2. Sonntag nach Epiphanias

Das Gesetz ist durch Mose gegeben,
die Gnade und Wahrheit ist durch
Jesus Christus geworden.

Das Evangelium nach Johannes 1, 17

Im Jahr 1919 schuf Ernst Barlach vor allem zwei Plastiken, beide aus
Eisenbahnschwellen, also aus hartem Eichenholz, über das unendlich
viele Züge gefahren sind. Und beide Gestalten – eine Eisenbahnschwelle
bietet dem Künstler nur sehr eingeschränkten Platz – wirken
streng oder beengt. Die eine: Moses mit den Gesetzestafeln.
Kerzengerade aufrecht, aber ein wenig schräg nach hinten geneigt, als müsse
seine Gestalt die Schwere der großen, hohen Gesetzestafeln, die er vor
sich hält, ausgleichen, steht er vor uns. Über den hohen Tafeln sein
Gesicht, eingerahmt von nach unten wallendem Haar, kritisch, unbestechlich,
unbeirrbar, die Augen ganz nach innen blickend, als sei sein
Sinn jetzt ganz im Gesetz. Etwas Ehernes liegt über diesem Antlitz.
Das andere Bild ein Halbrelief, auf dem man die Eisenbahnschwelle
noch sehr deutlich sieht: die gemarterte Menschheit. Eine Frau hängt,
die gefesselten Hände über ihrem Kopf zusammengebunden, an einem
Strick. Aus ihrem schlichten Büßerhemd die Füße, auch sie zusammengebunden.
An ihnen hängt eine schwere Bleikugel. Das Gesicht der
Frau gezeichnet von harten Schmerzen. Es könnte ebenso gut ein Männergesicht
ein. Es ist einfach das schmerzdurchfurchte Gesicht der leidenden
Menschheit. Mit Gottfried Benn könnte man vor diesem Antlitz
sagen: »Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.«
Diese beiden Werke im Jahr 1919, in dem Hunger, Kälte, Leid,
Demütigung, Hass die Menschen vor allem in Deutschland gepeinigt
haben. Der unbeirrte Mose mit seinen Gesetzestafeln sagt – obwohl
er gar nicht spricht, sondern uns nur still und unerbittlich die großen
Tafeln vor Augen hält: »Euch ist der heilige Wille Gottes gegeben.
Wenn ihr den dermaßen mit Füßen tretet, wie ihr das tut, dann tretet
ihr euch selbst und ihr martert die Menschheit.«
Dazu zwei Christusstatuen von Barlach. »Das Wiedersehen« heißt
die eine von 1926. Christus, aufrecht, der Erhöhte, aber sehr schlicht,
ohne jede Glorie, er kommt wieder, so schlicht, wie er gelebt hat. Ein
Mensch, den sein Leben ziemlich krumm geschlagen hat, lehnt seine
Hände auf ihn, Christus stützt diesen Menschen mit seinen Händen.
Das Gesicht des Jüngers mit seinen übermäßig großen Augenhöfen
lässt ahnen, was er an schrecklichen Dingen gesehen hat. Sein Augenbereich
ist wie eine Wanne, ausgewaschen von Tränen. Offenbar denkt
Barlach an Jesu Wort aus den Abschiedsreden: »Ihr habt nun Traurigkeit;
aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen und
eure Freude soll niemand von euch nehmen« (Joh 16,22). Die herzliche
Freude ist in diesem Bildwerk noch nicht aufgekommen. Es ist der Augenblick
des ersten Wiedersehens. Der Jünger, seiner Körperhaltung
und seinem Gesichtsausdruck nach ein Wrack, stützt sich ganz auf den
Christus, in dessen Stirnfalten, Augen, Mund. Wir spüren, wie sehr er
die Strapazen, die sein Jünger hinter sich hat, mitfühlt.
