Letzter Sonntag nach Epiphanias

Über dir geht auf der Herr, und
seine Herrlichkeit erscheint über dir.

Der Prophet Jesaja 60, 2

Lesen wir dieses Wort erst im biblischen Zusammenhang als ein Wort
durch Deuterojesaja an das verzagte, in der babylonischen Gefangenschaft
demotivierte Volk Israel: »Mache dich auf und werde licht;
denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über
dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker;
aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint
über dir. Und die Völker werden zu deinem Licht ziehen und Könige
zum Glanz, der über dir aufgeht.«
Es wäre nicht angemessen, würden wir dieses Wort, das am letzten
Sonntag der Epiphaniaszeit Wochenspruch ist, sofort individualistisch
verengt auf uns ganz persönlich beziehen. Und es wäre auch dem älteren
Bruder Israel gegenüber nicht recht, wollten wir es sofort auf uns
Christen beziehen. Wenn ich einem Menschen seine Hoffnung stehle,
wenn ich ihm den Grund, den er für seine Hoffnung hat, bestreite,
dann versündige ich mich an ihm schwer. So hat sich die Christenheit
an ihrer älteren Schwester Israel oft versündigt, wenn sie Gottes Zusagen,
die diesem Volk gelten, flugs auf sich bezogen hat. Womöglich
gestützt auf eine Art »Enterbungstheorie«, nach welcher Israel, da es
in seiner großen Mehrheit Jesus nicht als seinen Messias angenommen
hat, der Verheißungen Gottes »enterbt« sei. Leider hat auch
Martin Luther in seinen späten Schriften gegen die Juden in dieses
Horn geblasen und die antijudaistischen Irrwege der sich auf ihn berufenden
evangelischen Kirchen mitverschuldet.
Die Verheißung »Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit
erscheint über dir« gilt nach wie vor Israel. Paulus hat das gewusst
und hat in Römer 9 bis 11 nach wie vor um die Frage gerungen, auf
welchem Weg Gott, den seine Gaben und Berufung nicht reuen können
(Röm 11,29), diese Verheißung an Israel wahr machen wird.
Wir haben in unserer Lebenszeit ganz Erstaunliches erlebt, durch
das Gott seine Zusagen, wie sie im 60. Kapitel des Jesajabuches ste-
hen, wahr gemacht hat: die Rückkehr des Volkes Israel in sein Land.
Schalom Ben-Chorin in seiner Schrift »Die Antwort des Jona«, 1955,
wertet, was nach dem Holocaust geschehen ist, als Erfüllung der Verheißung
von Hesekiel 37: »Aus den Massengräbern der Welt erweckt
Gott sein Volk zu neuem Leben. Und er führt es zurück in sein ihm
zugesagtes Land, nach Erez Jisrael.«
Wir sehen das heute mit vielen Fragen. Die ständige Gefährdung
Israels durch seine Nachbarn, gewiss auch die Versuchtheit des bedrohten
und immer neu provozierten Volkes und seiner Regierung,
unangemessen und unklug zu reagieren auf Terrorangriffe, auf die explosive
und hasserfüllte Stimmung in der arabischen Welt gegen Israel,
die Drohungen des iranischen Präsidenten, all das erinnert uns
viel mehr an die Feststellung: »Finsternis bedeckt das Erdreich und
Dunkel die Völker.« Wobei wir spüren, wie sehr dieses Dunkel auch
in Israel eindringt und die Mentalität vieler Israelis verfinstert.
In diesem Zusammenhang können wir Christen die Frage, welche
Bedeutung Jesus für sein Volk Israel hat, nicht überspringen. Es ist zu
einfach, wenn ein Christ sagt: »Juden brauchen Jesus nicht.« Auf jeder
Seite widerspricht das Neue Testament dieser Auffassung. Andererseits
können wir Christen den Begriff »Judenmission« nicht verwenden.
Wir würden mit diesem Begriff die Juden paganisieren, würden
