2. Sonntag nach Trinitatis

Hierher! Zu mir Geknechtete:
Eingespannt in das Joch,
wie ihr seid, und erschöpft von der Last!
Ich will euch ausruhen lassen.

Das Evangelium nach Matthäus 11, 28

Bewusst bringe ich den »Heilandsruf« aus Matthäus 11,28 einmal in
der Übertragung von Walter Jens, die ziemlich genau dem Wortlaut
entlanggeht. Wir kennen ihn in der Fassung: »Kommet her zu mir alle,
die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«
Mancher von uns sieht bei diesem Wort Rembrandts Hundert-Guldenblatt,
auf welchem in einer gewaltigen, dunklen Ruine, die den
Raum dieser Welt bezeichnet, die Gestalten, die aus dem Dunkel kommen,
hin zum Licht zu Jesus drängen. Einzelne geschoben auf dem
Schubkarren, geführt, getragen, gestützt. Die von ihrem Leben Zugerichteten,
auch der zweifelnde Thomas sitzt zu Jesu Füßen. Und dass
auf der linken, hellen Seite des Bildes Schriftgelehrte und Pharisäer
miteinander ziemlich respektlos über Jesus und seine Lehre diskutieren,
damit will der Maler vielleicht sagen: Auch sie sind geknechtet,
eingespannt in das Joch, in ein Joch, das ihnen so nicht Gott auferlegt
hat, das sie sich selbst auferlegen und in das sie andere Menschen einspannen?
Es ist die Nötigung, sich selbst, seine eigene Existenzberechtigung,
den Sinn des eigenen Lebens erarbeiten, nachweisen zu müssen
durch ein moralisch erfolgreiches, frommes Leben. Menschen, die unter
dem Joch dieser Überforderung leben, bedrückt und bedrückend,
sind auch mühselig, sie besonders, ihre aufgesetzten selbstbewussten
Mienen können uns nicht darüber hinwegtäuschen. Auch ihnen, ihnen
besonders, gilt Jesu Ruf »Hierher! Zu mir Geknechtete!«
Geknechtete, Mühselige, Beladene. Ganz gewiss sind jene Menschen
gemeint, die durch körperliche Behinderungen ein sehr eingeschränktes
Leben führen müssen. Sie sehen andere ihres Alters, die
laufen und springen, die sich selbst helfen können, die zu sportlichen
Leistungen fähig sind. Sie selbst müssen mit ihrer Unbeholfenheit le-
ben, müssen ständig jemanden bitten, haben oft gräuliche Rückenschmerzen,
wollen andere nicht mit ihren Nöten behelligen. Sie brauchen
Rücksicht, aber sie wollen nicht das Mitleid, das einen Menschen
noch mehr demütigt. Sie erleben es, dass sie auf der Straße mit
»du« angequatscht werden, als seien sie nicht Erwachsene wie andere
auch. Sie müssen mit penetranten Blicken zurechtkommen, die sie
peinigen. Wenn kleine Kinder sie so anstarren und vielleicht entsprechende
Kommentare abgeben, das kann sogar ganz lustig sein. Aber
Erwachsene!
Es ist gut, dass körperbehinderte Menschen sich heute zusammentun,
Behindertenverbände bilden, dass wir Behindertenvertreter haben,
auch in der Kirche. Dass Betriebe darauf verpflichtet werden,
wenigstens eine gewisse Anzahl von behinderten Menschen einzustellen.
Es darf nicht sein, dass im zunehmenden Konkurrenzkampf behinderte
Menschen nach und nach ausgesondert werden, weil sie mit
anderen nicht mehr konkurrieren können. Es ist gut, dass auch körperbehinderte
Menschen sich schreibend zu Wort melden und ihre
Situation auch literarisch zur Sprache bringen. Ich entsinne mich gerne
einer Lesung von Ursula Egli aus der Schweiz – eine Freundin hatte
sie, die an ihren Rollstuhl gefesselt war, in einem Kastenwagen nach
Ulm transportiert – und wie sie mit freudigem Stolz ins Gästebuch
geschrieben hat: »Wir Behinderten kommen überall hin. Man muss
uns nur mitnehmen.«
Ja, körperbehinderten Menschen steht die Nähe Jesu besonders
offen. Denn bei ihm gelten nicht die Schönheits- und Kraftideale,
denen Menschen, meist unbewusst, nachhängen und die stündlich
durch die Werbung weiter transportiert und vertieft werden. In der
Nähe Jesu gilt der von Gott geliebte Mensch, er selbst, nicht sein äußeres
Erscheinungsbild.
Und ganz gewiss gilt das von geistig behinderten Menschen, die
wohl spüren, aber gar nicht sagen können, was sie bedrückt. Die von
sehr vielen Menschen gar nicht als Ansprechpartner wahrgenommen
werden. Wenn meine Frau oder ich unsere geistig und körperlich
schwer behinderte Tochter Esther durch die Stadt fahren und ein Bekannter
uns begegnet, kommt es sehr oft vor, dass er nur uns begrüßt
und dass er für Esther keinen Gruß, geschweige denn ein Wort übrig
hat. Er übersieht sie verlegen. Er unterhält sich mit mir auf unserer
Höhe, über Esthers Kopf hinweg. Dabei würde sich Esther schon am
bescheidensten »Hallo Esther« freuen. »Sehet zu, dass ihr nicht jemand
von diesen Kleinen verachtet, denn ich sage euch: Ihre Engel
im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel«
(Mt 18,10). Sie haben vor Gott ihre ständige Vertretung. Gott hört,
Gott fühlt, Gott weiß, wie es ihnen derzeit geht.
Unsere Gemeinden sind großenteils davon geprägt, dass in dieser
und jener Weise behinderte Menschen in ihnen zusammen sind, sodass
wir mit Paulus, wenn er an die Korinther denkt, sagen müssen:
»… nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht
viele Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat
Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was
schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden
mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete
hat Gott erwählt, das da nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas
ist, auf dass sich vor Gott kein Fleisch rühme« (1. Kor 1,26–29).
Geniert uns das?

