6. Sonntag nach Trinitatis

So spricht der Herr, der dich geschaffen hat:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein.

Der Prophet Jesaja 43, 1

Wir sollten dieses Wort, das wir oft bei Taufen, als Denkspruch bei
der Konfirmation, als Wort zur Trauung benutzen, nicht zuerst auf
uns persönlich beziehen. Es ist zu Israel gesagt, dem von Gott zuerst
und besonders erwählten Volk. Zu dem Volk, das sein Geschöpf ist.
Er hat es entstehen lassen durch die Erzväter, als er Jakob, dem Kämpfer
um Gott, in der langen schweren Nacht am Jabok (1. Mose 32),
den Namen Israel gab. Als er durch Joseph die Söhne Jakobs und ihre
Familien vom Hungertod rettete, in Ägypten, als er sie trotz aller Bedrohung
und aller Dezimierungsmaßnahmen des Pharao wachsen
ließ. Und besonders als er dieses Volk befreite von der tödlichen Gewalt
aus dem Knechtshaus, als er es durch das Rote Meer gerettet hat,
ihnen am Sinai die Thora gab, es durch die hundert Gefahren der
Wüste ins Gelobte Land geleitet hat. Es war das Leben dieses Volkes
immer neu ein Sterben und Auferstehen. So ist er für dieses Volk Israel
»der Herr, der dich geschaffen hat«.
»Der Herr!« Diesen Begriff würden manche von uns, die noch in
den Spätfolgen der antiautoritären Welle stecken, am liebsten abschaffen.
Ist ihnen wirklich geholfen, wenn sie in Bibelübersetzungen für
den Kirchentag das Wort »der Herr« durch das hebräische Adonai ersetzen?
»Der Herr« meint viel weniger ein autoritäres Verhältnis zwischen
Herrn und Knecht. Der Herr ist im Alten Testament der Gott,
der den feindlichen Gewalten, die sein Volk vernichten wollen, gebietet,
der sein Volk aus dem Knechtshaus in die Freiheit führt. Das ging
mir besonders auf, als ich in der Gorbatschow-Ära, während der so
genannten Perestroika in Brest (Weißrussland) vier Stunden den Rednern
bei einer öffentlichen Taufe im Fluss Bug zuhörte. Mit welcher
Wonne haben sie das Wort »Gospodin« gerufen. Es konnte nicht oft
genug vorkommen. »Gospodin, Herr!« Und der Klang dieses Wortes
in ihrem Mund war wie »Freiheit!« und »Glaubt ja nicht, dass ihr uns
noch einschüchtern könnt, ihr vom KGB, eure Tage sind gezählt. Wir
fürchten uns nicht mehr!«
So ähnlich wird es geklungen haben, wenn Hebräer in den bösen,
gefahrvollen Jahrzehnten ihrer Geschichte, als sie bedrückt, bedroht,
schließlich gefangen waren im fremden Land, vom ›Herrn‹ geredet,
zum Herrn gebetet haben. So ähnlich hat es wohl geklungen, wenn
ein junger Christ in den ersten Jahrzehnten der frühen Kirche bei der
Taufe das Bekenntnis gesprochen hat »Kyrios Jesous«, Jesus ist der
Herr. Und diesen Klang hatte das Wort »Herr«, wenn Christen in den
dunkelsten Zeiten des Dritten Reiches und danach gesungen haben
»Jesus Christus König und Herr, dein ist das Reich, die Kraft, die Ehr.
Gilt kein andrer Name heut und ewig. Amen.« Was ist mit uns Christen
geschehen, wenn wir plötzlich das Wort, das einst Ausdruck der
Freiheit war, nicht mehr in den Mund nehmen wollen und uns mit
»guter Gott« und anderen gut gemeinten Ausreden um das Bekenntnis
zu dem Herrn unseres Lebens herummogeln?
Aber zurück zu Israel, dem dieses Wort zuerst gilt. Es bleibt Gottes
ersterwähltes Volk. Wir haben angesichts dessen, was in Römer 9 bis
11 steht, kein Recht, Israel sein Erwähltsein abzusprechen. »Gott hat
sein Volk nicht verstoßen, welches er sich zuvor ersehen hat« (Röm
11,2) und »Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen«
(Röm 11,29).