das Volk der ersten Liebe Gottes (Friedrich Heer), mit dem Gott, der
Vater Jesu Christi, schon vor der Zeitenwende eine lange Heilsgeschichte
hatte und das auch danach sein erwähltes Volk bleibt, mit
den »Heidenvölkern« in einen Topf werfen. Nichts wäre unangemessener
als das. Aber wie kann unser Christuszeugnis gegenüber Juden
aussehen? Was ziemt sich da? Und dazu noch die Frage: Was ziemt
sich uns christlichen Deutschen? Wir werden – auch in unserer Landeskirche
– noch viel um diese Frage ringen müssen. Keiner sollte sich
dessen allzu sicher sein, dass seine Antwort auf diese schwere Frage die
allein richtige ist.
Aber Gottes Verheißung seinem Volk gegenüber gilt. Wir haben allen
Grund, mit Israel und für Israel, wohl gelegentlich auch stellvertretend
für Israel, darauf zu hoffen, dafür zu beten, mit offenem Sinn
zu erwarten, dass Gott seine Verheißungen an Israel wahr macht, dass
seine Herrlichkeit, sein Glanz über Israel erscheinen wird.
Erst in zweiter Linie dürfen wir, die Gemeinde Jesu Christi, die
Verheißung »Über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erscheint
über dir« auf die Christenheit beziehen. Keine Frage, dass die
Weltchristenheit mitbetroffen ist von der Finsternis, die das Erdreich
bedeckt, und dem Dunkel, das über den Völkern liegt. Keine Frage
auch, dass wir Christen zu allen Zeiten in dieses Dunkel schuldhaft
hineinverstrickt waren und sind und dass wir es durch unser christusfernes
Verhalten verfestigen. Wir haben kein Recht, uns Christen als
politische Heilsbringer und die Nichtchristen als politische Dunkelmänner
zu betrachten. Wie viele Nichtchristen leider erwarten, dass
eine solch hassenswerte Kreuzzugsmentalität uns bestimmt, das zeigen
muslimische Reaktionen auf das aus dem Zusammenhang gerissene
und fehl interpretierte Zitat des Papstes Benedikt XVI. in seiner Rede
in Ingolstadt. Die nichtchristliche Welt hat so sehr genug von christlicher
Arroganz, dass sie auch Personen solcher Kreuzzugsmentalität
verdächtigt, bei denen dieser Verdacht nicht gerechtfertigt ist. Dennoch:
Trotz der Zusage von Matthäus 5,14 – »Ihr seid das Licht der
Welt …« – sind wir Christen keine Lichtgestalten.
Aber die Zusage gilt uns und gilt der Weltchristenheit in den verschiedenen
Konfessionen: Ȇber dir geht auf der Herr, und seine
Herrlichkeit erscheint über dir.« Es ist der Lichtglanz, der sich nach
dem Johannesprolog (Joh 1) in Jesus verkörpert. Diese Zusage auf die
Christenheit beziehen heißt: darauf warten, dass Jesus Christus immer
deutlicher, heller, leuchtender in seiner Kirche sich gegen alles
Dunkle, Halbdunkle und Zwielichtige durchsetzt. »… brich in deiner
Kirche an, dass die Welt es sehen kann, erbarm dich, Herr« (Otto
Riethmüller, EG 263).
Zu dieser Verheißung gehört aber gleich die Aufforderung: »Mache
dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt …« Die Weltchristenheit
ist aufgerufen, sich vom kommenden Christus erleuchten, sich aus ihrer
eingefleischten Problematik herausrufen zu lassen, alle »Verhocktheit im
Arteigenen«, alle Verliebtheit in die eigene Problematik hinter sich zu
lassen und dem kommenden Christus entgegenzugehen. Etwa wie ein
Bergwanderer, der hoch hinauf will, morgens um vier aus dem dunklen
Tal aufbricht, die rötlich hell werdenden Bergspitzen vor und über sich
sieht und sein Gesicht bereits vom kommenden Licht erleuchten lässt.
Für die ökumenische Christenheit würde dieses »Mache dich auf,