Friedrich Nietzsche fand es, je älter er wurde, als eine Genugtuung,
das Christentum als den Aufstand der Minderwertigen, der Sklaven,
der zu kurz Gekommenen, der Abfallelemente aller Art, der am Boden
Kriechenden gegen alles, was Größe hat, zu diffamieren. Und immer
wieder lassen sich Christen von dieser Schelte beeindrucken. Ich
habe als Vater einer schwer behinderten Tochter diese wütenden Angriffe
des kranken Philosophen mehr verstehen gelernt als Ausdruck
seiner immer hemmungsloser werdenden Furcht vor dem Zustand
der geistigen und körperlichen Behinderung, den er in sich selbst vorausspürte.
Der Mensch hasst, was ihn bedroht. Das ist verständlich.
Kurz vor seinem völligen Zusammenbruch in Turin steigert sich seine
Hassrhetorik in seinen Schriften »Ecce homo« und »der Antichrist« zu
einem nun wirklich krankhaften Furioso, das ganz eindeutig den manisch
depressiven Verfasser verrät. Das Beispiel Friedrich Nietzsche
zeigt mir: Ein bedauernswert schwacher, von Ängsten gepeinigter
Mensch wird aggressiv gegen behinderte Menschen. Ein in sich Gefestigter,
der in einer gewissen Ich-Stärke lebt, hat das nicht nötig. Es
ist kein Zufall, dass Adolf Hitler, dessen psychopathische Eigenschaf-
ten Fachleuten wie dem Psychiater Karl Bonhoeffer und seinen Berliner
Kollegen von Anfang an deutlich waren, diesem und keinem anderen
Philosophen einen Kranz ans Grab niederlegen ließ. Sein
psychopathischer Hass auf die angeblich Minderwertigen in der »Aktion
Gnadentod« fand im zehntausendfachen Massenmord der hilflosesten
Menschen seinen furchtbaren Ausdruck.
Sören Kierkegaard hat in der Auslegung dieses Wortes in seiner
Schrift »Einübung im Christentum« besonders auf dieses Wörtchen
»alle« hingewiesen. Ausnahmslos alle, die belastet sind, was immer ihre
Last sei, lädt er zu sich. Da ist auch der hoch Qualifizierte gemeint,
der sehr folgenreiche Entscheidungen zu treffen hat, der mit seiner
Gewissenslast leben muss. Der Forscher, der sich quält mit der Frage,
was andere aus seinen Forschungen machen werden und ob sein Lebenswerk
dann wirklich der Menschheit Gutes bringen wird. Ich
denke an den Atomphysiker und Kirchengemeinderat Max Planck,
der fast wahnsinnig wurde, nachdem die Amerikaner die Bombe in
Hiroshima gezündet hatten. Da ist der Politiker eingeladen, der für
Frieden und Gerechtigkeit angetreten ist und dem es geht wie Paulus:
»Ich bewirke nicht, was ich will; sondern was ich hasse, bewirke
ich… Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute, das finde ich
nicht« (Röm 7,15.18). Da ist auch der Prominente angesprochen,
den unanständige Presseorgane in den Dreck ziehen und der gegen
das Häme-Gericht machtlos ist.

