3. Sonntag nach Epiphanias

Es werden kommen von Osten und von Westen,
von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen
werden im Reich Gottes.

Das Evangelium nach Lukas 13, 29

Damals, als Jesus diese Vision seinen Jüngern mitteilte, muss das für
sie unglaublich gewesen sein. Heute, fast zweitausend Jahre später,
wissen wir, dass es Christen so gut wie in allen Ländern rund um den
Globus gibt. Freilich leben sie in ganz unterschiedlichen Situationen:
Es gibt Christen in Ländern, in denen sie nur eine verschwindende
Minderheit darstellen, oft gefährdet sind oder immer wieder verfolgt
werden. Was oft zur Folge hat, dass sie ihr Christsein als ein teueres
Bekenntnis besonders kraftvoll leben. Andere leben in Ländern, in
denen sich noch immer weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu
einer christlichen Kirche zählt. Was andererseits zur Folge hat, dass in
dieser »volkskirchlichen« Situation ihr Christsein gefährdet ist durch
Anpassung an gerade gängige Denkmuster. Man will die Mehrheit
der Bevölkerung bei der Kirche halten und macht den schmalen Weg
breit.
Auf jeden Fall ist die bisherige Erfüllung der Vision Jesu, dass
Menschen aus allen vier Himmelsrichtungen zum Gottesreich, das Jesus
angesagt und selbst bereits verkörpert hat, finden werden, dass sie
in allen Ländern vom Evangelium erreicht und erfasst werden, »ein
Wunder vor unseren Augen«. Es ist eigentlich unglaublich. Wir können
uns nicht genug darüber wundern. Wenn wir dann noch bedenken,
wie zutiefst Ärgerliches durch Christen im Lauf der Jahrhunderte
geschah, das sich die Christenheit immer neu vorhalten lassen muss,
dann ist es umso wunderbarer, dass die Christenheit lebt und in vielen
Teilen der Erde an Ausstrahlung gewinnt. In meinen Augen ist gerade
die Tatsache, dass trotz des Versagens so vieler Christen und Kirchen
das Evangelium in der Welt »läuft« und wirkt, fast so etwas wie
ein »Gottesbeweis« (wenn es Gottesbeweise im strengen Sinn geben
würde). Gottes Reich kommt durch uns, ohne uns, trotz uns, gegen
uns, auf jeden Fall aber uns zugute.
Besser gesagt, das Reich Gottes ist schon da. Es ist mitten unter
euch! (Lk 17,21; nicht, wie Luther übersetzt, »inwendig in euch«). Es
ist da in Jesus, von dem der Kirchenvater Origenes mit Recht gesagt
hat, er sei die Autobasileia, das Reich Gottes in Person, die Person gewordene
Gottesherrschaft. Und weil Jesus auferstanden ist von den
Toten, lebt und regiert, durch seinen Geist wirkt, wo und wann es
ihm gefällt, werden heute in jedem Erdteil Menschen von dieser Botschaft
angesprochen, berührt, überzeugt. Die Mensch gewordene Gottesherrschaft,
die den Namen Jesus Christus trägt, erreicht sie, überholt
sie.
Wenn wir verstanden haben, dass die Gottesherrschaft trotz uns
kommt, dürfen und sollen wir freilich auch sehen, wie viel Gutes im
Lauf der Geschichte in vielen Ländern durch das Evangelium bewirkt
wurde und wird. Wie viel für die Befreiung der Völker von Angst und
Unrecht, wie viel für eine neue friedliche Gesinnung, wie viel auf diakonischem
Gebiet, wie viel für die Alphabetisierung und für die Entwicklung
der medizinischen Versorgung geschah und geschieht. Um
nur einiges anzudeuten. Wir sollten nicht mitmachen bei der einseitigen
Buchführung derer, die in Sachen Kirche und Christen nur das
Negative, nur Versagen und Kollaboration mit verbrecherischen Mächten
sehen.
Besonders sollten wir dem oberflächlichen Trend, nach welchem
Mission mit Kolonialismus und Imperialismus gleichgesetzt wird,
widerstehen. Freilich gab es unheilvolle Verquickungen von Mission
und westlichem Kolonialismus. Es gab Missionare, die diese Verquickung
gebilligt und verstärkt haben, ohne zu sehen, wie sehr sie damit
schlimmem Unrecht eine Art christlicher Rechtfertigung gegeben haben.
