4. Sonntag nach Trinitatis

Einer trage des anderen Last,
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Der Brief des Paulus an die Galater 6, 2

Von Ernst Barlach stammt ein merkwürdiges Halbrelief. Sein Titel
lautet »Der Blinde und der Lahme«. Der Blinde sieht nichts. Er ist
zwar stark und hat ganz gute Beine. Aber weil er nichts sieht, ist er
völlig hilflos und ständig in der Gefahr, in diese oder jene Baugrube
zu stürzen, die Böschung hinunterzufallen, einem anderen vor den
Wagen zu laufen. Der Lahme sieht sehr gut. Aber er kann nicht auf
seine eigenen Beine stehen. Auf Barlachs Relief hat der Blinde den
Lahmen auf seine Schultern gesetzt. Der Lahme leitet ihn, der Blinde
geht. So kommen sie beide recht ordentlich voran. Denn einer trägt
die Last des anderen.
Es soll keiner und keine von uns meinen, er oder sie würde nur die
Last anderer tragen. Je enger Menschen mit uns zusammenleben, desto
spürbarer werden auch wir ihnen zur Last. Selbst das schwer behinderte
Kind, das den Eindruck macht, als sei es nur Objekt der Fürsorge,
von dem mancher ganz ungeniert so redet, als sei es nur noch eine
Last, weiter nichts, trägt die Last seiner Eltern, ihre Erschöpfung, ihre
Stimmungen, ihre Verzweiflung, ihren Kleinglauben, ihr Aufbegehren
gegen ihr Geschick, ihr Hadern mit Gott. Und dieses Kind trägt die
Last der Eltern ganz hilflos. Es kann nicht einmal mit ihnen darüber
diskutieren.
Das sollen sich auch Eheleute sagen. Sie sind einander nicht nur
eine Lust, sondern wohl auch eine Last. Es ist besser, die Wahrheit
gelten zu lassen, als sie zugunsten einer idealistischenÜberhöhung der
Ehe zu verdrängen. »Du glaubst, du seist der Schönste wohl auf der
ganzen Welt ja Welt, und auch der Angenehmste, ist aber weit gefehlt.«
Des anderen Last. Das kann seine Sucht sein, in die er immer wieder
zurückfällt. Oder seine Krankheit, die ihn ganz schwach werden
lässt. Seine Neigung zur depressiven Verspannung. Sein offensichtlicher
Tick, den er – vielleicht aus frühkindlichen Schockerfahrungen
– an sich trägt. Seine Neigung, aus jeder Mucke einen Elefanten zu
machen und ständig neu in Panik zu geraten. Seine Angst, die er oft
kaum bändigen kann. Aber auch etwa sein vorlautes Mundwerk, das
oft jede sachliche Arbeit gefährdet, sein Hang zur Übertreibung, der
auch ein normales Gespräch plötzlich zum Psychodrama werden lässt.
Seine Furcht um sein eigenes Ich.
Des anderen – oder auch meine – Last; dass einer, wie Karl Barth
einmal schreibt, den anderen Menschen mit dem am nachhaltigsten
auf die Nerven geht, was er für seine größte Stärke hält. Des anderen
Last: Seine übermäßige Ordnungsliebe, vor der jeder Mensch zum
hoffnungslosen Schlamper wird. Oder seine zunehmende Unzuverlässigkeit.
Sein unstillbares Bedürfnis, der Beste, der Interessanteste, der
Genialste, der Tüchtigste, der Unschuldigste, der Gerechteste, der
Frömmste, der Verruchteste, der Verworfenste, der genial Gefährdetste
zu sein, kurzum, sich immer in Superlativen zu bewegen oder, wie
Eduard Mörike es nennt, ein »sehrhafter« Mensch zu sein, vor dessen
Eigenschaften jeweils mindestens das Wort »sehr« zu setzen ist.