Israel bleibt bedroht von innen und von außen. Durch die Gefahr,
sich selbst zuzuschreiben und zugute zu halten, was doch allein Gottes
Gnade ist. Durch Halsstarrigkeit. Durch eine formale Gesetzestreue,
die doch die Liebe zu Gott und den Menschen tötet. Durch
Verzagtheit in den zermürbenden Situationen, die es in der Völkerwelt
bis zum heutigen Tag durchmacht. Und Israel bleibt bedroht
durch Neid und Hass der Völker, die ihm seine Erwählung neiden
und die sich selbst zum erwählten Volk ausrufen. Es bleibt bedroht
durch Völker, die sich ihre eigenen nationalen Götter schaffen, womöglich
mit christlichem Anstrich, und die darum den Gott der Bibel,
der erwählt, wen er will, bekämpfen. Sie schlagen sein Volk und
meinen den Gott, der sich dieses Volk erwählt hat. So trägt Israel bis
zum heutigen Tag mit an dem Aufstand der Völker gegen Gott. Es
geht durch Feuer und Wasser, die großen Sinnbilder der tödlichen
Gefahr.
Diesem bedrohten Israel gilt das Wort seines Schöpfers und Erlösers:
»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei
deinem Namen gerufen, du bist mein!«
Es gilt aber auch dem neuen Israel, das das erste Israel keineswegs
ersetzt, das ihm auch keinesfalls den Rang in Gottes Heilsgeschichte
streitig machen darf, das aber ihm zur Seite gestellt ist im Auftrag,
Gottes Recht unter die Völker zu bringen. Jesus hat zwölf Jünger zu
Aposteln gemacht, um zu zeigen: Hier entsteht das neue Israel im
neuen Bund.
In der Offenbarung des Johannes sind es dann nicht zwölf, sondern
24 Älteste (Offb 4,4; 4,10; 5,8; 11,16), also die Vertreter des alten
und des neuen Israel, die vor dem Thron des Lammes anbeten.
Es gilt dieser Zuspruch der Gemeinde Jesu Christi, die sein Leib
ist, an dem die Leiden Christi deutlich werden. Sie ist dadurch gefährdet,
dass Furcht und Kleinglauben sie übermannen. Dass ihr Mut
sinkt, ihr die Zivilcourage abhanden kommt. Die gefährdet ist durch
überpersönliche Kräfte, die ihr Bekenntnis durchsäuern und ersticken.
Durch Abfall, Verleugnung und Verrat in der Stunde der Finsternis,
wie wir das am Verhalten der Jünger Jesu in seiner Passion sehen.
Ihr, die ein Geschöpf des Wortes des lebendigen Gottes ist, gilt:
»So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist mein.«
»Fürchte dich nicht!« Sehr viel Unruhe, Unfrieden, Panik, Aggression
entsteht in der Gemeinde Jesu, weil wir uns fürchten. In der Geschichte
von den Jüngern, die im Boot in den Sturm geraten (Mk 4,35–41),
wird die Furcht der Jüngergemeinde drastisch beschrieben.
Sie fürchten sich, obgleich Jesus mit ihnen im Boot ist. Und erst als er
Wind und Wellen bedroht, werden sie wieder ruhiger. Sodann auch
nach dem Kreuzestod Jesu, als die frühe Gemeinde der Jünger sich
hinter verrammelter Türe aus Furcht verkriecht (Joh 20,19–23). Der
Gemeinde gilt vor allem anderen der Ruf: »Fürchte dich nicht!« Und
der es sagt, in dessen Mund ist es nicht einfach ein Appell, sondern
durch seine Gegenwart nimmt er seiner Gemeinde die Furcht.
»Ich habe dich erlöst!« Von den bedrückenden Kräften, die auch
die Gemeinde bedrohen: Kleinglauben, Selbstgerechtigkeit, Arroganz,
Machtkämpfe, Separatismus, jene Geißeln, mit denen die Gemeinde
sich selbst kränkt und entstellt. Sie haben kein Recht auf die Gemeinde.
Christus hat sich alle diese Dämonien gefallen lassen, er hat sich
ihnen gestellt, um ihnen seine Gemeinde zu entwinden. Um seine
Gemeinde für sich zurückzugewinnen. Man sollte all diesen Kräften
viel respektloser gegenübertreten. Sie haben keine Macht an sich und
in sich. Ihre Macht in der Gemeinde lebt nur davon, dass wir sie gar
zu sehr respektieren.
»Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« Auch
Gemeinden haben Namen. In den sieben Sendschreiben (Offb 2 und
3) werden sie namentlich angeredet. Und dass diese Sendschreiben jeweils
an ihren Engel adressiert sind, bedeutet nicht, dass der Brief an
den jeweiligen Gemeindeleiter adressiert und dieser zum Engel der
Gemeinde erklärt wurde. Vielmehr sind Gemeinden vor Gott lebendige
Organismen, von denen wie von den »Kleinen« gesagt werden
kann: »Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters
im Himmel« (Mt 18,10). Das sei allen gesagt, für die eine Gemeinde
nur eine Art Verschiebemasse ist, an der wir unsere gestalterischen
Energien auslassen können. Sie sind gewachsen durch das Wort
und durch den Geist Gottes. Sie haben ihr eigenes Wachstum, sie machen
ihre Krankheiten durch wie Kinder und wie Erwachsene. Sie haben
ihr je eigenes Leben, das wir zu respektieren haben, weil es von
Gott ist.
»Du bist mein!« Meine Gemeinde ist nicht meine Gemeinde. Sie
ist die Gemeinde Jesu Christi. Ebenso wenig sind die Menschen in ihr
meine oder unsere Leute. Sie sind »des Herrn«. Und sie werden es
spüren, ob wir sie so oder anders verstehen. Prälat Karl Hartenstein
konnte bei seinen Predigten die anwesende Gemeinde geradezu feierlich
mit »werte Gemeinde« ansprechen. Er wollte damit sagen: Sie ist
teuer erkauft (1. Kor 6,20). Ich kann ihr deswegen nur mit Respekt
begegnen.
Wenn das alles bedacht ist, dann dürfen wir aber auch ohne Scheu
dieses Wort auf uns selbst als einzelne Person anwenden.
»So spricht der Herr, der dich geschaffen hat.«
Für den du die Verwirklichung eines geliebten Gedankens bist.
Der an deiner Entstehung,an deinem Werden und Ergehen hohen Anteil nimmt.
»Fürchte dich nicht!« Man sagt, 365mal komme in verschiedenen Variationen
dieser Zuruf in der Bibel vor. Das wird, was die Zahl betrifft, so nicht
ganz stimmen. Aber es ist doch der entscheidende Zuruf für jeden
Tag. Da ja die Furcht unser aller Gefahr ist, Furcht vor dem Tod und
Furcht vor dem Leben, Furcht vor anderen Menschen und Furcht vor
uns selbst. Furcht vor dem, was wir anrichten könnten. Und Furcht
vor dem, was andere an uns anrichten. Furcht vor den destruktiven
Kräften in unserem Unbewussten, die wir nicht kennen. Furcht vor
Feuer und Wasser. Furcht vor der Gefährdung unserer Liebe. Vor den
Feuersgluten und den Wasserfluten. »Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und
wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme
soll dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige
Israels, dein Heiland« (Jes 43,2. 3).
»Ich habe dich erlöst.« Diesem Begriff kommen wir erst auf die
Spur, wenn wir verstehen lernen, dass wir Anteil bekommen am Sterben
und Auferstehen Jesu Christi. Durch ihn sind wir der Sündenmacht,
die uns ruinieren und entstellen will, gestorben.
»Was er (Christus) gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein
für alle mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. Also auch ihr, haltet
euch dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Jesus
Christus« (Röm 6,10.11). Erlösung hat damit zu tun, dass wir unseren
›alten Adam‹, der sich selbst helfen, der sich selbst erlösen, sich
selbst verwirklichen, sich selbst rechtfertigen und vollenden will, mit
Christus sterben lassen – lass fahren dahin! – und dass wir unser wahres
Leben in einer Art von ständigem Ostermorgen durch den auferstandenen
Christus geschenkweise empfangen. Das wird in der Taufe
abgebildet, weshalb wir dieses Wort mit Recht gern als Taufspruch
nehmen.
Wobei wir diese Erlösung auch verstehen können als bildlichen
Ausdruck der Befreiung von überpersönlichen Mächten, die uns im
Würgegriff haben. Das kann ein ungesunder Ehrgeiz, mit dem wir
uns und andere ruinieren, ebenso sein wie eine ganz banale Suchtkrankheit.
Es kann depressive Nekrophilie sein oder die Furcht, im
Leben zu kurz zukommen und deshalb, was immer sich bietet, ausschöpfen
zu müssen, so dass wir in unserer Lebensgier ein Fass ohne
Boden werden. Solche Mächte halten einen Menschen im Würgegriff.
