14. Sonntag nach Trinitatis (22. September 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Christina Jeremias-Hofius, Oberndorf am Neckar [christina.jeremias-hofius@elkw.de]

1. Mose 28, 10-19

IntentionBedingungslos eröffnet Gott eine neue Perspektive und Hoffnung. Die Hörenden sollen sich erinnern (an eine spezielle Geschichte, an Gottes Verheißungen und seine Güte) und darin vergewissert werden.

KontextDer Wochenspruch „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ und der 14.Sonntag nach Trinitatis.: Kleines Ostern inmitten der festlosen Trinitatiszeit.

1. Hinführung: „Vergiss nicht“ heißt „Erinnere dich“Lobe – und: Vergiss nicht das Gute! So heißt es in unserem Wochenspruch, liebe Gemeinde. Vergiss nicht. Je älter man wird, desto mehr vergisst man. Vergiss nicht! Erinnere dich, heißt das. Gelbe Klebezettel helfen bei Kleinigkeiten und anstehenden Aufgaben. Früher soll das ja mit Knoten im Taschentuch funktioniert haben. Im Wochenspruch geht es allerdings um mehr: Erinnere dich, was du Gutes erfahren hast. Beim Erinnern können Orte helfen. „In dieser Kirche wurde ich konfirmiert“ – und alte Geschichten tauchen wieder auf. „Hier hab ich deine Mutter kennengelernt“ – ein Lächeln überzieht das Gesicht – und Geschichten von Liebe und Lachen werden erzählt. Oder beim Aus- und Wegräumen kommen Gegenstände zum Vorschein, und unerwartet werden Erinnerungen wach. „Erinnere dich!“ heißt: Erfahrungen von früher zur Verfügung haben und sie aktiv wieder hervorkramen können. Etwas so in deinem Hirn oder Herzen zu haben, dass du das Gute wieder holen kannst. Und dann steht es dir vor Augen. Und verändert dich, verändert den Moment. Stimmt’s?
Vergiss nicht – hab es parat, hole es wieder, wiederhole es. Erinnern verstärkt Erfahrungen. Wohl dem und der, die gute Erfahrungen griffbereit haben!

2. Erinnern heißt erzählenErinnern: Manchmal spult man dann leise im Kopf einen Film ab. Manchmal will man die Erinnerung teilen und teilt sie dann mit jemanden. Teilt sie mit. Manchmal erzählen andere ihrer Erinnerungen so eindrücklich, dass ich sie in meinen eigenen Erinnerungsschatz einfüge, obwohl ich es gar nicht selbst erlebt habe. Um eine solche Geschichte geht es heute, seit Generationen erzählt, immer wieder erinnert. Aufgeschrieben wurde sie – gegen das Vergessen. Und als Grundlage für neues Erzählen. Denn wer erzählt, erinnert besonders das, was den Moment, das Heute verändern kann.
Aufgeschrieben und Teil des 1. Buches Mose wurde Folgendes:

„Jakob zog aus von Beerscheba
und machte sich auf den Weg nach Haran
und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht,
denn die Sonne war untergegangen.
Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten
und legte sich an der Stätte schlafen.
Und ihm träumte,
und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel,
und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
Und der HERR stand oben darauf und sprach:
Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott;
das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden,
und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden,
und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
Und siehe, ich bin mit dir
und will dich behüten, wo du hinziehst,
und will dich wieder herbringen in dies Land.
Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er:
Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte!
Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.
Und Jakob stand früh am Morgen auf
und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte,
und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf
und nannte die Stätte Bethel.“