Des anderen – oder meine? – Last kann aber auch sein, dass ein
Mensch mit sich eine Altlast herumträgt, die ihm andere bei Gelegenheit
böse oder hämisch vorhalten. Oder er trägt sie heimlich mit sich,
weil er nicht will, dass andere mit ihren harten Urteilen ihm das antun,
was er selbst immer neu anderen angetan hat.
Vielleicht ist die schwerste Last, die wir einander zu tragen geben,
die Selbstgerechtigkeit, in der wir Steine auf andere werfen, ohne zu
merken, dass wir selbst im Glashaus sitzen. Ein Mensch, der sich seiner
Schwäche bewusst ist, ist viel leichter zu ertragen als einer, der
vom hohen Ross herab mit Urteilen um sich wirft und dabei gar nicht
mehr wahrnimmt, wie er selbst auf andere wirkt.
Warum steht das Wort »Einer trage des anderen Last« gerade im
Brief des Paulus an die Galater, in seinem wohl streitbarsten Brief? Er
setzt sich in ihm mit Menschen auseinander, die, obgleich sie Christen
geworden sind und gelernt haben, in aller Freiheit die Frage, wie
sie vor Gott und voreinander dastehen, dem lieben Gott zu überlassen,
plötzlich wieder zurückfielen in eine ängstliche Haltung. Sie wagen
es nicht, sich der Freiheit anzuvertrauen, die sich der Gottes- und
Nächstenliebe überlässt, sie wollen sozusagen auf Nummer sicher
gehen, das Gesetz Moses in seinen Einzelheiten halten, um dadurch
»Sicherheiten« zu gewinnen, dem Urteil Gottes gegenüber. Mit der
Folge, dass sie andere eng und lieblos beurteilen und dass sie mit
Menschen, denen der jüdische Speisezettel samt Reinigungsriten und
Sabbatordnung fremd sind, nicht mehr am selben Essenstisch sitzen
können.
Sie ruft Paulus mit beschwörenden Worten zurück in die Freiheit,
zu der uns Christus befreit hat. Dies ist ja nun wirklich keine Freiheit,
dem anderen die Ellbogen in die Rippen zu schlagen oder den anderen
linksliegen zu lassen, vielmehr: jene Freiheit, in der ein Mensch
andere Menschen mit den aufmerksamen und verstehenden Augen
Jesu sieht und darauf aus ist, dem anderen zu helfen, seine Last zu tragen.
»Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi
erfüllen.« Und damit ist die Lebensordnung Jesu Christi gemeint.
Das ist die Haltung Jesu, zu der Paulus die Christen der Provinz
Galatien zurückführen will. Jene Bereitschaft, sich, soweit möglich, in
die Lage des anderen hineinzuversetzen, statt ihm distanziert urteilend
gegenüberzutreten; den Richtertisch zu verlassen und sich zu
dem Angeklagten auf eine und dieselbe Bank zu setzen.
Können wir uns diese Haltung denn leisten, wo wir doch selbst genug
Lasten mit uns herumschleppen? Gebietet uns nicht der Wille,
uns selbst zu schützen, maßvoll und wählerisch unser Mitleiden mit
anderen zu dosieren, wohl wissend, dass wir selbst keine Heilandsgestalten
sind? Und gibt es nicht auch ein ganz unangenehmes Helfersyndrom,
in welchem sich ein Mensch nur wohl fühlt, wenn ihn andere
in der Rolle des hingebungsvollen Helfers und Lastträgers sehen?
Könnten wir nicht leicht in die Rolle des Winkelried geraten, der alle
Speere auf seine eigene Brust lenkt, damit andere über ihn hinweg in
die Gasse, zu der er geworden ist, und durch sie in die Freiheit laufen?
Ist nicht unsere Bereitschaft, Lasten anderer zu tragen, so sehr vom
Abgleiten in Fehlhaltungen bedroht, dass wir am Besten im Ganzen
nach dem Motto leben »jeder ist sich selbst der Nächste« und »sehe
jeder selbst, wie er zurande kommt“? Wie können wir dieses Wort erfüllen,
ohne uns selbst in Unmögliches zu verrennen und ohne dem
Helfersyndrom zu verfallen?