Er kann sich nicht selbst von ihnen befreien. Als Menschen, die dadurch
gefährdet sind, dürfen wir hören: »Ich habe dich erlöst.« Lass es
wahr sein. Lebe unter dieser Voraussetzung, so wirst du entdecken,
wie schön die wiedergeschenkte Freiheit ist.
Wobei wir unter der »Erlösung«, die Jesus Christus schenkt, durchaus
eine Befreiung der einzelnen Person und ihre Vollendung verstehen
dürfen. Es hat die Erlösung, die das Evangelium ansagt, nichts zu
tun mit einer Art Auflösung der Person in größere Einheiten, wie uns
die »Erlösung« im Buddhismus angeboten wird. Nicht Erlösung vom
Personsein, sondern Erlösung der Person. Nicht Auflösung des Tropfens
im Meer, sondern Leben im personalen Gegenüber meint das erlösende
Gottschauen, die visio beatificans, die in der christlichen Lehre
Ziel des Weges ist, den Gott uns führt.
»Ich habe dich bei deinem Namen gerufen!« Dass wir trotz Standesamt
die Taufe mit der Namensgebung verbinden, hat seinen Sinn.
Gott beruft uns in sein Gottesreich. Und er nimmt uns auf in seine
Kirche, die dem Gottesreich den Weg bereiten soll. Er ruft uns beim
Namen. Und dadurch erst erhalten wir unseren Namen. »Ja, den Namen,
den wir geben, schreib ins Lebensbuch des Lebens«, singen wir
im Tauflied (EG 206,5 ebenso EG 207).
Weil Gottes Beziehung zu uns ganz persönlich ist, spielt der Name
in der Bibel eine große Rolle. Gott gibt uns seinen Namen. Den sollen
wir heilig halten, sollen ihn nicht missbrauchen, denn Gott wird
nicht ungestraft lassen den, der seinen Namen missbraucht (2. Mose
20,7). Und Jesus lehrt uns als erste Bitte: »Dein Name werde geheiligt.«
Wir werden beim Namen gerufen. Und wir können uns freuen,
dass unsere Namen im Himmel geschrieben sind (Lk 10,20). Sie werden
nicht gelöscht.
Wie wichtig es ist, dass im Religionsunterricht der Lehrer jeden
Namen weiß, das hat mir erst kürzlich ein Schuldekan gesagt. Hat der
Religionslehrer sich etwa ca. vierhundert Namen einzuprägen, dann
stellt das an sein Gedächtnis hohe Anforderungen. Aber wer unterrichtet,
wird sehr bald merken: Wenn ich ein Kind nicht mit seinem
Namen anreden kann, wird es mir bald »abtauchen« und nicht mehr
ansprechbar sein. In den Konzentrationslagern hat man den Häftlingen
die Namen abgewöhnt und ihnen stattdessen Nummern gegeben.
Leider bemerke ich in letzter Zeit in durchrationalisierten Krankenhäusern,
in denen die Patienten lange warten müssen, bis sie untersucht
werden, dass sie eine Nummer bekommen und dass statt des
Namens ihre Nummer aufgerufen wird. Das habe nicht nur mit rationeller
Bewältigung der Arbeit, sondern auch mit dem Datenschutz zu
tun, sagt man mir. Ich sehe darin keinen Fortschritt.
Auf den Friedhöfen schreitet die Sitte der anonymen Bestattung
fort. Mag sein, dass dahinter die Not der Einsamkeit isolierter Menschen
steht, die sich selbst nicht mehr als Personen wahrgenommen
wissen und die dann konsequenterweise für sich diese anonyme Entsorgung
verfügen. Es ist aber Ausdruck einer Entpersönlichung, die
wir nur als Folge der Entchristlichung und der daraus folgenden Entmenschlichung
verstehen können. Gott ruft uns beim Namen.
So dürfen wir einander auch beim Namen rufen.
»Du bist mein!« Der Klang dieses Wortes ruft uns in die große
Freiheit, die ein Mensch erfährt, der sich in die Sphäre Gottes versetzt
weiß. Martin Luther hat 1520 in seiner Schrift »Von der Freiheit eines
Christenmenschen« geschrieben: »Ein Christenmensch ist ein
freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.« Und: »Ein Christenmensch
ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann
untertan in der Liebe.«

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