16. Sonntag nach Trinitatis

Der zweite Brief des Paulus an die Timotheus 1, 10

Kurz vor meinem Ruhestand brachte ich Stunden auf dem Speicher
der Prälatur zu, wo – chronologisch geordnet – alle meine Predigten,
Ansprachen, Vorträge, Traureden, Grabreden in langen Reihen von
Ordnern standen. Der Umzug nahte. Ich musste meinen Besitz reduzieren.
Besonders die vielen, vielen Beerdigungen standen vor mir, die
ich seit 1968 gehalten habe. Ich musste mir eingestehen, dass ich mit
vielen Namen keine Erinnerung mehr verband. Mit anderen umso tiefere.
Menschen, die ich sterben sah, andere beim Gespräch vor der Beerdigung,
dann die Stunde in der Leichenhalle, auf dem Friedhof. Und
in den Särgen? Viele alte Menschen, unter ihnen mancher, der lebenssatt
gestorben war, auf den das Wort aus Hiob 5, 26 zutraf: »Du wirst
im Alter zu Grabe kommen, wie Garben eingeführt werden zu seiner
Zeit.« Aber wie viele andere Menschen, für die das Sterben ein Abbruch
war. Wie gerne hätten sie weitergelebt. Und wie schwer wurde
es ihnen, diese brutale Gewalt, die wir Tod nennen, zu erleiden. Junge
Menschen sind dabei, auch einige, die ich selbst wenige Jahre vorher
konfirmiert hatte. Quicklebendige lebenslustige Jungens, voll Neugier.
Ein Unfall im Meer, ein Verkehrsunfall auf der Straße, der gleich drei
junge Menschen aus dem blühenden Leben gerissen hat. Wie viele
Selbstmordtote, die ihre Gründe und ihre Verzweiflung mit ins Grab
genommen haben. Ein junger Mann, der auf furchtbare Weise ermordet
wurde an einem Sonntagmorgen um fünf auf dem Münsterplatz in
Ulm im Angesicht des höchsten Kirchturms der Welt von Tätern, die
bis heute noch nicht gefasst wurden. Und immer wieder auch Kinder.
Ich sehe die kleinen weißen Särge vor mir, die jungen Eltern, erstarrt
in ihrem ohnmächtigen Schmerz. Und ich spüre in mir aufkommen
das Gefühl nach diesen Beerdigungen: Weg! Nur weg! Flucht! An den
Bodensee, sonst wohin. Allein durch Wälder laufen, dass die Gedanken
und Gefühle sich freimachen können im Wind.
Gestorben wird an jedem Tag und in jeder Nacht. Wer sich ganz
von dieser Tatsache abschotten wollte, den erinnert die letzte Seite jeder
Tageszeitung daran.
Kam ein neuer Ton ins Sterben? Ein Hoffnungston, ein klein wenig
Ahnung davon, dass dem Tod die Macht genommen ist? Hat in
den Grabreden, die ich zu halten versuchte, in den Osterpredigten, in
den Liedern, die wir gesungen haben, in den Gebeten, ein wenig von
dieser Gewissheit aufgeleuchtet? Hat da und dort ein Sterbender, an
dessen Bett ich saß, etwas von diesem Überwinden des Todes, des
»letzten Feindes« (1. Kor 15,26) gespürt? So dass sein Sterben ein
»Heimgehen«, ein »Entschlafen« wurde?
Was hatte sich in den 38 Jahren seit meiner ersten Beerdigung im Januar
1968 in unserer Gesellschaft im Blick auf unser Verhältnis zum
Tod verändert? Als Vikar las ich in Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«.
Er beschreibt die perfekte Todesverdrängung der bürgerlichen Gesellschaft:
»Was bürgerlich in den Tag respektive in die Nacht hineinlebt,
das stellt sich nicht auf den Tod ein, das stellt ihn weg.« Bloch beschreibt
hier Eindrücke aus dem Amerika der vierziger Jahre. Einstweilen
hat diese Verdrängung des Todes aus dem öffentlichen Leben auch
bei uns sehr zugenommen. Trauerbräuche gibt es auch auf dem Land
kaum noch. Trauerkleidung wird sehr bald wieder abgelegt. Friedhöfe
werden aus der Stadt in den Wald verlegt. Gestorben wird kaum noch
zu Hause, sondern im Krankenhaus. Selbst die Wagen der Bestattungsfirmen
sind kaum noch als solche kenntlich. Der Tod wird, so gut es
geht, unkenntlich gemacht. Er soll das pulsierende Leben nicht stören.
