Himmel
zu«. Wer solche Anwandlungen in sich spürt, sollte nicht denken, es
sei der Zug Jesu Christi, den er in sich spürt. Vielleicht, vielleicht,
wenn wir einmal ganz alt sind oder jedenfalls ganz am Ende unserer
physischen Kräfte und unsere Arbeit auf dieser Erde endgültig getan
ist. Aber vorher gilt uns, was der frühere Bundespräsident Johannes
Rau gelegentlich prägnant sagen konnte: »Hier geblieben!«
Auch Paulus, als er ungeniert auf seine gelegentliche Todessehnsucht
hinweist – »ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu
sein, was auch viel besser wäre« (Phil 1,23) – identifiziert diese Lust
durchaus nicht als den Zug des erhöhten Christus; vielmehr begegnet
er dieser seiner Sehnsucht gehorsam und in der vernünftigen Einsicht:
»Aber es ist nötiger im Fleisch zu bleiben, um euretwillen.« Der
erhöhte Christus will nicht, dass seine Leute ihren Platz auf dieser Erde
räumen, bevor er sie nicht zu sich nimmt. Vorher gilt, was Bonhoeffer
zu Silvester 1942 seinen Mitverschwörern schreibt: »Mag sein,
dass der Jüngste Tag morgen anbricht; dann wollen wir gern die Arbeit
für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.«
»So will ich sie alle zu mir ziehen.« Etwa dazu, dass wir uns immer
mehr hineinleben in seine Gedanken, in seine Sicht der Menschen
und ihrer Geschichte, dass wir Anteil bekommen an seiner Gemeinschaft
mit dem Vater, dass wir dann umso mehr mit seinen Augen uns
selbst und unsere Mitmenschen sehen, dass wir unseren Maulwurfsblick
verlieren und über die bedrängenden Tagesereignisse hinaussehen,
uns weder faszinieren noch beängstigen lassen von dem, was uns
in ganz unangebrachte Euphorie oder in noch weniger angebrachte
Panik versetzen will. Vielleicht, dass wir Wilhelm Raabes Wort näherkommen
sollen:

Das Ewige ist stille,
laut die Vergänglichkeit,
schweigend geht Gottes Wille
den Erdenstreit.

»So will ich sie alle zu mir ziehen.« Etwa damit wir dann aus der festen
Verwurzlung mit Christus uns für Menschen einsetzen, die keinen
Fürsprecher haben, für Menschen, die sich selbst durch einen Fehltritt
kompromittiert haben. Und damit wir es mit Gleichmut ertragen,
wenn wir zu ihren Komplizen gemacht werden oder wenn man –
auch in führenden kirchlichen Kreisen – über uns Naivlinge lächelt.
Vielleicht auch, damit wir dort, wo andere nur noch das Ende aller
Friedensbemühungen wahrnehmen und sich resignierend auf die tödliche
Auseinandersetzung einstellen, mit der weißen Fahne vor die Front
gehen und im Namen Jesu Christi bittend Verständigung suchen. Auf
die Gefahr hin, dass unsere eigenen Leute uns in den Rücken schießen,
weil sie behaupten, wir seien ihnen in den Rücken gefallen.
Vielleicht, damit wir fähiger werden, in der Nachfolge Jesu Konflikte,
auch Verletzungen unserer Ehre, zu ertragen und dabei durchaus nicht
in das geraten, was Heinrich Heine einmal »eine schiefe Duldermine«
genannt hat. Damit wir vielmehr frei und gelassen, aber umso entschiedener,
den Weg gehen, den uns der erhöhte Herr weist, und dabei
jene Leichtigkeit empfinden, die man den Engeln nachsagt: sie könnten
darum so weit fliegen, weil sie sich selbst leicht nehmen.
Wenn wir dieses Himmelfahrtswort bedenken, sollten wir auch gerade
die Möglichkeit des Leidens auf dem Weg der Nachfolge Jesu
Christi nicht ausblenden. Es hat immer wieder Ausleger, die über diesen
Wochenspruch nachdenken, befremdet, dass im folgenden Vers
(Joh 12, 33) die Worte stehen: »Das sagte er aber, um zu zeigen, welches
Todes er sterben würde.«
Erhöhung ist bei Johannes die Erhöhung am Kreuz. Leiden und
Herrlichkeit gehen bei ihm merkwürdig zusammen, als würde sich
über eine dunkle Folie eine ganz helle schieben, die dann das Bild
merkwürdig verwandelt. Wen er »zu sich zieht«, der wird nicht den
Konflikten, den Anfechtungen, den Leiden dessen entzogen sein, der
seinen Platz unter seinem Kreuz gefunden hat.

Menschen gehen zu Gott in seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
seh’n ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.
Dietrich Bonhoeffer

Das Himmelfahrtsfest ist kein Jubelfest, bei dem wir diese Wahrheit
ausblenden müssten. Aber es ist der von Gott erhöhte Christus, den
wir am Kreuz finden. Der dornengekrönte Bruder ist der Herr. Es gab
immer wieder Passionslieder (z. B. EG 92 »Christe, du Schöpfer aller
Welt), in denen im johanneischen Sinn die Erhöhung Jesu Christi
schon am Kreuz aufscheint.
Zum Schluss noch zwei Gedanken zum Wort »ziehen«: Wenn
Christus uns müde, verzagte Menschen zu sich zieht, dann ist der idealistische
Gedanke ausgeschlossen, als seien wir zu geistigen oder seelischen
Höhenflügen fähig und als würden unsere Höhenflüge ihn erreichen.
Er zieht uns in seine Sphäre, in seine Gegenwart. Wir
können es uns nur dankbar gefallen lassen.
Und: Das Ziehen setzt ein Seil voraus, das uns mit ihm verbindet.
Es geht darum, dass wir an ihm bleiben! »Bleibet in mir und ich in
euch!« (Joh 15, 4). »Wenn ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid
ihr in Wahrheit meine Jünger« (Joh 8,31). Der Zug des erhöhten
Christus in seine Sphäre, den er an uns ausübt, geschieht nicht durch
irgendetwas, er geschieht nicht durch diese oder jene religiöse Übung,
sondern schlicht dadurch, dass wir an seinem Wort bleiben.

Wegworte zum Herunterladen: 32_Himmelfahrt (pdf)