5. Sonntag nach Trinitatis

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben,
und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.

Der Brief des Paulus an die Epheser 2, 8

Wenn wir den Zusammenhang lesen, in dem dieser Satz steht, dann fällt
es uns auf, wie tief die Lebenswende gewesen sein muss, die Menschen
in Ephesus hinter sich hatten, nachdem sie Christen geworden waren.
An starken Ausdrücken, die den Zustand vor dem Christwerden
bezeichnen, fehlt es nicht: »Tot in Sünden« seien sie gewesen, dem
»Mächtigen, der in der Luft herrscht« – ist das eine Umschreibung des
»Fürsten dieser Welt«, des Teufels? – hätten sie gehorcht. Reine Triebmenschen
seien sie gewesen, denen ihre Triebbefriedigung das Wesentliche
im Leben gewesen sei, »Kinder des Zorns« von Natur, also
Leute, die sich so aufführen, dass man den Eindruck hat, Gott habe
sie am Tag des Zorns erschaffen. Und so würden sie dann auch leben
und wirken, Menschen, bei deren Leben gar nichts Gutes herauskommen
kann, weil sie von bösen Mächten getrieben sind.
Und dann beschreibt er in den hellsten Tönen die große Wende:
Die tot waren in Sünden, habe Gott durch den auferstandenen Christus
in einer Art Auferweckung von den Toten lebendig gemacht. Er habe
sie ›in das himmlische Wesen‹ gesetzt, indem er sie in die Gemeinde
Jesu geführt und damit zu Gliedern seines Leibes gemacht habe. Der
Reichtum seiner Gnade habe ihr Leben total verwandelt. Und dann
dieses Wort, das zum Wochenspruch am 5. Sonntag nach Trinitatis
wurde: »Aus Gnade seid ihr selig (oder: gerettet) worden durch Glauben
und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken,
damit sich niemand rühme.«
Viele haben eine solche tiefe Wende in ihrem Leben nicht erlebt.
Manche kommen aus ziemlich christlichen Häusern, einige aus Pfarrhäusern.
Nicht dass sie deswegen sozusagen durch die Gene oder
durch die Muttermilch zu gläubigen Christen geworden wären. Auch
ein frommes oder kirchliches Elternhaus hat seine spezifischen Probleme.
Und Eltern können nicht – wie man es heute auch aus bischöfli-
chem Mund immer wieder hört – den Glauben weitergeben. Der
Glaube ist das freie Geschenk des Geistes Gottes, der weht, wo er will,
der beschenkt, wen er will, der auch durchaus nicht unseren zeitlichen
Erwartungen entspricht. Er setzt sich selbst den Zeitpunkt, an
dem er in einem Menschen wirken will. Es kann oft merkwürdig lang
dauern. Und es kann der Funke oft zu einem Zeitpunkt überspringen,
an dem man damit nicht gerechnet hätte. Der Geist Gottes wirkt
dort, wo und wann es Gott gefällt.
Aber ganz ohne Vermittlung der Menschen, sozusagen senkrecht
von oben, wirkt der Geist doch relativ selten. Die meisten von uns
hatten auf ihrem Lebensweg Menschen, die ihnen etwas verkörpert
haben vom Reichtum der Gnade Gottes. Es waren weniger die faszinierenden,
mitreißenden Gestalten. Diese konnten in unserem Leben
manches Strohfeuer anzünden. Aber was blieb davon außer Ernüchterung
und Enttäuschung? Es waren dagegen oft stille, bescheidene
Leute, aus denen etwas »herausgeleuchtet« hat von dem, was man
Gnade oder Freiheit nennen könnte. Vielleicht geschah das nur in einem
kurzen Augenblick, in einem kurzen Gespräch, in dem eine
wirkliche Leidenschaft für die Sache Jesu Christi spürbar wurde.
Im Ulmer Münster haben im Jahr 1533 die Bilderstürmer sämtliche
Heiligenfiguren »mit Stricken umwunden und mit Pferden geschleift«.
Sie hatten genug von der Verquickung von Heiligenverehrung
und Seelenschacher, von finanzieller Ausbeutung der Seelenängste
der Leute im Ablasswesen. Luther und Brenz wollten von einer
solchen Reformation mit der Axt und dem Stemmeisen in der Hand
nichts wissen. Aber es gab eben in allen Bewegungen Leute, die gröber
gestrickt sind, die »etwas Starkes tun« wollen.
Dann blieben die Sockel bis 1880 leer, 350 Jahre immerhin. Und
dann haben Ulmer Bürgerfamilien ihre milde Hand aufgetan und haben
neue Heiligengestalten in Stein hauen und auf die leeren Sockel
stellen lassen. Da stehen sie seither, Propheten und Apostel, in den
Seitenschiffen die Zivilisten, Kaiser, Herzöge, im Südschiff protestantische
Theologen, Musiker etc.
Etwa ein Viertel der Sockel sind noch leer. Und hoffentlich entsteht
in Ulm keine Spenderinitiative von Leuten, die sie unbedingt
füllen wollen. Denn diese leeren Sockel an den Säulen können wir im
Geist bevölkern, mit den Leuten, die uns in unserem Leben zu Werkzeugen
der Gnade Gottes wurden. Wen würden Sie auf einen solchen
Sockel stellen? Vermutlich Menschen, deren Namen kaum einer von
uns je gehört oder gelesen hat, unbekannte Menschen, die Ihnen