Es gab aber auch nicht wenige Missionare, die unter dieser Verquickung
gelitten und, so gut sie es konnten, ihr entgegengearbeitet
haben. Es gab viele Missionare, zu deren Weltbild es ganz selbstverständlich
gehörte, dass der weiße Mann der Lehrmeister der getauften
Heidenchristen ist und bleibt. Und es gab und gibt andere, die vieles
getan haben und tun, dass die jungen Kirchen selbstständig werden
konnten und dass sie uns heute als selbstständige Partner gegenüberstehen.
Erstaunlich ist es auf jeden Fall, dass das Evangelium von Jesus
Christus eine immer größere Wirkung entfacht hat und entfacht.
Auch im Blick auf das Thema Kirche im Dritten Reich sollten wir
nicht dem Trend folgen, die Christen nur eben als Versager auf der
ganzen Linie zu verstehen. Die Aufarbeitung der Fakten kann nicht genau
genug geschehen, aber sie sollte vom Willen bestimmt sein, wirklich
zur Kenntnis zu nehmen, was war. Wenn wir Christen uns bei
Leuten, die von den Kirchen sowieso nichts halten, damit anbiedern,
dass wir bereitwillig ihre Pauschalverurteilungen übernehmen, tun wir
damit weder ihnen noch der Sache des Evangeliums einen Dienst. Wir
biedern uns mit dieser angeblichen Bußgesinnung, die keine ist, nur an.
Wir bestätigen ihre oft von Unkenntnis geprägten, reichlich flachen
Vorurteile. Das wollen sie von uns haben. Mancher Christ ist ihnen da
allzu freudig zu Willen. Wir sollten ihnen viel eher zur Unterscheidung
und einem differenzierten Urteil verhelfen. Auch gerade in der Nacht
des Dritten Reiches waren »nicht alle Katzen grau«.
Eindrücklich war mir in diesem Zusammenhang eine Tagung, die
wir in einem Bündnis mit verschiedenen linken Gruppierungen im
Ulmer Haus der Begegnung gehalten haben. Wir hatten dazu auch den
Berliner Soziologen Ossip Flechtheim und den einstigen Ratsvorsitzenden
der EKD, Bischof Kurt Scharf, eingeladen. Tagungsthema war das
Versagen der Kirchen im Dritten Reich. Wir wollten in dieser Sache
sozusagen groß reinemachen. Entsprechend fielen die Vorträge und
Diskussionen aus. Kurt Scharf hatten wir eingeladen als einen bußfertigen,
kirchenkritischen Kirchenmann, Mitakteur der Bekennenden
Kirche »Dahlemer Richtung«, Unterstützer des Stuttgarter Schuldbekenntnisses,
des Darmstädter Wortes mit einer sehr selbstkritischen
Sicht der Rolle der Kirchen, Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste. Als dann bei dieser Tagung nur noch schwarz gefärbt
wurde und der Widerstand einzelner Christen gegen das NS-Regime
kaum noch genannt werden durfte, weil die Tagung auf eine Gesamtverurteilung
der Kirchen angelegt war, widersprach Kurt Scharf in
aller Würde und sagte etwa Folgendes: »Was ihr jetzt tut, ist Ausdruck
der Undankbarkeit gegen Gott. Gott hat durch seinen Geist nicht
wenigen Leuten große Tapferkeit gegeben, dem Unrecht des Dritten
Reiches zu widerstehen. Viele haben dafür ihr Leben riskiert. Das darf
nicht gering geachtet werden. Und sehr vielen Menschen gab der
Heilige Geist die kleine Tapferkeit. Sie ist besser als keine. Wir sollten
uns angewöhnen, auch die kleine Tapferkeit von Menschen zu sehen
und für sie Gott dankbar zu sein.«
Dasselbe dürfte bei der Aufarbeitung der Rolle von Kirchen und
Christen in der DDR gelten. Dasselbe, wenn wir an die Rolle der Kirchen
im einstigen Ostblock denken. Es gab bei viel Kollaboration auch
viel Widerstand, an den wir nur dankbar erinnern können.
