12. Sonntag nach Trinitatis (08. September 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrer Friedmar Probst, Alfdorf [friedmar.probst@elkw.de ]

Apostelgeschichte 3, 1-10

3,1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,
8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

IntentionIn der Predigt kombiniere ich theologische Gedanken zur Behinderung und zum Heilwerden mit einem Erfahrungsbericht der ZEIT-Journalistin Sandra Roth. Sie erzählt darin über Erfahrungen mit ihrer behinderten Tochter Lotta.
Ich schlage vor, die Erfahrungen der Journalistin (im Folgenden mit „Leser/in“ bezeichnet) von einer zweiten Person lesen zu lassen, z.B. vom Ambo aus oder vor dem Altar. Durch den Ortswechsel werden das Selbst-Erlebte und die Botschaft jeweils als etwas Eigenes akzentuiert.

(Leser/in)
„Im Sportverein. Ben rennt mit den anderen Kindern um die Wette, ich trinke latte macchiato und lasse Lotta auf meinen Knien reiten. Sie grinst. Eine andere Mutter:
„Wann hat man das denn festgestellt?“
„Die Fehlbildung? Im neunten Monat, 33. Woche.“
„War es da zu spät?“
„Wofür?“
„Um was dagegen zu machen.“
„Das kann man nicht im Mutterleib operieren.“
„Nein, aber…“
Das Wort ‚abtreiben‘ spricht sie schon nicht mehr aus.
Warum gibt es dich, Lotta? Ein behindertes Kind, das muss in Deutschland heute doch nicht mehr sein. Dafür gibt es Vorsorgeuntersuchungen, Pränataldiagnostik, Abtreibungen, notfalls Spätabtreibungen.“

(Kanzel)
Liebe Gemeinde,
die ZEIT-Journalistin Sandra Roth schreibt über die Erfahrungen, die sie mit ihrem behinderten Kind macht. Ihr erstes Kind, Ben, ist ein fröhlicher, gesunder Junge. Beim zweiten Kind, Lotta, wurde kurz vor der Geburt eine Fehlbildung im Gehirn festgestellt. Vena-Galeni-Malformation nennen das die Fachleute. Die Eltern haben sich für das Kind entschieden. Es ist mehrfach behindert: sehbehindert, körperbehindert und geistig behindert.
„Da wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne.“ Behinderungen gehören zur Wirklichkeit unseres Lebens. Das war in biblischer Zeit so, das ist heute so. Jesus hat Menschen mit Behinderungen geheilt. Nicht alle. Nur einige. Er zeigt damit: das Reich Gottes ist im Anbruch. Gott wird einmal Krankheit und Tod überwinden. Er wird abwischen die Tränen von ihren Augen. Jesu Heilungen sind ein Pfand dafür: so wird es sein. Ganz gewiss.
Und Jesus hat auch den Aposteln den Auftrag gegeben. Geht und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund.

(Leser/in)
„Das Wort ‚Behinderung‘ nehmen wir lange nicht in den Mund. Das B-Wort, sagt mein Mann. Als brächte es Unglück, das auszusprechen. Als wir im Urlaub im niederländischen Domburg einen etwa zehnjährigen Jungen im Rollstuhl sehen, festgeschnallt, die Arme rudernd in der Luft, Sabber in Strömen, starren wir hin. Schau dir die Eltern an, sagt mein Mann, so selbstbewusst. Ich sehe den Jungen an und denke: ich weiß nichts über solche Kinder. Findet er es schön am Meer? Was hat er vom Strand, wenn er nicht im Sand buddeln kann? Was, wenn wir in ein paar Jahren wie die Eltern dort am Strand sitzen und Lotta keine Schaufel halten kann?“

(Kanzel)
„Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!“

(Leser/in)
„Der Reha-Buggy ist dann unser Coming-out. Er hat einen Design-Preis gewonnen. Ist blau und grau. Mein Mann sagt, er sieht aus wie ein normaler Kinderwagen. Ich sehe die Bänder, um die Füße zu fixieren, die Gurte und Schrauben und ziehe Lotta ihre schönste Jacke an, die pinkfarbene. Ich setze meine Tochter in den Wagen, zum ersten Mal muss sie nicht liegen, wenn wir rausgehen. Lotta lässt den Kopf zur Seite fallen und sieht eindeutig nicht normal entwickelt aus. Sie lächelt, und ich finde sie schön.
Ben schiebt. ‚Los geht die wilde Fahrt!‘ Ich hebe den Kopf und laufe mit meinen beiden Kindern stolz zur Eisdiele.
An der roten Ampel lacht eine Frau den singenden Ben an, schaut in Lottas Wagen, schaut weg.“