irgendwann begegnet sind, die Ihnen an irgendeiner Wegbiegung
oder in irgendeinem tiefen Tal Ihres Lebens den Weg gezeigt, die Last
ein Stück weit abgenommen oder mitgetragen haben. Vielleicht auch
dann und wann ein Mensch, der die Gabe hatte, Sie mit seinen Worten
in die Geschichte Gottes mit seinen Menschen hineinzunehmen.
Können wir etwas dazu, dass uns solche Menschen begegnet sind?
Dass sie auf uns diese und keine andere Wirkung hatten? Vielleicht
kennen Sie Jugendfreunde, die Ihnen, wenn sie hören würden, dass
Sie gerade diesen Menschen auf den Sockel der Wegweisenden stellen
wollten, sagen würden: Der? Nie und nimmer! Den habe ich ganz
anders erlebt! Mag sein! Aber Sie haben ihn so erlebt. Ihnen wurde er
zum Werkzeug des Segens.
Sind Sie dankbar, dass es in Ihrem Leben solche Menschen gab?
Können Sie noch Namen nennen? Haben Sie diesem oder jenem
schon einmal Ihren Dank ausgedrückt? Wollen Sie das irgendwann
tun?
Oder gehen Sie mit ganz anderen Eindrücken um? Mit der Erinnerung
an Christen, die sich in Ihren Augen als pure Heuchler entpuppt
haben? Menschen, die Sie gepeinigt haben, durch deren Gegenwart
es Ihnen lange Zeit fast unmöglich war, am christlichen
Glauben irgendetwas Gutes zu finden? Womöglich Menschen, die wie
der Engel mit dem hauenden Schwert Ihnen vor der Tür zum Garten
Eden stehen und Ihnen den Zutritt verwehren?
Wenn Sie trotz solcher faulen Knechte doch wenigstens zu Ansätzen
des Glaubens kamen, was für ein Glück! Wie erstaunlich.
Aber, so oder so, es ist, recht verstanden, Zufall, ob es nun so oder
so ging. Zufall nicht im Sinn von blindem Zufall, sondern Zufall im
wörtlichen Sinn: Es ist Ihnen und mir zugefallen. Wir haben das weder
erarbeitet noch inszeniert; wir hätten es auch in keiner Weise machen
oder uns verdienen können. Es ist Gottes Wirken an uns, dann
und wann es Gott gefällt.
Waren in Ephesus einige Leute drauf und dran, sich selbst etwas
darauf zu Gute zu halten, dass sie Christen geworden sind? Etwa so:
Ich war schon immer ein wertvoller Mensch, ein Suchender, einer, der
es wert ist, dass Gott sich mit ihm abgibt, einer, bei dem die göttliche
und menschliche Mühe einen Wert hat?
Haben einige Epheser, die so über sich dachten, andere im Stillen
verachtet: hoffnungsloser Fall, bei dem greift keine Bemühung, wo
soll sie denn anknüpfen? Er ist ein ein fleischlicher Mensch, Höheres
zieht da nicht!
Stecken in uns womöglich auch solche Gedanken? Oder wirken
wir so, dass man meinen könnte, wir würden die Menschen auch so
einteilen?
Wie immer, es ist wieder Zeit, dass wir uns sagen lassen: dass wir
Christen wurden, ist reines Geschenk, hat mit irgendwelchen inneren
Werten, an denen Gott hätte anknüpfen können, rein gar nichts zu
tun. Wir können nur beschämt Gott danken.
Ich weiß wohl, dass, wenn wir die Linien dieser Auffassung logisch
exakt ausführen, wir auf schwierige Gedanken kommen. Johannes
Calvin, der konsequente Denker, hat die Linien so exakt ausgezogen,
dass daraus seine Lehre von der doppelten Prädestination wurde: Gott
hat (nach seiner Auffassung) die einen zum Heil, die anderen (nicht
wenige!) zum Unheil bestimmt. Und was immer geschieht, es ist nur
die Ausführung seines vorzeitigen Prädestinationsratschlusses.
Soweit müssen wir nicht gehen. Und Calvin hätte möglicherweise
auch besser getan, seinen allzu konsequenten Gedanken in dieser Sache
Zügel anzulegen. Es gibt Fragen, in denen uns eine wissende Ignoranz,
mehr ziemt.
Folgern wir aus der Tatsache, dass es pure Gnade ist, wenn Gott
uns zu Christen hat werden lassen, dass er anderen Menschen jederzeit
dieselbe Gnade auch geben kann. Wenn wir diese Gnade durch
nichts verdient haben, dann kann Gott mit seinem Geist auch in
Menschen wirken, die wie wir es durchaus nicht wert sind. Nehmen
wir die Schere aus dem Hirn, mit der wir ständig Menschen sortieren
und solche abtrennen, bei denen wir meinen, für sie sei das Christsein
und Christwerden nichts. Das sei alles für die Katz, weil sie kein Sensorium
für Geistliches hätten. »Die Ersten werden die Letzten, die
Letzten werden die Ersten sein«, sagt Jesus (Mt 19,30). Man soll nie
nie sagen. Und, wer weiß, vielleicht kann Gott gerade Sie und mich
bei solchen Menschen brauchen, um sie dem Reichtum seiner Gnade
begegnen zu lassen. Warum eigentlich nicht? Wir sollten ganz anders
auf die Leute zugehen und sollten uns Gott viel rückhaltloser als bisher
zur Verfügung stellen. Vielleicht wäre das die angemessene Art,
für das, was wir in unserem Leben empfangen haben, zu danken.

Wegworte zum Herunterladen: 39_5.So.n.Trinitatis (pdf)