Und so dürfte die Rolle der Christen auch heute in den verschiedenen
Teilen der Welt sein: Kollaboration mit dem Unrecht auf der
einen, Widerstand bis zum Martyrium auf der anderen Seite. Es ist
ein durchaus widersprüchliches Bild, das die Christenheit bietet. Umso
erstaunlicher ist es, dass das Evangelium in vielen Teilen der Welt
an Boden gewinnt.
Es ist für unser eigenes Christsein, auch für die Mentalität in den
Gemeinden und in unserer Landeskirche, wichtig, dass wir diese ökumenische
Perspektive nicht aus dem Blick verlieren. So sehr wir gut
dran tun, unsere geistigen und geistlichen Traditionen zu erforschen
und zu schätzen. Aber die besten württembergischen Traditionen, etwa
bei Johannes Brenz, bei Johann Albrecht Bengel, Oetinger, Philipp
Matthäus Hahn, bei den beiden Blumhardts, bei der Basler Mission,
die ja weithin von Württemberg bestimmt war, waren doch immer
diejenigen, die über den württembergischen Tellerrand hinausgewiesen
haben. Nur ja kein »artgemäß« württembergisches Christentum
(das mich immer an artgemäße Tierhaltung erinnert). Nur ja keine
Verengung auf unsere Art und unsere Mentalität.
Wie unangemessen auch der Geruch von Gemeindementalitäten,
die sich dadurch auszeichnen, dass sie es ganz unmöglich machen, dass
die Gemeinde in A-Dorf mit der Gemeinde in B-Dorf, das drei Kilometer
hinter dem Berg liegt, kooperiert. Als habe der Heilige Geist
sich so unlösbar an die Mentalität von A-Dorf gebunden, dass A-Dorf
sich bis zum Jüngsten Tag auf sein unverwechselbares Profil, das inkompatibel
sei mit den Profilen anderer Gemeinden, berufen dürfe.
Und Gott bewahre uns davor, in unserer abendländisch christlichen
Kultur – soweit man von ihr noch reden kann – die christliche
Kultur zu sehen. Sie ist nur eine Ausprägung. Wenn Mission mehr
sein will als nur ein oberflächliches Einfärben von Menschen durch
christliche Gedanken, dann wird sie sich mit der jeweiligen Kultur eines
Volkes, auch gerade mit dessen religiöser Kultur, irgendwie einlassen;
sie wird sich mit der jeweiligen Landeskultur in ein Gespräch begeben,
wird versuchen, diese mit den Einsichten und Kräften des Evangeliums
zu durchdringen. Es entsteht so eine Art Inkulturation des
Evangeliums. Diesen Prozess können wir nur begrüßen.
Aber Vorsicht, wenn über Nacht daraus ein »artgemäß« indisches
oder chinesisches oder afrikanisches Christentum wird, das in Konkurrenz
tritt zu anderen »artgemäßen« Christentümern. Wir Deutschen
haben den wohl spektakulärsten und blamabelsten Lernprozess
in den Irrtümern der Deutschen Christen während des Dritten Reiches
durchgemacht. Wir können andere Völker nur bitten, unsere Irrwege
nicht zu wiederholen.
Das gilt auch im Blick auf die Auseinanderentwicklung nationaler
Christentümer, für die besonders die protestantischen und orthodoxen
Kirchen anfällig sind. Auch hier haben wir Deutschen in den
dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts der Weltchristenheit ein warnendes
Beispiel geboten. Nach 1989 wurde dieses Paktieren von Kirchen
mit nationalistischen Bestrebungen im Bereich des einstigen
Ostblocks zur Gefahr. Es ist historisch sehr wohl zu verstehen. Die
ruhmreiche Sowjetunion hat die einzelnen Völker, die zu ihr gehörten,
im Zeichen ihrer weltweit angelegten kommunistischen Vision
unterdrückt. Sie hat zugleich die Kirchen unterdrückt. Man kann
darüber diskutieren, ob sie mehr an ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten,
an ihrer Unterdrückung der einzelnen Völker, an ihrer Unterdrückung
der Kirchen oder an der nicht zu verwirklichenden Idee, die
zur Ideologie geworden war, zerbrochen ist. Nun atmeten einige Völker
auf. Als der verhasste Kommissar entmachtet war, fühlte der Pope
oder der Bischof sich berufen, sich als Vater des Volkes zu präsentieren,
in der Nation den Ton anzugeben. So geriet etwa die serbisch-orthodoxe
Kirche in einer sehr unguten Weise in die Rolle einer sich nationalistisch
gebärdenden Kirche. Und wenn auch kluge und feine
Kirchenväter in ihr wie der Patriarch Pawle versuchten, entschieden
entgegenzusteuern, die beim Volk populären Bischöfe übernahmen
doch immer mehr die Rolle, ihre Kirche nationalistisch einzufärben,
Glauben und Liebe zu einer Nation unlösbar zusammenzubinden.