3. Erzählung Teil I: Jakobs Ausgangssituation: Einsam, ungeschützt, unterwegs, distanziertJakobs Blick geht zum Himmel. Wieviel Zeit bleibt ihm noch? Die Sonne steht tief. Den ganzen Tag ist er schon gelaufen, er spürt seine Füße. Wo findet er einen Rastplatz? In dieser baumlosen Ebene? Gottverlassen erstreckt sie sich von ihm. Wieder geht sein Blick zum Himmel. Die Zeit läuft ihm davon, genauer die Sonne und ihr Licht. Die Sonne sinkt hier schnell, er ist damit groß geworden. Weitergehen im Dunkel wäre gefährlich und sinnlos. Und einen Fremden nimmt dann eh keiner mehr auf. „Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Die Füchse haben Höhlen, die Vögel Nester“ (Mt 8,20). Doch er? Jakob geht schneller, unruhig scannt sein Blick die Umgebung. Und als die Sonne versinkt, weiß er: An der Stelle muss er bleiben. Beim letzten Licht sammelt er noch ein paar Steine, legt sie zum Rund. In das Steinrund legt er seinen Kopf. Wenigstens der hat etwas Schutz. Ein Hauch von Geborgenheit. Seinen Wanderstab hat Jakob griffbereit an seiner Seite. Stehlen kann man ihm nichts. Er hat ja nichts dabei.
Da liegt Jakob und lauscht in die Nacht. Sehnsüchtig denkt er an zuhause. An seine Decke, an Essen. An seine Mutter und an seinen Vater und, ja, auch an seinen Bruder. Blöde Geschichte, wegen der er jetzt alleine unterwegs ist. Er hat seinen Bruder Esau übers Ohr gehauen, betrogen. Aus Angst vor der Wut von Esau hat seine Mutter dafür gesorgt, dass er, Jakob, aus dem Haus kommt. Sie hat seinem Vater nahegelegt, Jakob weit nach Nord-Osten auf Brautschau zu schicken. Der Vater fand die Idee gut. Und jetzt ist Jakob in Vaters Auftrag und mit dem Segen des Vaters seit ein paar Tagen unterwegs. Wobei: Für Jakob fühlt es sich mehr wie eine Flucht an. Es gab keine Möglichkeit, um mit dem Bruder noch klar zu kommen. Weggehen war sicher richtig. Und mit dem Auftrag geht das auch ohne Gesichtsverlust. Er ist kein Feigling! Er übernimmt Verantwortung. Wenn er sich halt nur nicht so allein und fern von den andern fühlen würde.
Jakob kennt das jetzt schon: Abends kommen die Fragen und die Schuldgefühle. Jakob der Betrüger haben sie ihn genannt. Stimmt ja auch. Hätte er …
Und dann schläft Jakob doch ein. Unter freiem Himmel. Ungeschützt. Im tiefen Dunkel.
Ich an seiner Stelle hätte geweint und Angst gehabt vor unruhigem Schlaf und beunruhigenden Traumfetzen.

4. Erzählung Teil II: Das völlig Unerwartete – Gott im TraumJakob schläft. Und träumt im Dunkel der Nacht. Bilder tauchen auf und erhellen das Dunkel. Da:
ein Gebilde wie eine Treppe oder eine wacklige Stiege, eine Gangway, plötzlich da. Aufgestellt auf der Erde, die Spitze reicht in den Himmel. Sie verbindet Erde und Himmel. Und da: Jetzt gehen Gestalten rauf – wo kommen die plötzlich her? Waren sie vorher schon bei ihm? Sie gehen rauf und runter. Die Gestalten sehen besonders aus. Keine Menschen. Engel? Rauf und runter, rauf und runter. Immer in Bewegung. Flimmernd. Und jetzt – da – oben über ihm, dem Jakob am Boden, da stellt sich Gott auf. Und redet. Teilt sich Jakob mit. Und danach schreckt Jakob auf. Hellwach ist er, sein Puls rast.