Dreierlei erscheint mir wichtig. Das Erste: dass wir die Menschen,
deren Last uns begegnet, die uns Gott über den Weg schickt und die
er uns auf die Seele bindet, in der Fürbitte vor Gott bringen. Wenn
ich für einen Menschen bete, dann löst sich bei mir ganz von selbst
die Verkrampfung, als hinge alles von mir ab. Ich bitte Gott, ihm zu
helfen. Ich bete für ihn im Namen Jesu Christi, der seine Last längst
auf sich genommen hat. Gott kann ihm helfen, durch mich und/oder
durch andere Menschen, von denen er sehr viele zur Verfügung hat.
Das Zweite: Ich muss meine eigene Last nicht verschweigen, darf
mich mit meiner Last anderen Menschen zumuten. Ich darf es mir
gefallen lassen, dass sie als Schwestern und Brüder meine Last mittragen.
Das wird freilich am besten mehr im vertrauteren Raum geschehen.
Meine persönliche Last mache ich lieber nicht zum Gegenstand
des öffentlichen Interesses. Aber ein paar Menschen, die davon wissen
wollen, dürfen und sollen davon wissen. Der trutzige Satz »Damit
muss ich allein zurecht kommen, das geht niemanden etwas an« ist in
seiner Trostlosigkeit nicht christlich. Erst wenn ich es mir gefallen lasse,
dass andere meine Last mittragen, erst dann kann ich anderer Leute
Last tragen. Erst wenn ich mir helfen lasse, kann ich anderen helfen.
Das Dritte: Solange wir den Satz »Einer trage des anderen Last« als
Aufforderung an Einzelne weitergeben, richten wir vor ihnen eine
Forderung auf, an der sie scheitern. Unwillige Abwehrreaktionen dürfen
uns nicht wundern. Dieser Satz gehört in eine Gemeinschaft, in
der die »Lebensgesetze« des Leibes Christi gelebt werden. Die Gemeinde,
die im Geist Jesu Christi gemeinschaftlich lebt, ist der Ort,
an dem die Mahnung oder besser die Bitte »einer trage des anderen
Last …« ihren angemessenen Platz hat.
Und noch ein Letztes zum Thema »Last«. »Der Übel größtes ist die
Schuld«, sagt in seiner Tragödie ›Die Braut von Messina‹ Friedrich
Schiller mit Recht. Die Schuld, die wir mit uns herumtragen, die offenbare
und fast noch mehr die verborgene, die verdrängte wie die
Schuld, deren wir uns sehr wohl bewusst sind, ist die schwerste Last.
Wir bringen sie mit unserer eigenen Schuld vor Gott und bitten:
»Und vergib uns unsere Schuld …« Wir können und sollen aber auch
auf den schuldbeladenen Menschen zugehen in der Haltung »Dir
sind deine Sünden vergeben«. Selten wird vermutlich ein solches
Wort direkt in unserem Gespräch gesagt werden. Wir haben eine be-
gründete Scheu, das Heilige in den Mund zu nehmen. Und doch
wird jeder Mensch, der mir begegnet, bald spüren, ob meine Art, mit
ihm umzugehen, darauf gerichtet ist, ihn bei dem, was er sich und anderen
schuldig bleibt, zu behaften, ihn womöglich auf seine Fehlleistungen
und Versäumnisse festzunageln, oder ob ich in der Begegnung
mit ihm durchdrungen bin von dieser Botschaft »Dir sind deine Sünden
vergeben«. Alles an uns bezeugt oder verleugnet diese Kernbotschaft
des Evangeliums. Und daran, ob diese Botschaft und keine andere
uns bestimmt, wird sich entscheiden, ob wir fähig sind, des
anderen Last zu tragen und der Lebensordnung Jesu Christi zu entsprechen.

Wegworte zum Herunterladen: 38_4.So.n.Trinitatis (pdf)