Sterbende bitten ihre Angehörigen um Verzeihung dafür, dass sie mit
ihrem Sterben und der Beerdigung in ihr Arbeitsleben eingreifen und
ihnen die Zeit stehlen. Und immer mehr an Boden gewinnt die Auffassung,
man solle doch auch den Zeitpunkt des Todes in die Verfügung
des Sterbenden geben, so dass seine Frau den Bekannten sagen kann:
»Am Dienstag stirbt mein Mann, die Trauerfeier ist am Freitag.« Die
Gesellschaften für »Humanes Sterben« sind im Kommen. Wenn sie in
Deutschland nicht akzeptiert werden, fahren Menschen in die Schweiz.
Ist so dem Tod ein Stück von seiner Macht genommen worden?
Können wir in dieser Unkenntlichmachung des Todes oder in dieser
Übernahme in die Regie des selbst entscheidenden Menschen etwas
erkennen von der Wirkung dessen, dass Christus dem Tode die Macht
genommen hat?
Wohl kaum. Die Verdrängung des Todes ist in der Regel nur Ausdruck
dessen, dass Menschen mit ihm überhaupt nichts anfangen
können und dass sie ihrer Todesangst hilflos ausgeliefert sind.
In Hebräer 2,15 wird von Jesus Christus gesagt: »Er erlöste die, so
durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.«
Wie auf etwas allgemein Bekanntes wird hier darauf hingewiesen, dass
Todesfurcht Menschen ein Leben lang knechtet. Wobei ein Mensch
doch etwas freier ist, wenn er zu seiner Todesfurcht steht, wenn er auch
gelegentlich ohne alles Pathos durchblicken lassen kann, dass er diese
Furcht sehr wohl kennt. Von einem Menschen, der von sich sagt, Todesfurcht
sei ihm ganz fern, er sei jederzeit bereit zu sterben und es sei
ihm eigentlich egal, ob es heute Nacht oder morgen oder in vierzig Jahren
sei, vermuten wir zu Recht, dass er entweder mit seinem Leben
nichts anfangen kann oder dass er einen geistigen Defekt hat oder dass
er eben am sensibelsten Punkt des Lebens den Helden spielen will.
Aber es ist wahr, dass Todesfurcht uns knechtet. Gewalttäter können
hier anknüpfen und können nach dem Moto »Geld oder Leben«
uns erpressen. Und wie oft baut die Macht eines Gewaltregimes darauf
auf, dass Widerstrebende mit dem Tod bedroht werden. Gewaltregime
bauen ihre Konzentrationslager. Durch deren Existenz allein
knechten sie die Menschen, die keine Lust zum Martyrium empfinden,
weil ihnen ihr Leben lieb ist.
Was in den letzten vierzig Jahren weltweit auch zugenommen hat,
ist die Zahl der Selbstmordattentäter, die, meist mit religiöser Begründung,
morden und dabei bewusst auch sich selbst von der Bombe zerreißen
lassen. Hat man in meiner Jugend dann und wann von japanischen
Kamikaze-Kämpfern geredet, die ihren eigenen Tod bei einem
Bombenangriff dem »Erfolg« dieser tödlichen Mission opfern, so hat
das in uns einen tiefen Schauer erregt. Wir konnten es kaum glauben,
dass es das wirklich gegeben haben sollte. Wir vermuteten, dass es
doch eher eine Erfindung japanischer Heldenpropaganda sei. Heute
ist der Begriff »Selbstmordattentäter« ein fast selbstverständlich gebrauchtes
Wort der Umgangsan solche Nachrichten. Und seit den Ereignissen des 11. September
2001 ist diese Art terroristischer Kriegführung zum weltgeschichtlich
zur Kenntnis genommenen Faktum geworden.
Mich erinnern die Brigaden junger palästinensischer Kämpfer –
auch junge Frauen sind darunter –, die sich bombenumwickelt filmen
lassen, nicht nur daran, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit wenig
Positives in ihrem jungen Leben erfahren haben und dass ihre Aussicht
auf ein Leben in Frieden und einem gewissen Wohlstand minimal
ist. Sie erinnern mich fast noch mehr an das, was Sigmund Freud
über den Todestrieb und was sein Schüler Erich Fromm über die sehr
weit verbreitete und in den Kulturen überaus verästelte Nekrophilie
(Hinneigung oder Liebe zum Tod) geschrieben haben.
Christus hat dem Tode die Macht genommen. Es kann nie genug
bedacht werden, dass Ostern die eigentliche Geburtsstunde der Christenheit
ist. Jesus Christus, der unschuldig und schmachvoll die Qual
des gewaltsamen, eines grausam in die Länge gezogenen, von Todesbesessenen
zelebrierten Todes erlitten hat, wurde von Gott auferweckt.
Er lebt und macht lebendig. Er nimmt denen, die zu ihm gehören
und die von seinem Geist leben, die Todesfurcht ebenso wie
jede Todesliebe oder Todesvergötzung. Er befreit von beidem.
