9. Sonntag nach Trinitatis (18. August 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Philipper 3, 7-14

3,7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.
8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben.
10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,
11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist,
14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

IntentionDie Predigt ermutigt die Hörenden, ihr Christenleben als ein Leben im Fluss, im Übergang zu verstehen, nicht als fertig.

Liebe Gemeinde,
haben Sie noch im Ohr, wie Paulus die Christen in Philippi anredet?
„Meine Brüder und Schwestern!“ So redet er zu ihnen. Uns ist diese Anrede fremd geworden. Vielen kommt sie vor wie eine fromme Floskel. Aber für Paulus war es keine Floskel. Aus seinen Worten spricht eine überaus herzliche Verbundenheit. Sie, die Christen in Philippi und der Apostel Paulus, sind einander seit langem zugetan. Und erst vor kurzem hat Paulus dafür wieder ein überaus deutliches Zeichen bekommen. Er ist nämlich im Gefängnis. Und seine Schwestern und Brüder in Philippi haben davon erfahren. Sie haben gleich untereinander Geld gesammelt und es dem Paulus per Bote zukommen lassen. Für ihn war diese finanzielle Unterstützung eine freudige Überraschung. Und nun bedankt er sich in seinem Brief überschwänglich für dieses Zeichen der Verbundenheit. Wie gut muss das tun, zu sehen und zu spüren: Es gibt in der Ferne Freunde, Schwestern und Brüder, die an ihn in seiner Not denken. Sie tun ihm Gutes. Und bestimmt haben sie auch für ihn gebetet.

Das Frühere: MistIm Grunde jedoch war Paulus einsam.
Früher, da war er mal wer. Da war er eingebunden in die große Bewegung der pharisäischen Gemeinschaft im Judentum. Da hatte er sich einen Namen gemacht. Da hatte er gute Beziehungen. Und er war überzeugt, eine ganz wichtige Mission zu haben. Die Abtrünnigen verfolgen, überall in der Welt sie aufzuspüren und anzuklagen. Alle Anhänger des Jesus von Nazareth waren in seinen Augen solche Abtrünnigen. Aber das ist lange her. Das ist nicht mehr sein Leben. Über das, was ihm einmal wichtig war, kann er jetzt nur noch sagen: Das war Mist. Ich betrachte das, wofür ich mich einmal ereifert habe, für Dreck. Und damit hat er natürlich auch alle Freunde, die ähnlich dachten wie er früher, verloren. Er konnte und wollte nicht mehr dazugehören. Er wurde einsam.
Paulus ist noch nicht fertig mit seiner Vergangenheit. Irgendwie hängt er noch daran. Immer wieder muss er darauf zurückkommen, und wieder und wieder betonen, wie schlecht das alles war, wovon er einmal überzeugt war und wofür er sich mit ganzer Energie eingesetzt hatte.
Ganz fremd ist uns das nicht. Man kennt das aus der eigenen Umgebung. Menschen, die einen Bruch in ihrem Leben hinter sich haben, machen das, was ihnen vorher wichtig war, oft übertrieben schlecht. Da geht eine Ehe zu Bruch, und dann wird der Mensch, den jemand früher mal geliebt hatte, der sein Einundalles war, in jeder Beziehung schlecht gemacht. Es war die Hölle mit ihr. Der war immer schon falsch. Wie konnte ich nur mich auf so jemanden einlassen.
Oder bei Jugendlichen kann man es erleben, dass sie ganz ungeschminkt zeigen: So wie meine Eltern mich erzogen haben, so will ich nie und nimmer leben. Das ist alles Shit. Sie zeigen mit ihrem ganzen Gehabe und ihrem Verhalten, wie tief sie alles verachten, was sie mal als richtig und wichtig und wertvoll betrachtet haben.
Paulus ist über diesem Bruch in seinem Leben einsam geworden.
Und auch später, als Lehrer und Seelsorger der ersten christlichen Gemeinden, hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Er konnte sehr hart sein, geradezu rechthaberisch gegenüber anderen Lehrern. Manchmal hat er sie echt abgekanzelt und hat vor ihnen gewarnt, wenn er den Eindruck hatte, sie würden das Evangelium mehr oder weniger anders lehren als er es für richtig hielt. Und mit wirklichem Lob war er sehr sparsam.
Auch in seinem neuen Leben als Apostel Jesu Christi hat er seine Einsamkeit nicht wirklich überwunden.

Sehnsucht nach neuer GemeinschaftIn seiner Einsamkeit brennt eine tiefe Sehnsucht in ihm. Eine Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft. Den Brüdern und Schwestern kann er das in aller Aufrichtigkeit sagen. Sie werden ihn verstehen. Sie haben selbst so einen Bruch mit ihrem früheren Leben hinter sich. Die meisten Menschen um sie herum wollen nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sie sind sozusagen heimatlos in ihrer eigenen Stadt. Und die neue Heimat, die sie ersehnen, haben sie noch nicht gefunden.
Wir wundern uns vielleicht, dass Paulus sagt: Christus „will ich erkennen“. Hat er das nicht schon? Hat sich Christus ihm nicht überdeutlich gezeigt? Ja, aber das war nur der Anfang. Da ist er herausgerissen worden aus seinen früheren Bindungen und aus seinem zwanghaften Wahn, alle Irrlehrer zu verfolgen. Und seither lebt er immer noch im Dazwischen. Und sagt offenherzig: „Ich hab’s noch nicht ergriffen“. Ich bin noch nicht vollkommen. Ich bin noch dabei, zu vergessen, was hinter mir liegt. Ich strecke mich aus nach dem, was kommt. So ausgetreckt zwischen den zwei Polen seines Lebens sitzt er einsam im Gefängnis. Ein alter Mann.

