Neujahrstag

Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken,
das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott,
dem Vater, durch ihn.

Der Brief des Paulus an die Kolosser 3, 17

Wirklich alles? Auch die Berufsarbeit? Auch das Freizeitvergnügen?
Auch das Leben in der ganz privaten Sphäre? Alles im Namen Jesu?
Oder sollten wir doch unser Leben in Sphären einteilen? In die berufliche
Sphäre, in der wir unser Geld verdienen und uns nach der
Decke strecken, das heißt dann auch, die Gesetze und Regeln akzeptieren,
die uns beruflich vorgegeben sind, uns auf die Eigenheiten unserer
Vorgesetzten einstellen und sehen, dass wir halbwegs erfolgreich
über die Runden kommen?
In die politische Sphäre, in der es um den Einfluss der Partei geht, der
wir angehören odermit derwir sympathisieren, um die Macht, um mögliche
Kompromisse, um Lösungen, für die wir Mehrheiten brauchen?
In die ganz persönliche, private Sphäre der Familie und des Freundeskreises,
in der die Familienbande – man braucht sich gegenseitig in
der Familie, und wenn es normal ging, dann hängt man ja auch aneinander
und mag sich –, die Gesetzte der Anziehungskraft, der Sympathie
bestimmen?
Und dann freilich auch in die direkte christliche Sphäre, Gottesdienst,
Kirchengemeinde, diakonische Tätigkeit vor Ort und vielleicht
auch in einer größeren Einrichtung. Hier ganz direkt »im Namen
des Herrn Jesus« und gewiss auch mit der Frage: »Was willst du,
Herr, dass ich tun soll?«
Solche Sphären zu unterscheiden wie Sparten unseres Lebens und Jesus
die »christliche« Sphäre oder Sparte zuzuteilen, das verspricht eine gewisse
Ordnung. Da weiß ich dann jeweils, wo ich bin, wem ich gegenüber
verantwortlich bin, meinem Vorgesetzten oder einem Gremium.
Eine klare Aufteilung und Abgrenzung verspricht Ordnung und Rollenklarheit,
da kann ich dann sagen: »Dienst ist Dienst« und »Hier bin
ich Mensch, hier darf ich’s sein« und »Dort gelten andere Gesetze«.
Steht nur dieses »Alles, was ihr tut…« dem entgegen? Dieses »Alles«
mischt die Bereiche auf, bringt Unruhe herein, wohl auch Konflikt-
stoff. Da kann es schon sein, dass aus mir, einem wie ich meine gutwilligen,
friedlichen Menschen, der nur arbeiten und überall das Beste
will, einer wird, der Spannungen hereinträgt, der da oder dort als
»nicht ganz zuverlässig« angesehen wird, dessen Fragen anstrengen
und anderen lästig werden, um den leicht ein Spannungsfeld entsteht,
weil er die Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Sphären noch nicht
wirklich verstanden oder akzeptiert hat. Wer dieses »Alles, was ihr tut«
ernst nimmt, läuft Gefahr, in dieser oder jener Sphäre zum »Narren in
Christo« zu werden, dem man Rollenunklarheit, letztlich Schwärmerei
vorwirft, über den man freundlicherweise lächelt wie über ein liebenswertes
Relikt, das einiges noch nicht ganz verstanden hat.
Eingeweihte Theologen sagen dann: Das sind die letzten Nachwehen
der Königsherrschaft-Christi-Theologie oder -Ideologie, die Theologische
Erklärung von Barmen 1934 lässt grüßen. Da hört man
noch die unter uns modernen Christen längst museal gewordenen
Sätze der zweiten Barmer These: »Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch
der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem
Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben;
durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen
dieser Welt, zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.«
Und dazu: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres
Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren
zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung
und Heiligung durch ihn bedürften.«
Wo mit diesem »Alles, was ihr tut« ernst gemacht, wo alles der Königsherrschaft
Christi unterstellt wird, da werden Konflikte nicht ausbleiben,
da kann man Karriere nicht ruhig planen, da akzeptieren
Einzelne die Gesetze und Regeln des Betriebes, in den sie hineingeraten
sind, nicht von vornherein als unverrückbare Vorgabe, da wird es
immer Konfliktlinien geben und eine Art von ständigem Veränderungsdruck,
und der Name Jesu Christi wird nicht ruhig über allem
thronen und der Sache eine christliche Sicht geben, sondern dieser
Name wird immer wieder für Unruhe, für Diskussionen sorgen, bei
denen es dann heißen kann: »Man muss auch den Menschen sehen«,
»Ich habe kein gutes Gefühl, wenn wir so hart verfahren etc. …«
Ich entsinne mich der Schlusssitzung einer Abitursprüfung. Der
