10. Sonntag nach Trinitatis (25. August 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Michael Volkmann, Bad Boll [michael.volkmann@elk-wue.de]

Markus 12, 28-34

12,28 Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4-5).
31 Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm;
33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

IntentionDie Wahrheit unseres Predigttextes ist, dass niemand behaupten kann, er liebe Gott, wenn er nicht auch seinen Nächsten liebt. Die Liebe ist die stärkste Kraft gegen eine solche Aufspaltung der Beziehung zu Gott und zu den Menschen. Sie ist die stärkste Kraft gegen den Hass. Gottesliebe und Nächstenliebe sind der beste Weg, „dass „‘Auschwitz‘ nicht noch einmal sei“ (Theodor W. Adorno).
Das Dokument „Dabru emet“ eignet sich als aktuelles Beispiel christlich-jüdischer Annäherung für die Predigt am Israelsonntag.

Liebe Gemeinde,
diese sieben Verse erzählen von einem Gespräch, das zwei Menschen einander nahe bringt. Sie begegnen sich zum ersten Mal, Jesus und dieser pharisäische Schriftgelehrte. In Frage und Antwort, Zustimmung und Bestätigung finden sie zur völligen Übereinstimmung. Am Anfang ist noch von Streit die Rede, am Ende davon, dass das Reich Gottes nahe ist. Eine wunderbare Geschichte von einem vorbildlichen Dialog über die wichtigsten Dinge im Leben: Liebe und Wahrheit.

Warum konnte es nicht immer so sein zwischen Christen und Juden wie zwischen Jesus und diesem Schriftgelehrten? Erst seit wenigen Jahrzehnten pflegen wir den respektvollen Dialog mit dem Judentum und unser Predigttext ist dafür ein Vorbild.

Die Szene spielt im Tempel von Jerusalem. „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“, hat schon Jesaja als Gottes Verheißung für den Tempel verkündet (Jesaja 56,7). Hier ist die Mitte der Welt. Den äußeren Vorhof dürfen Menschen aus allen Völkern betreten, die inneren Höfe nur Jüdinnen und Juden. Denn der Tempel ist vor allem das Zentrum der jüdischen Welt: Opferstätte, Ort für Gottesdienst und Gebet, für Versammlungen und Verabredungen, Lehrhaus, Bibliothek und Schatzhaus. In den ringsum verlaufenden Säulenhallen wird viel gelehrt und diskutiert. Jedes Mal, wenn Jesus nach Jerusalem kommt, geht er zuerst in den Tempel und sucht die Begegnung und das Gespräch mit den Menschen. Vor allem die Pharisäer lieben es, über die Tora zu diskutieren. Dabei ist auch der konstruktive „Streit um des Himmels willen“ erlaubt.

Der hier geschilderten Begegnung gehen drei „Vergegnungen“ vorausAuch jetzt gehen unserer Szene drei andere Begegnungen unmittelbar voraus, kurze Wortwechsel, in denen Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste mit Jesus streiten. Doch ihr Streit ist nicht „um des Himmels willen“. Sie sind die Hausherren im Tempel und sie fragen Jesus nach seiner Vollmacht. Da sie Jesu Gegenfrage nicht beantworten, gibt er ihnen auch keine Antwort.

Darum schicken sie Pharisäer und Herodianer vor, um Jesus mit Fragen zu fangen. Diese biedern sich bei Jesus an, als kennten sie ihn sehr gut, kennen ihn jedoch offensichtlich nicht. Jesus durchschaut ihre Heuchelei und antwortet ihnen so, dass sie sich wundern. Sie erkennen, dass er wahrhaftig ist und den Weg Gottes recht lehrt.

Dann folgt die unaufrichtige Frage der Sadduzäer, Verbündete der Hohepriester, nach der Auferstehung. Jesus sagt ihnen zwei Mal, dass sie irren, und bricht das Gespräch mit ihnen ab.

Die Frage in unserem Predigttext ist die vierte Frage an Jesus und die erste, bei der niemand sich fürchtet, heuchelt oder irrt. Der Schriftgelehrte hat die vorausgegangenen Streitgespräche gehört. Womöglich gehört er zu den Pharisäern, die sich über Jesu Antworten wunderten. Diese haben ihm gefallen, darum fragt er Jesus jetzt nach dem höchsten Gebot. Natürlich weiß er selbst eine Antwort auf seine Frage, aber er möchte Jesu Meinung dazu hören. Die Frage nach dem höchsten Gebot ist die Frage nach der Mitte des Glaubens, nach dem, was Gottes Wille ist und wie die, die an ihn glauben, leben sollen. Jesus erkennt, dass der Schriftgelehrte aufrichtig fragt und mit ihm ins Gespräch kommen möchte. Darum gibt er ihm Antwort.

In diesem Gespräch geht es um Heiliges am heiligen OrtWas Jesus sagt, ist mehr als ein Gebot. Seine Antwort beginnt mit dem Bekenntnis zum jüdischen Glauben, dem Anfang des wichtigsten jüdischen Gebets aus dem 5. Buch Mose: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein. Nach Maimonides, dem bedeutendsten jüdischen Philosophen des Mittelalters, drückt dieser Vers die vornehmste Wahrheit der monotheistischen Religion aus. Dann sagt Jesus das eigentliche Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“

Wie ernst dieses Gebot und die Mahnung, es sich zu merken und danach zu handeln, im Judentum genommen werden, beschreibt Professor Daniel Krochmalnik: „Juden führen diese Vorschriften ganz wörtlich aus und vergegenwärtigen sich mit ihrer Hilfe dauernd jene ‚Worte‘: Sie sprechen sie zweimal täglich im öffentlichen Morgen- und Abendgottesdienst, binden sie mit Riemen an Arm und Stirn (T’filin) und befestigen sie in Kapseln an Türpfosten (Mesusot). Es sind die ersten Worte, die sie lernen, die letzten, die sie abends vor dem Einschlafen sprechen und auch die letzten, die sie in ihrem Leben hören. Schließlich gehen mit ihnen auf den Lippen die jüdischen Märtyrer in den Tod.“

Jesus bekennt sich mit diesem Gebet nicht nur zum Gott Israels, sondern auch zu seinem Volk und zur Tora, die im höchsten Gebot zusammengefasst ist. Er spricht über diese heiligen Dinge am heiligen Ort seines Volkes, im Tempel. Der Schriftgelehrte nimmt all das wahr und versteht es als Antwort auf seine Frage.