Paulus im GefängnisDer Maler Rembrandt hat den alten Paulus gemalt. Im Gefängnis. Es ist erstaunlich, was der Maler gesehen hat und den Betrachtern seines Bildes zeigt. Paulus sitzt auf einer Liege in seiner Zelle. Ein zerfurchtes Gesicht. Faltige, vom Alter gezeichnete Hände. Die Augen blicken in weite Ferne, obwohl die Zelle sehr eng ist. Erstaunlicherweise flutet ganz viel Licht durch das vergitterte Zellenfenster. Auf seinen Knien liegt ein aufgeschlagenes Buch. Viele andere dicke Bücher liegen auf einem Stapel neben ihm. Er denkt nach: Er möchte Christus erkennen. Er möchte erfassen, was Christi Auferstehung von den Toten ihm bedeuteten kann. Er sieht vor sich sein Ende, das bald kommen kann.
Rembrandt hat Paulus im Übergang gemalt. Das Alte hat seine Bedeutung schon eingebüßt. Da steht an der Wand ein Schwert. Nutzlos. Paulus muss jetzt nicht mehr kämpfen, nicht gegen Abtrünnige, nicht gegen Irrlehrer. Und die alten Bücher sind zugeschlagen. Wie oft hat er daraus zitiert, um seine Position zu beglaubigen und zu begründen und die seiner Gegner zu verdammen. Den Freunden in Philippi muss er nichts beweisen. Und dann ist da das Licht. Man hat den Eindruck, dass er es noch gar nicht richtig wahrgenommen hat. Noch ist er im Denken und Sinnieren. Noch ist er dabei, seine Sehnsucht in Worte zu fassen – und da sitzt er schon voll im Licht. Wird von ihm erleuchtet jedenfalls äußerlich, und ist von diesem Licht umfangen. Er will Christus erkennen – und der setzt ihn ins Licht. Er will Jesu Auferstehung verstehen – und das Licht des Ostermorgens umhüllt ihn. Er will begreifen, was es heißt, mit Christus eins zu sein in seinem Leiden – und ist gefangen.
Rembrandt hat mit seinem Bild das, wonach Paulus sich sehnt, schon ein Stück weit als bereits eingetreten gemalt. Paulus hatte losgelassen, was ihn aus der Vergangenheit immer noch gefangen hielt. Er musste nicht mehr die ihm geschenkte Einsicht mit aller Härte als unumstößlich behaupten. Sein Denken war nicht mehr so stark gefangen von dem, was er abgelegt hatte, sondern es war mehr bestimmt von dem, was er erwartete, wonach er sich sehnte. Er war sich im Klaren, dass er seine Wahrheit nicht durchsetzen musste, sondern dass sie ihm und denen, mit denen er vor kurzem noch in Streit lag, gezeigt werden würde.

Christen leben zwischen den ZeitenAls Christen können wir von Paulus lernen. Wir leben ein Leben im Übergang. Wir sehen das Böse in der Welt. Wir sehen, wie furchtbar Menschen miteinander umgehen. Wir sehen auch, wie alles, was gut und schön ist – weil Gott es gut und schön geschaffen hat – den sogenannten Gesetzen des Marktes ausgeliefert wird: Die Pflanzen und die Tiere, der Boden, die Luft, das Wasser. Wir sehen, wie das Alles dem Streben nach Reichtum und Gewinn geopfert wird – und sind doch mitbeteiligt daran. Wir sind täglich den pausenlosen Verlockungen eines angeblich besseren, bequemeren, zeitgemäßeren Lebens ausgesetzt. Wir geben ihnen mehr oder weniger nach.
Und zugleich wissen wir: Christus hat uns eine ganz neue Art des Lebens in Aussicht gestellt. Es ist nicht das Paradies des vollendeten technischen Fortschritts. Es ist ein Leben in Frieden. Nicht heimatlos, sondern beheimatet im Frieden mit Gott, im Frieden auch mit uns selbst, im Frieden mit den Menschen um uns und mit allen Kreaturen der Schöpfung.
Mit Paulus wissen auch wir, dass wir dieses versprochene neue Leben noch nicht ergriffen haben. Wir haben es noch nicht einmal im Kopf begriffen. Wir haben da noch manche Etappen vor uns. Wir leben noch im Übergang. Und so ein Leben im Übergang, das kann gar nicht rechthaberisch sein. Keiner von uns hat die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Darum können wir nachsichtig sein, gegenüber denen, die anders denken und gegenüber uns selbst. Wir können auch Fehler eingestehen und falsche Wege verlassen, ohne Angst. Denn die neue Welt ist noch im Werden. Wie sie ist, wird uns noch gezeigt werden. Und dann werden wir staunen und vielleicht auch miteinander darüber lachen, wie klein und dürftig wir von ihr gedacht haben.
Amen.

HinweisDas Bild von Rembrandt „Paulus im Gefängnis" (1627) ist in der Staatsgalerie Stuttgart ausgestellt.

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