Und das dritte Bildwerk, aus getöntem Gips, der lehrende Christus
von 1931. Große, zugewandte, wissende Augen, ein starker Mund, offene
Hände, die mehr den Heilandsruf »Kommet her zu mir alle, die
ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken« ausdrücken als
die belehrende Geste. Er lehrt mit Händen, die an das erinnern, was
die Zuhörenden wohl sehen, wenn ihre Augen geöffnet sind. Man
könnte sich vorstellen: Er spricht die Seligpreisungen: »Selig die geistlich
Armen, selig die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit,
selig die Trauernden, selig die Barmherzigen, selig seid ihr, wenn euch
die Leute verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch…« Das Gewand
Jesu fällt auf. Es erinnert an organisch fließendes Wasser. Offenbar
soll es Jesu Wort abbilden: »Wen da dürstet, der komme zu mir und
trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden
Ströme des lebendigen Wassers fließen« (Joh 7,37. 38).
Das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist
durch Jesus Christus geworden. Mose und Jesus werden hier miteinander
in Verbindung gesetzt – und dafür gibt es einigen Grund, wenn
wir an das Gesetz, das Mose vom Berg bringt, und Jesus als den Bergprediger
denken. Und doch werden sie einander gegenübergestellt, ja
entgegengesetzt.
Zugleich werden Gesetz einerseits, Gnade und Wahrheit andererseits,
Gesetz und Evangelium einander gegenüber- und entgegenge-
setzt.
Das geschieht auffallend stark in Hebräer 12,18–24: »Denn ihr
seid nicht gekommen zu dem Berge, den man anrühren konnte und
der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter,
noch zu dem Hall der Posaune und zum Schall der Worte,
bei dem die Hörer baten, dass ihnen kein Wort mehr gesagt würde;
denn sie vermochten’s nicht zu ertragen, was da gesagt ward« (2. Mose
19,13): ›Und wenn auch nur ein Tier den Berg anrührt, soll es gesteinigt
werden.‹ Und so schrecklich war die Erscheinung, dass Mose
sprach (5. Mose 9,19): ›Ich bin erschrocken und zittere.‹ Sondern ihr
seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen
Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und den vielen tausend Engeln
und zur Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im
Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und
zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des
neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das da besser
redet als Abels Blut.«
Zwei sehr verschiedene Berge: Der Berg, von dem das Gesetz kommt,
auf dem der heilige, Furcht erregende Gott wohnt, vor dem auch Mose
zittert. Ihm gegenüber der Zion, das himmlische Jerusalem, die neue
Gesellschaft erlöster Menschen, deren Namen im Buch des Lebens geschrieben
sind, vollendete Gerechte, viel tausend Engel, die Gott loben,
und mittendrin der Mittler des neuen Bundes, Jesus, der sein Leben
gibt zur Versöhnung der Menschen mit Gott und miteinander.
Ein Jude, der das liest, wird protestieren und sagen: Was macht ihr
Christen, besonders ihr paulinisch-lutherischen, aus der Weisung?
Schon der Ausdruck »Gesetz« ist fragwürdig, bringt etwas Bedrohliches,
kalt Statuarisches in das Verständnis des Gesetzes. Ihr habt ein
Zerrbild-Gesetz. Ihr solltet einmal erleben, wie am Chag ha Thora,
am Fest der Weisung, unsere Jünglinge mit Prinzessin Tora tanzen.
Man kann sie nur lieben, die Weisung Gottes zum Leben. Lest den
Psalm 119 und fangt an euch zu freuen, dass uns die Weisung gegeben
ist. Was wären wir ohne sie?
Und auch ein reformierter Christ, etwa aus der Schule Karl Barths,
könnte mit dem Meister im Sinne seines Aufsatzes »Evangelium und
Gesetz« von 1935, sagen: Schon die Reihenfolge ist falsch. Zuerst der
Bund Gottes mit seinem Volk und seine Erlösungstat, die Befreiung
aus Ägypten und die Rettung am Schilfmeer. Dann das Gesetz bzw.
die Weisung. Die Gesetzestafeln liegen in der Bundeslade, es ist einfach
falsch, das Gesetz, das durch Mose gegeben wurde, für sich zu sehen
und ihm das Evangelium gegenüberzustellen.