Jesus ruft Menschen zu sich. Er ruft nicht zu dieser oder jener
hilfreichen Lehre und nicht zu dieser oder jener Meditationspraxis
auf, in der wir in uns den verlorenen Frieden wiederfinden; sondern
er ruft uns schlicht zu sich. Hilfreicher Glaube bedeutet Leben in einer
persönlichen Beziehung zu Jesus Christus, die er uns eröffnet.
Kurz vorher die Worte: »Alles ist mir übergeben vom Vater…« Es ist
die göttliche Vollmacht, in der er mit uns Gemeinschaft hat. So kann
er uns im Gegenüber Kräfte vermitteln, die aus Gottes Kraft geschöpft
sind.
Und was geschieht in dieser Gemeinschaft? »Ich will euch ausruhen
lassen«, Luther übersetzt »Ich will euch erquicken.« Er sagt nicht,
dass er uns unsere Lasten einfach abnimmt. Die Behinderung bleibt,
die Gewissenslast bleibt, die offenen Fragen nach dem Sinn unseres
Tuns bleiben. Es bleiben auch Konflikte, in die wir gestellt sind. Wir
werden nicht aus der Schusslinie in irgendwelche konfliktfreien Zonen
genommen. Und der Gegner, der uns mit seiner unanständigen Art
peinigt, wird nicht plötzlich uns zuliebe anständig. Es bleiben viele
bedrückende Fragen offen. Sie werden uns auch morgen beschäftigen.
Aber wir dürfen bei ihm »ausruhen«, aufatmen, Kraft und Mut
schöpfen. Auch eine Gelassenheit, die uns im Konflikt mit unseren
Aufgaben sehr leicht abhanden kommt. Wir erfahren in der Gemeinschaft
mit ihm, was es bedeutet, dass er sagt: »In mir habt ihr Frieden.
In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden«
(Joh 16,33).
Noch ein Gedanke dazu: Dietrich Bonhoeffer, der immer wieder
auch im Gegenüber zu Friedrich Nietzsche über den Weg des Christentums
nachdenkt, äußert in seinen Briefen aus dem Gefängnis in
Tegel gelegentlich, man habe Gott zu sehr an den Rändern des Daseins,
in den so genannten Grenzsituationen von Schuld und Tod angesiedelt.
Wo der Mensch mit seinen Kräften am Ende sei, da lasse er
dann gern Gott kommen und das Problem lösen. Gott erscheine
dann wie im antiken Theater als der »Deus ex machina«, der Gott, der
aus den Theaterkulissen einschwebe, um den Konflikt zu lösen. Indem
man Gott sozusagen am Rand unseres Vermögens angesiedelt
habe, lasse man ihn die Funktion eines Lückenbüßers ausfüllen. Und
dass wir ihn einseitig als den Heiland aller Kranken und Gescheiterten
verstünden, das habe bei nicht wenigen Christen, wohl auch bei
Pfarrern, die Folge, dass sie alles Gesunde, Gute, Starke, zuerst krank
reden oder gar krank machen würden, um dann mit der Botschaft
vom »Heiland« landen zu können. Diesen »pfäffischen Trick« würden
viele Menschen durchschauen und dann vom christlichen Glauben
und der Kirche Abstand nehmen. Bonhoeffer, der in den vierziger
Jahren im Gegenüber zu den Männern der Verschwörung gegen Hitler
Theologie treibt, distanziert sich entschieden von dieser Verdrängung
Gottes an die Ränder unserer Existenz. »Gott ist… kein Lückenbüßer;
nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten
im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im
Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln
und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden.« Die Kir-
che sei mitten im Dorf. So sei Gott nicht an den Rändern, sondern
mitten in unserem Leben.
Bonhoeffers diesbezügliche Bedenken schmälern nicht den Heilandsruf
Jesu, seine Einladung an alle, die an den Grenzen ihrer Kraft
stehen. Aber sie können uns davor bewahren, Gottes Wirken erst dort
beginnen zu lassen, wo wir am Ende sind.

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