5. Erzählung Teil III: Der Inhalt der Rede. Von Jakob wiederholt und gedeutetWas war das denn? Jakob holt sich den Traum zurück. Was war denn das? Das Bild: die Stufen nach oben. Die vielen Gestalten in steter Bewegung. Und oben drüber noch einer.
Vorgestellt hat der oben über ihm sich: Namentlich. Jahwe heiße er, der zuvor namenslose Gott Abrahams und Isaaks. Und dann hat er den Mund voll mit Versprechungen genommen.
Jakob soll das Land haben, auf dem er gerade schläft. Keine große Fläche. Und doch: Seine momentane Grundlage. Die ihn trägt. Grundlage soll Jakob haben, Platz zum Leben, Schlafen und Aufwachen.
Jakob. Und seine Nachkommen! Seltsamer Gedanke. Kinder! Und Kindeskinder!
So viele wie Staub. Jakob lacht leise auf. Was für ein Vergleich. Staub. Immer da. Nie klein zu kriegen. Kehrt sofort wieder zurück. Legt sich auf alles drauf, steckt in jeder Ritze. Was hat seine Mutter über den Staub schimpfen können. Staub! Von Staub sind wir genommen, zu Staub werden wir – plötzlich steckt da statt Vergänglichkeit Zukunft drin. Wie Staub. Dann muss keiner mehr allein unterwegs oder gar einsam sein.
Und dann war da noch etwas – ach ja, er hätte es fast vergessen. Das Versprechen kennt er doch schon aus den Erzählungen von Opa Abraham: Segen hat Gott versprochen. Mit ihm und durch ihn für andere. Und solcher Segen gilt auch für seinen Staub, pardon, seine Nachkommen. Segen geht weiter. In die ganze weite Welt.
Doch das Schönste, das steckt für Jakob in den letzten Sätzen:
Jahwe, der Gott Abrahams und Isaaks, ist für mich da.
Er hat versprochen, mich zu behüten, wohin auch immer ich gehe. Ich gehe! Gott lässt mir die Wahl des Weges. Und geht mit und beschützt. Ha. Morgen bin ich gelassener, wenn ich nicht gleich einen Schlafplatz finde. Unter freiem Himmel bin ich unter Gottes Schutz. In aller Ungeborgenheit bin ich geborgen.
Gott hat versprochen: Er verlässt mich nicht. Unter keinen Umständen. Bis er getan hat, was er mir versprochen hat. Mir. Dem Betrüger. Mir versprochen – um meinetwillen bleibt er bei mir. Die Treue zu seinem Wort ist das eine, die Treue zu mir ist das andere. Und letzteres ist mir soviel wichtiger.
Jakob lächelt. Sein Puls geht schnell. Doch diesmal vor Freude.
Und nach einer Weile schläft Jakob wieder ein.

6. Erzählung Teil IV: Die Konsequenzen des Geträumten und Erinnerten für JakobFrüh am Morgen steht Jakob auf.
Bei Lichte besehen – trägt der Traum? Oder ist er nur ein Trugbild der Nacht?
Jakob trifft eine klare Entscheidung. Von den Steinen rund um seinen Kopf nimmt er einen, stellt ihn auf und markiert den Stein: Jakob gießt Öl darauf. So erschafft er einen Erinnerungsort. Hier stand für ihn der Himmel offen, hier hat sich der Himmel mit der Erde verbunden.
Hierhin kann und soll er wiederkommen. Später mal.
Jakob bricht auf. Aufgeweckt und voller Neugier: Wie sich Gottes Versprechen wohl bewahrheiten? Wo wird er Spuren seines neuen Reisebegleiters entdecken? Wie diese Spuren aussehen werden? Wie es sich anfühlen wird, für andere zum Segen werden?
Jakob zieht los. Unter hohem Himmel – vielversprechend. Die Füße auf dem Boden. Heimatlos und doch mit Grundlage. Und mit Perspektive für das neue Leben.
Jakob geht weiter. Jakob, der Betrüger. Jakob, der von Gott Erwählte. Bedingungslos.
Damit mit ihm und durch ihn alle Geschlechter der Welt gesegnet werden.

7. Die Konsequenzen des Erzählten und Erinnerten für unsVergiss nicht – Erinnere dich: an Jakobs Geschichte und dein Leben.
Nichts hat Gott gefordert. Keine Aufgabe erteilt, keine Bedingung gestellt.
Alles hat Gott von sich aus versprochen: Grundlage, Zukunft und Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg. Segen und das Geschenk, für andere ein Segen zu sein. Seine Gegenwart und sein Mitgehen. So zeigt sich Gott.
Vergiss nicht – Erinnere dich: Dem, der nicht hatte, wo er sein Haupt getrost hinlegen konnte, der hoffnungslose Wanderer, steht in ein verändertes Leben auf. Das geht. Siehe noch grundlegender bei dem Auferstandenen.
Und dann: Auch deiner Lebensreise hat Gott sich als Begleiter zugesagt – explizit in der Taufe. Erinnere dich an seine Spuren in deinem Leben. Und wie du schon für andere zum Segen geworden bist!
Vergiss nicht – Erinnere dich an das Versprechen: Bis es alles wahr geworden ist. Inklusive des Segens für alle Geschlechter der Erde. Solange geht die Jakobsverheißung weiter. Und mit ihr Gottes Güte. Amen.

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