(Kanzel)
Petrus und Johannes haben den Lahmen angesehen und haben mit ihm gesprochen. Das steht so wie nebenbei in der Bibel. Aber es ist nicht selbstverständlich. Die Frau an der Ampel sieht Ben an, lächelt. Lotta ignoriert sie, sie schaut weg.
Was bringt viele Menschen dazu, sich so zu verhalten? Wenn ich einen behinderten Menschen sehe, habe ich eine Mischung aus Angst und Mitleid. Es schießt mir durch den Kopf: Das könnte ja dir auch passieren. Ich selbst oder ein Angehöriger könnte so im Rollstuhl sitzen. Heute werden viele Kinder abgetrieben, bei denen vorgeburtlich festgestellt wird, sie könnten behindert werden. Aber Behinderungen können wir damit nicht aus der Welt schaffen. Behinderungen entstehen durch Verkehrsunfälle, durch Arbeitsunfälle, durch Sportunfälle, dadurch, dass einer vom Apfelbaum stürzt.
Krank, behindert zu sein ist eine Vorstellung, die man von sich schiebt, so lange man nicht betroffen ist. In unserer Welt ist Gesundheit das Höchste. Fitness bis ins hohe Alter. Industrielle Gesellschaften haben die Gesundheit zum herausragenden Ziel ihres Handelns erklärt. Gesundheit gilt als das Wichtigste im Leben. Wenn jemand nicht gesund ist, krank oder behindert: Da muss man doch etwas „machen“ können. Das ist wie eine „Panne“, die man medizinisch beheben können muss. So wird Gesundheit zum Sinn des Lebens selbst. Gesundheit hat eine religiöse Dimension bekommen; sie hat den Stellenwert, den früher das Wort „Seelenheil“ hatte.
Unsere Großeltern sagten: „Behüt dich Gott!“ Wir sagen: „Bleib gesund!“ oder „Pass auf dich auf!“
Da, wo Gesundheit das Höchste ist, da ist Behinderung und Krankheit eine Störung, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Das macht viele unsicher, und aus Unsicherheit schauen sie weg.

(Leser/in)
„Was willst du denn, fragt mich ein Freund. Starren ist schlecht, wegschauen auch – wie sollen wir denn reagieren? Schreib doch mal eine Gebrauchsanweisung! Also gut: Wer alle kleinen Kinder anlacht, sollte auch mit meiner Tochter flirten. Wer sich nicht für Babys interessiert, sollte auch ein behindertes nicht anstarren. In einem Wort: Natürlichkeit.“

(Kanzel)
Petrus fasst den Lahmen an der Hand, und im Namen Jesu heilt er ihn.
Wer krank ist, hat nur einen Wunsch: gesund zu werden. Petrus kann das nicht aus eigner Kraft tun. Jesus gibt ihm die Kraft und die Vollmacht. Jesus Christus ist auch in seiner Kirche wirksam.
Wunder sind und bleiben Ausnahmen. Wir können sie nicht planen. Charismatische Gemeinden mit allwöchentlichen Heilungsgottesdiensten sagen dagegen: Wenn du nur genug glaubst, wirst du gesund.
Das entspricht aber nicht dem Evangelium.
Wir können andererseits auch nicht sagen: Wunder gibt es nicht. Eine Frau sitzt mir gegenüber, erzählt. Der Arzt hat uns gesagt: „Sie können nie Kinder bekommen. Und heute habe ich zwei gesunde Kinder. Ist das nicht ein Wunder?“

(Leser/in)
„Am Strand in Domburg. Ben lässt einen Drachen steigen. Lotta ist fast zwei und kann immer noch nichts mit einer Schaufel anfangen. Ein paar Meter weiter eine andere Familie, das Mädchen baut eine Sandburg. Die Mutter schaut rüber, ich sehe die Frage in ihren Augen. Ja, Lotta gefällt es am Meer, auch wenn sie nicht buddeln kann. Um Glück zu empfinden, muss man nicht laufen können, um zu lieben, nicht sehen können. So selbstverständlich das klingt, ich musste es erst lernen. Wenn Ben Fahrradfahren lernt, ist es ein Wunder, das wir beklatschen, bei Lotta ist es ein Weltwunder, wenn sie ihre Knie knickt. Es sind andere erste Male, doch sie machen mich nicht weniger stolz.“

(Kanzel)
Wunder gibt es auch heute. Wir sind eingeladen, sie zu sehen.
Liebe Gemeinde,
die Bibel weiß: Es gibt eine Unterscheidung zwischen dem irdischen Glück und Wohlergehen (der Gesundheit) und dem ewigen Heil, das allein Gott schenken kann. Dieses ewige Heil können wir nicht machen. Lasst es uns ergreifen im Vertrauen auf den dreieinigen Gott in Glaube, Liebe und Hoffnung. Der Glaube gibt uns die Kraft, der Krankheit standzuhalten, sie zu überwinden oder auch sie anzunehmen. Die Liebe verleiht uns Energie, dem Leid zu begegnen und auf andere Menschen - behindert oder nicht behindert - offen zuzugehen. Und die Hoffnung macht uns fest an der Auferstehung Jesu Christi. In seinem Namen können wir für Menschen hoffen und für das Leben da sein. Amen.

HinweisDie mit „Leser/in“ gekennzeichneten Beiträge habe ich entnommen aus dem Artikel von Sandra Roth, „Der Stuhl meiner Tochter“, ZEIT-Magazin Nr. 3 / 2012, erschienen am 12.1.2012.

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