Vorsitzende, ein geübter Beamter des Ministeriums, las die Namen
der Prüflinge und die Punktzahlen vor, die sie erreicht hatten. 100
und mehr Punkte hieß: bestanden; 99 und weniger: durchgefallen.
Wenn die Punktzahl in Nähe der 100er-Marke war, sagte er jeweils
nach dem Namen und der Punktzahl des Prüflings »sonnenklarer
Fall« und rief den nächsten Namen auf. Er hatte uns versprochen, mit
den 120 Namen in einer Stunde über die Runden zu kommen, dann
müsse er zur Bahn, uns werde das ja auch recht sein. Als er wieder den
Namen eines Schülers las, dazu die Zahl 99, und sagte »sonnenklarer
Fall«, rief der katholische Religionslehrer »Einspruch! Ich beantrage
Personaldiskussion«. Dem Antrag wurde sehr widerwillig stattgegeben,
und der junge Mann, der eben noch als »sonnenklarer Fall« bezeichnet
worden war, entpuppte sich als ein Sohn, der während der
Zeit der Abitursvorbereitung seinen sterbenden Vater hingebungsvoll
gepflegt hatte. Ich denke gern an diese Diskussion zurück. Es war in
einer Landschaft, in der es nur noch »sonnenklare Fälle« und stumpf
und stumm dasitzende Kollegen gab, plötzlich, ohne dass er ausgesprochen
wurde, der Name Jesus ins Spiel gekommen. Und plötzlich
wussten wir Unterrichtenden, die wir im Abitur geprüft hatten, wozu
wir eigentlich gekommen waren.
So mag es auch in der Familie gehen: Es muss nicht immer der
Name Jesus fallen. Aber wo einer oder eine »im Namen Jesu« Vater,
Mutter, Tochter, Sohn, Bruder, Schwester, Vetter, Base ist, da wird es
immer wieder lebendig werden, Spannungen und Konflikte nicht
ganz ausgeschlossen. Aber plötzlich wird man wissen, wozu man da
ist und wozu man einander hat. Auch kirchenleitende Gremien tun
gut daran, alles, wirklich alles im Namen des Herrn Jesus zu beginnen
und zu führen: jedes Wort und jede Maßnahme.
Es wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten in kirchlichen Gremien
immer hoffähiger, was ich gern etwas ironisch »kirchliche Zwei-
Reiche-Lehre« nenne. Man nennt das dann Aufteilung der Rollen
und achtet vor allem anderen auf Rollenklarheit. Der Vorgesetzte, so
sagt man dann, kann nicht Seelsorger sein. Dekane, wenn sie in
schwierigen »Fällen« der Anstellung auf ihr seelsorgerliches Verhalten
angesprochen werden, sagen: »Das ist nicht meine Rolle. Ich muss
meine Rolle gut und klar spielen. Seelsorge können andere treiben,
der Prälat oder solche Leute.« Dann ist der eine »verdienter Ordner
der christlichen Kirche«, der unter Umständen gnadenlos hart durchgreift
– nach Bert Brechts Drama »Der gute Mensch von Sezuan« sozusagen
»der böse Vetter«. Der andere kann die Verletzten seelsorgerlich
verbinden. Er spielt die Rolle des »guten Menschen Shen Te«.
Den, der die Kirche in hierarchische Ebenen zerschneidet, befriedigt
diese Praxis. Er findet diese Rollenaufteilung vielleicht sogar genial.
Nur leider verstehen manche Gemeindeglieder das nicht, wenn Kirche
sich als Institution dermaßen vom Anspruch Jesu Christi abschirmt
und das brüderlich helfende Verhalten auf einer ganz anderen
Ebene als auf der leitenden sieht. Diese Gemeindeglieder kommen da
nicht mit, wittern Zweispurigkeit, wollen eine glaubwürdige Kirche
aus einem Guss, sind verärgert und suchen in der Freikirche oder in
einer charismatischen Gemeinschaft diese Kirche aus einem Guss, was
nicht unbedingt heißt, dass sie diese dort finden. Vielleicht wäre es zum
Jahreswechsel an der Zeit, die »innerkirchliche Zwei-Reiche-Lehre«
und ihre Rollenideologie kritisch zu durchdenken. Ist sie wirklich genial?
Oder ist sie nur Ausdruck unserer innerkirchlichen Schizophrenie?
Das Leitwort »Alles, was ihr tut … im Namen des Herrn Jesus«
könnte spannende Diskussionen bewirken. Auf die Gefahr hin, dass
dann manche Sache nicht mehr ein »sonnenklarer Fall« wäre und dass
die Gremien plötzlich wüssten, wozu sie da sind.
Mit Worten oder mit Werken? Die Worte sind zuerst gemeint,
denn aus Worten kommen Taten. Und das rechte Wort ist eine Tat
und kann eine teure und gelegentlich eine weichenstellende Tat sein.
Martin Luther schrieb über seine vielen Briefe, mit denen er sehr viel
bewirkt hat, oft nur das eine Wort Jesus. Er wollte damit zeigen: Ich
schreibe in seinem Namen und ich bitte ihn, dass er meine Worte prägt
und leitet, so dass sie verstanden werden und wirken, was er wirken
will. Und Johann Sebastian Bach konnte oft seine Notenblätter mit den
Buchstaben »JJ« überschreiben, »Jesu juva«, Jesus hilf und lass es gelingen,