Er befreit aus der Knechtschaft, aus der Erpressbarkeit, in der uns
unsere natürliche Todesfurcht hält. Wenn wir das weitersagen, müssen
wir aufpassen, dass wir nicht übertreiben. Auch wir Christen bleiben ja
Menschen, die für ihr eigenes Verhalten nicht die Hand ins Feuer legen
können. Wir bleiben bis zu unserem Lebensende in diesem Leib,
der selbstverständlich Todesfurcht kennt. Aber wahr ist auch, dass die
Nähe Jesu Christi immer wieder neu Menschen die Kraft gibt, erpresserischen
Drohungen standzuhalten und eine Freiheit zu bewähren,
wie sie sich etwa in den Paul-Gerhardt-Versen ausdrückt, die Dietrich
Bonhoeffer seinen Mitgefangenen in Tegel als Hilfe zugespielt hat:
Unverzagt und ohne Grauen
soll ein Christ, wo er ist,
stets sich lassen schaun.
Wollt ihn auch der Tod aufreiben,
soll der Mut dennoch
und fein stille bleiben.
Kann uns doch kein Tod nicht töten,
sondern reißt unsern Geist
aus viel tausend Nöten,
schließt das Tor der bittern Leiden
und macht Bahn, da man kann
gehn zu Himmelsfreuden.
(EG 370,7. 8)
Wir müssen uns aber nicht lediglich an diese erstaunlich freien Ausnahmechristen
halten, um Beispiele dafür zu finden, wie Menschen
durch die Nähe Jesu Christi und durch ihre Freiheit, ihr Leben und
Sterben ganz in seine Hand zu geben, offenbar weithin ihre Todesfurcht
verloren haben. Unter den vielen Menschen, an deren Krankenbett
ich saß, die ich zum Teil bis in ihre letzten Stunden begleiten
konnte, waren doch sehr viele, deren Glaube ihnen Trost war.
Nur selten habe ich Menschen erlebt, deren Glaube, soweit ich das
als Außenstehender beurteilen kann, ihnen auf dem letzten Weg keine
oder wenig Hilfe gegen die Todesfurcht gegeben hat. Wenn dies der
Fall war und der Sterbende ohne Frieden in seinen letzten Stunden
von Angst gequält wurde, hatte das meist entweder den Grund, dass
er sich von seinem Besitz nicht lösen konnte und alte Geldstreitigkeiten
seine gequälte Seele nicht in Ruhe ließen oder dass ungelöste
zwischenmenschliche Konflikte ihn bis in die letzten Stunden verfolgt
haben. Es kann in solchen Fällen die Feier des Heiligen Abendmahls
als eine Feier am Tisch des Herrn über alle Mächte mit Beichte und
Absolution viel Frieden bringen. Aber wir haben es nicht in der Hand
und müssen anerkennen, dass der Geist weht, wann und wo er will.
Auf jeden Fall, für das Leben wie für das Sterben, ist es gut, wenn ein
Mensch seinem Besitz gegenüber ein Verhältnis hat, wie es Paulus beschreibt:
»Haben, als hätten wir nicht« (1. Kor 7,29–31). Und wir
können nie sorgsam genug Menschen dabei helfen, mit uns oder anderen
zum Frieden zu kommen, solange sie ihn noch erfassen und ein
wenig genießen können.
Wir sollten in unserem Verständnis dieses Satzes »Christus hat dem
Tode die Macht genommen und hat Leben und unvergängliches Wesen
ans Licht gebracht« allerdings nicht nur und nicht vor allem auf
den Vorgang des Sterbens starren, sondern wir können die Kraft des
auferstandenen Christus vor allem auch darin erfahren, dass er es uns
gelingen lässt, unser ganz normales Leben zu feiern, auch »im Schatten
des Todes« und selbstverständlich auch mit Menschen, an denen
Spuren der Behinderung, der Beeinträchtigung an Seele und Leib,
auch an ihrem Geist, deutlich sind. Der Überwinder des Todes schafft
uns Freiraum zum Leben, das wir miteinander auch dann zu genießen
verstehen, wenn wir manches Bedrohliche nicht gut übersehen
können. Die Nähe Jesu gibt uns die Freiheit zu leben, nicht umsonst
hat der Verfasser des 1. Johannesbriefes die ganze Sendung Jesu elementar
zusammengefasst in dem Satz: »Das Leben ist erschienen«
(1. Joh 1,2).
Dass derselbe Christus uns befreit von jeder Art von nekrophilem
Wesen, vollends von jeder Art von Todesvergötzung, dass er uns bewahrt
vor der dunklen Macht des »Todestriebes«, der, wenn Sigmund
Freud recht hat, auch in uns angelegt ist, darf ebenso gewiss gesagt
werden. Christus, der Fürst des Lebens (Apg 3,15), verträgt sich nicht
mit den Todesmächten, die er erlitten und überwunden hat, so wenig
sich die Sonne mit der Nacht verträgt. Und wir Christen können
nicht Kinder der Nacht und Kinder des Lichtes zugleich sein.

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