werde licht« auf jeden Fall heißen, ihre Zusammengehörigkeit über
alle konfessionellen Unterschiede zu stellen, miteinander, auch bei
theologischen Unterschieden, das Mahl des Herrn zu feiern, zusammen
zu beten, zu singen, das Evangelium zu hören und die offenbaren
Übel der Welt, Hunger, Ungerechtigkeit, Analphabetismus, Fanatismus,
Militarismus, alten und neuen Imperialismus bis hin zur
AIDS-Seuche gemeinsam anzugehen.
Sich aufmachen im Vorschein des Lichtes Christi heißt Umkehr vom
Herrschen zum Dienen. Als Leib des fußwaschenden Christus alle Gaben
einsetzen, die uns Gott gegeben hat. Nicht um christliche Vorherrschaft
soll es gehen, sondern um den schlichten Dienst im Namen Jesu.
Und natürlich haben Christen in aller Welt eine enorme Verpflichtung,
für den Weltfrieden zu arbeiten – selbstverständlich im Bündnis
mit Atheisten und mit Menschen anderer Religion. Man kann gegen
Hans Küngs »Projekt Weltethos« im Einzelnen manches einwerfen.
Ich habe das in Vorträgen auch immer wieder getan. Aber dass er die
Aufgabe der Christen, im Bündnis mit Menschen anderer Religion,
den Frieden, eine neue soziale Gerechtigkeit und die Erhaltung der
uns anvertrauten Schöpfung zu suchen, in der Welt publik gemacht
hat, das kann jeder Christ, der von Epiphanias herkommt, nur hell
begrüßen. Es steht uns Christen, die in Jesus Christus den Frieden in
Person als ihren Begleiter, Ratgeber, Geistgeber haben, durchaus zu,
Vorreiter einer solchen Bewegung zu sein.
Jede Gemeinde vor Ort soll diese Zusage Ȇber dir geht auf der
Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir« auf sich beziehen. Es
mag die sichtbare Wirklichkeit einer Kirchengemeinde da und dort so
sein, dass die in ihr Arbeitenden mit Müdigkeit und Resignation
kämpfen müssen. Ihnen hilft kein Appell, noch weniger das Urteil eines,
der gern beurteilt, sondern einzig, dass Christen ihre Last mittragen
und ihnen ihre Dankbarkeit zeigen für ihre Treue. Aber auch, dass wir
uns in jedem Gottesdienst um das Licht versammeln, das uns scheint
und das über unserer Gemeinde aufgehen wird. »… es leucht wohl
mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht«, können wir
mit Martin Luther zwischen Weihnachten, Epiphanias und dem
Ostermorgen singen. Jede Gemeinde braucht Menschen, die – stell-
vertretend für andere – dieses Licht feiern und unbeirrt darauf hoffen,
dass es über der Gemeinde neu aufgehen wird.
Und schließlich jede und jeder von uns ganz persönlich. Finsternis
und Dunkel sind uns nicht fremd. Sie verfinstern immer wieder unser
Empfinden, Denken, Reden. Oft sind gerade Christen, die einst mit
einem hohen ethischen Ideal angetreten sind, in der Gefahr, sich unter
dem Einfluss der Enttäuschungen ihres Lebens zu verfinstern. Es
soll bei uns nicht gehen wie bei Leo Tolstoi und seinen engsten Anhängern.
Wenn diese sich um ihren Meister versammelten, sagte Sonja,
Tolstois Frau: »Die Finsterlinge sind wieder da.« Umso tröstlicher,
dass das Licht selbst sich aufgemacht hat, uns zu suchen.

Wir suchen dich nicht,
wir finden dich nicht,
du suchst und du findest uns,
ewiges Licht.
Wir lieben dich wenig,
wir dienen dir schlecht,
du liebst und du dienst uns,
ewiger Knecht.
Wir eifern im unsern,
am selbstischen Ort,
du musst um uns eifern,
ewiges Wort.
Wir können dich, Kind
in der Krippe, nicht fassen.
Wir können die Botschaft
nur wahr sein lassen.
Albrecht Goes

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