Die Folge war, dass in den Balkankriegen der letzten zwanzig Jahre
die serbisch-orthodoxe Kirche eine sehr fragwürdige Rolle gespielt
hat. Sie hat auf diese Weise ihr politisches Wächteramt schwer vernachlässigt
und hat zu Gräueln geschwiegen, die der blinde Nationalitätenhass
angerichtet hat.
Ich habe die Gefährdung orthodoxer Kirchen, in ein nationalistisches
Christentum hineinzugeraten, am Ende der Gorbatschow-Ära
in Belorussland im Gespräch mit einem Priester miterlebt, vor dem
ich im Übrigen die allergrößte Hochachtung habe. Ich nenne ihn hier
»Vater Michail«, die ganze Gemeinde nennt ihn so, selbst seine junge
Frau spricht ihren jungen Ehemann mit »Vater Michail« an. Er opfert
sich in der hochverstrahlten Zone für seine Gemeinde total auf. Die
Kommissare gingen, Vater Michail und seine Frau mit den kleinen
Kindern kamen. Er gehört einer nationalen Partei an, die damals, etwa
um 1990, unter christlichem Vorzeichen die kommunistische Partei
bekämpft hat. Er zeigte mir die belorussische Fahne, in der ein roter
Streifen auf weißem Feld zu sehen ist. Die Farben dieser Fahne
deutete er so: Belorussland hat wie Christus gelitten, unter Stalin, unter
Hitler, unter Tschernobyl. Christus leidet mit uns. Daran erinnert
das Blutrot in unserer Fahne. Es ist das Blut unseres Volkes und das
Blut Christi. Aber vor strahlend weißem Hintergrund. Das ist Ostern.
Christus ist auferstanden. Unser Volk wird auferstehen aus seiner Passion.
Darum beten wir. Dafür kämpfen wir.
Ich versuchte ihm deutsche Erfahrungen aus den dreißiger Jahren
deutlich zu machen, wollte ihm zeigen, dass ein Christentum, das Nation
und Christus dermaßen eng in Verbindung miteinander bringt,
sich auf gefährliche Abwege begibt. »Das sind euere deutschen Probleme
«, sagte er mir. »Bei uns ist das etwas anderes.« Ich konnte ihn
nicht überzeugen.
In diesem Gespräch spürte ich, wie anfällig für Versuchungen auch
für hoch achtbare Christenmenschen der Weg in nationale Christentümer
sein kann.
Vom Osten und vom Westen, von Norden und von Süden werden
sie kommen, die zu Tisch sitzen werden im Gottesreich. Halten wir
unseren Horizont offen, stärken wir in unseren Gemeinden und Landeskirchen
alles, was zur Begegnung mit Christen anderer Länder und
Erdteile führt. Nehmen wir teil an ihrem Geschick. So werden wir in
der Weltgesellschaft am ehesten mit einer Zunge in den großen,
schweren Fragen, die heute die Menschheit bedrängen, die Weisheit
des Evangeliums zur Sprache bringen können. Und nur so werden wir
dem Auftrag entsprechen, den Jesaja dem Volk Gottes weitergab und
den Johannes der Täufer uns als Auftrag mit auf den Weg gegeben
hat: »Bereitet dem Herrn den Weg!« (Jes 40,3; Mt 3,3).

Wegworte zum Herunterladen: 12_3.So_n_Epiphan (pdf)