was ich jetzt komponiere, »Soli Deo gloria«, allein zu Gottes Ehre.
Weil unsere Worte Taten sind, sagt Jesus streng: »Ich sage euch
aber, dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Ge-
richts von einem jeden nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben«
(Mt 12. 36). Es ist wohl zu einfach, wenn wir dieses Wort nur auf unpassende
Scherze anwenden; es wird sich in dieser Aussage Jesu Zorn
über Worte ausdrücken, mit denen Menschen, die durch eigene oder
fremde Schuld in eine missliche Lage geraten sind, durch verurteilende
Worte anderer zu Unpersonen gemacht werden.
Sokrates hat seine Schüler angehalten, ihre Worte durch drei Siebe gehen
zu lassen. Durch das Sieb der Wahrhaftigkeit: Ist es eigentlich
wahr, was ich jetzt sage? Durch das Sieb der Notwendigkeit – muss
ich das jetzt sagen oder könnte ich es vielleicht ebenso gut für mich
behalten? Und durch das Sieb der Nützlichkeit – nützt es den Menschen,
wenn ich das sage? Helfe ich damit einem Menschen? Die drei
Siebe würden uns auch gut anstehen. Noch elementarer freilich ist es,
dass wir in der Geistesgegenwart, die wir nur erbitten können, jedes
Wort durch das Lichtsieb Jesu Christi durchgehen lassen.
Man soll die Bibel insgesamt und auch einen Leitspruch im Zusammenhang
lesen. Verstehen wir die Worte, die wir im Namen des
Herrn Jesus sprechen sollen, im Zusammenhang von Kolosser 3,
16.17, dann kommen wir vor allem auch auf die gemeinsame Arbeit
über der Bibel und das Wort in der geschwisterlichen Seelsorge und
auf die gesungenen Worte in Psalmen und Liedern. »Lasst das Wort
Christi reichlich wohnen in euch: lehrt und vermahnet euch selbst in
aller Weisheit mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern
und singt Gott dankbar in euren Herzen« (Kol 3,16).
Wenn wir wollen, dass im neuen Jahr unser Reden im Freundeskreis,
im Beruf, im Amt, im politischen Leben wirklich im Namen
des Herrn Jesus geschieht, dass wir mit unserer christlichen Existenz
in den Sphären der Welt keinen Etikettenschwindel treiben, dass drin
ist, was drauf steht, dann haben wir umso mehr Grund, das Wort
Christi reichlich unter uns wohnen zu lassen. Wohnen! Nicht nur,
dass wir es kurz hören und gleich wieder vergessen, sobald wir die andere
Sphäre betreten. Wo soll denn unser Sinn, Gespür, Gewissen, wo
soll unser Mut, unsere Freiheit, auch unsere Konfliktbereitschaft geschärft
werden, wenn nicht über der offenen Bibel, im Austausch
über den Worten, die uns aus ihr ansprechen und die hineinleuchten
in die verschlossenen oder verborgenen Winkel der Sphären, in denen
wir arbeiten und leben?
Die geistlichen Lieder, Psalmen und Lobgesänge können dabei eine
enorm reinigende auch geistklärende Wirkung haben. Paul Schneider
war im Sommer 1933 zwei Wochen lang Deutscher Christ. Die
volksmissionarische Ader eines DC-Pfarrers hatte es ihm angetan.
Dann ging er auf ein Singwochenende. Beim Singen wurde ihm klar,
wo er hingehört. Am Sonntag drauf sagte er der staunenden Gemeinde,
aus der Glaubensbewegung Deutscher Christen sei er schon wieder
ausgetreten. Er sei ja wohl ein Deutscher, das wüssten sie; und ein
Christ wolle er auch bleiben. Aber vor dem Wort »Christ« brauche er
keine andere Bezeichnung. Das Bindestrichchristentum habe er als
Irrweg erkannt.
Von einzelnen Städten wird berichtet, sie seien durch das Singen
des Liedes »Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und lasst uns
fröhlich springen« für das Evangelium gewonnen worden. Das hat
mancher auch auf Kirchentagen so ähnlich erlebt.
»Und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.« Wo der Geist Jesu Christi
uns bestimmt, da wird unser ganzes Leben auf Dankbarkeit hin gestimmt
sein. Es geht mit unseren Worten und Taten nicht darum,
dass ich vor Gott und den Menschen Existenzberechtigungsnachweise
liefere. Auch nicht darum, dass ich mich selbst verwirkliche. Mein Ich
wäre arm dran, wenn es wirklich würde durch meine Verwirklichungen.
Es geht darum, dass wir in allem Gott danken für die Fülle seiner
Gaben. Und besonders für die Gabe des Evangeliums.
In diesem Sinn beginnen wir ein neues Jahr und machen einen
neuen Anfang.

»In ihm sei’s begonnen,
der Monde und Sonnen
an blauen Gezelten,
des Himmels bewegt.
Du, Vater, du rate,
lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
sei Anfang und Ende,
sei alles gelegt!«
(Eduard Mörike)

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