Keine Frage, dass dieses Verständnis der Tora dem jüdischen und
dem alttestamentlichen viel näher steht und dass wir uns im jüdischchristlichen
Gespräch mit Barths Auffassung von Evangelium und
Gesetz sehr viel leichter tun.
Aber in diesem Wort »Das Gesetz ist durch Mose gegeben, die
Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden« ist eine gewisse
Gegenüberstellung deutlich. Gesetz und Evangelium werden
nicht auseinandergerissen, sie gehören natürlich zusammen. Aber sie
bezeichnen doch zwei verschiedene Weisen Gottes, mit seinem Volk
und zu seiner Menschheit zu reden.
Ein paar Einzelheiten zur Auslegung dieses Wochenspruchs: Es ist
nicht vom Gesetz Mose die Rede, auch die hebräische Bibel spricht
immer vom »Gesetz durch Mose (gegeben)«. Das Wort gegeben erinnert
durchaus an Gesetzeserlasse. Über ein Gesetz schreiben wir heute
noch »gegeben am …« und fügen das Datum der Verkündung des
Gesetzes ein. Es ist eine Gegebenheit, von der auszugehen ist. Bei den
Worten Gnade und Wahrheit steht das Wort »geworden«. Und in der
Biblia Germanica von 1545 lese ich, wie Luther, der große Sprachkünstler,
übersetzt: »Die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christ
worden.« Durch die ungewöhnlich abgekürzte Formulierung gibt er
dem aufmerksamen Leser den Wink: Hier halte ein und denke nach.
Die Wahrheit ist »worden«, da ist ein Prozess geschehen, der enorme
Folgen hatte; der Prozess ist durch den Namen Jesus Christus bezeichnet,
durch die Menschwerdung Gottes in ihm, durch seinen
stellvertretenden Tod am Kreuz und durch seine Auferweckung von
den Toten. Dadurch sind Gnade und Wahrheit geworden. Anders gesagt:
Durch ihn ist die Gnade Gottes für uns und unter uns wahr und
wirklich geworden. Wahrheit heißt: Was durch den Mund der Propheten
in Aussicht gestellt war, was Väter und Mütter durch Jahrhunderte,
auch gerade in bösen, trostlosen Zeiten erhofft haben, das ist
nun wahr geworden: Gott ist gnädig allen Menschen. »Es ist erschie-
nen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen…« (Titus 2,11). Das
Evangelium dieses Sonntags spielt in einem Sämeion, einer zeichenhaften
Geschichte, durch, wie Gesetz und Evangelium sich zueinander
verhalten. In der Geschichte von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–
11) geht es nicht eigentlich um Jesu Leutseligkeit einem jungen Paar
gegenüber nach dem Motto »Und Jesus war auch dabei«. Es geht um
die Symbolik vom Wasser als Reinigungselement, wie es beim Befolgen
des Gesetzes reichlich gebraucht wird – und um den Wein in Fülle,
der des Menschen Herz erfreut und der das Getränk beim eschatologischen
Hochzeitsmahl ist, wenn Gott und Mensch sich auf immer
vereinen. Aus dem Wasser, das zur rituellen Waschung bereitgestellt
wurde, wird Wein in Fülle. Aus dem Befolgen des Gesetzes, das den
Menschen nicht zur Erfüllung seines Lebens und zur vollen Gottesgemeinschaft
bringt, wird der Freudenwein, das Getränk der Seligen,
wenn Gott in Jesus Gemeinschaft mit uns hält.
Wilhelm Stählin berichtet von einer witzig hintersinnigen Antwort
des Kirchenvaters Hieronymus. Er wurde gefragt, ob denn die Hochzeitsgäste
von Kana die ungeheuere Menge des Weines ganz hätten
trinken können. Hieronymus habe geantwortet: »Nein, wir trinken
alle noch davon.«

Wegworte zum Herunterladen: 11_2.So_2_Epiphan (pdf)