Doch mit dem Gebot der Gottesliebe hat Jesus noch nicht alles gesagt. Er spricht weiter und zitiert aus dem 3. Buch Mose: Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Was Jesus mit „lieben“ meint, beschreibt er im Gleichnis vom barmherzigen Samariter mit zehn Verben: der Samariter sieht den Überfallenen, hat Mitleid mit ihm, dann vollzieht er acht helfende Handlungen, die den Verletzten wieder vollständig genesen lassen sollen. Rabbiner Leo Baeck (1877-1956) schreibt über das Gebot der Nächstenliebe: „Wie uns selbst sollen wir den Nächsten lieben; er soll uns das sein, was wir uns sind, seine Seele so bedeutungsvoll und so der Rücksicht wert wie die unsere. Es ist nur die Konsequenz dessen, daß wir seine Seele kennen. Sich in den Mitmenschen hineinversetzen, sich in sein Hoffen und Sehnen hineindenken, die Bedürfnisse seines Herzens begreifen und in das Wohl und Wehe seines Gemüts eindringen, das ist die Vorbedingung aller Nächstenliebe und Barmherzigkeit …“

Redet Wahrheit!Jesus schließt seine Antwort ab mit der Bekräftigung: „Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer und ist kein anderer außer ihm.“ „Du hast recht geredet“ heißt wörtlich übersetzt „Du redest Wahrheit“. Diese Antwort des Schriftgelehrten ist der Mittelpunkt unseres Predigttextes. Danach bestätigt der Schriftgelehrte Jesu Antwort, indem er sie mit eigenen Worten wiederholt.

„Du redest Wahrheit“ erinnert an die Aufforderung des Propheten Sacharja (Sacharja 8,16): „Rede einer mit dem anderen Wahrheit!“, hebräisch „Dabru emet!“. „Dabru emet – redet Wahrheit!“ ist eine Erklärung überschrieben, die im September 2000 in zwei großen amerikanischen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Sie trägt die Unterschriften von dreihundert jüdischen Gelehrten und Rabbinern und ist an die Christenheit adressiert – eine positive jüdische Reaktion auf die revolutionären Veränderungen im christlichen Verhältnis zum Judentum, die unter dem Begriff „christlich-jüdischer Dialog“ zusammengefasst werden. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben. Diese Erklärung schlug ein neues Kapitel in den christlich-jüdischen Beziehungen auf. Heute, am Israelsonntag, verdient diese Erklärung eine besondere Erwähnung. Denn sie anerkennt wichtige Gemeinsamkeiten wie z. B. „Juden und Christen beten den gleichen Gott an“ – „Juden und Christen stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches, die Bibel“ – „Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Tora“ – „Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen“. Diese Themen klingen auch in dem Gespräch Jesu mit dem Schriftgelehrten an.

Die Ethik steht höher als das RitualMit seiner Entgegnung fasst der Schriftgelehrte die beiden höchsten Gebote zu einem Gebot zusammen, zu einer Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe: „Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“

Der Schriftgelehrte fügt eine eigene Wertung an. Das Doppelgebot der Liebe als höchstes Gebot bedeutet mehr als das Opfern von Tieren im Tempel, sagt er. Die Ethik steht höher als das Ritual. Dadurch gibt er sich als Pharisäer zu erkennen. Er und viele andere Pharisäer kritisieren nicht grundsätzlich den Tempel, sondern die lieblose Ausgestaltung des Tempeldienstes durch die Priester. Er weiß sich darin einig mit Jesus. Die mit den Hohepriestern verbundenen Sadduzäer würden diese Zurücksetzung des Tempeldienstes nicht akzeptieren.

„Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.“ So endet unser Predigttext. Jesus spricht dem Schriftgelehrten die Nähe des Reiches Gottes zu – eben das, was der Inhalt seines Evangeliums ist: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Näher geht es nicht – noch nicht. Der Schriftgelehrte braucht dazu kein Jünger zu werden, er bleibt ein Pharisäer und ist als solcher nicht fern vom Reich Gottes, wie auch das heutige, von den Pharisäern und Rabbinen geprägte, Judentum. Die Zuhörenden aber merken, dass nach drei unaufrichtigen Fragen an Jesus sich nun eine echte Begegnung ereignet hat über das Wichtigste im Leben, unsere auf Liebe und Wahrheit gegründete Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen.
Amen.

Zitierte QuellenAdorno, Theodor W., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1981 (suhrkamp taschenbuch Bd. 11).
Baeck, Leo, Das Wesen des Judentums, in: Leo Baeck Werke I, hg. v. Albert Friedlander und Bertold Klappert, Gütersloh 1998, S. 236.
Die Bibel, Luther 2017.
Dabru emet: http://www.jcrelations.net/Dabru_Emet__-_Redet_Wahrheit.2419.0.html?id=720&L=2&searchText=dabru+emet&searchFilter=%2A&page=1.
Krochmalnik, Daniel: http://www.freiburger-rundbrief.de/de/?item=1131.

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