Sexagesimae (16. Februar 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin und Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann, Stuttgart [Evelina.Volkmann@elk-wue.de ]

Ezechiel 2, 1-10; 3, 1-3

2,1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden.
2 Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern, die von mir abtrünnig geworden sind. Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt.
4 Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!«
5 Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.
(6 Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –,
7 sondern du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es; denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.)
8 Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde.
9 Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle.
10 Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.
3,1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel!
2 Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen
3 und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.

HinführungDer Prophet Ezechiel (oder auch Hesekiel ) isst eine Schriftrolle, die von beiden Seiten mit Unheilsworten beschrieben ist. Die Pointe: „… und sie war in meinem Munde so süß wie Honig“ (3,3). In meinen Augen ist das die Besonderheit an dieser Prophetenberufung. Ezechiel – als erster Hörer und Leser der Worte Gottes – verinnerlicht die schweren Worte, die er im Auftrag Gottes dem widerspenstigen Volk Israel sagen soll. Er identifiziert sich mit ihnen mit Haut und Haar. Und er verdaut sie gut. So werden sie ihm – trotz ihres bitteren Inhalts – süß. Für den, der (auf) Gott hört (2,2b), wird Bitteres süß.
Nach jüdischer Schriftauslegung bedeutet das Essen der Schriftrolle, dass ein Mensch, bevor er im Namen Gottes redet, zunächst einmal selber das Wort Gottes bis tief in sein Innerstes aufnimmt (vgl. Ps 40,9).
In Verbindung mit den anderen Perikopen des Sonntags Sexagesimä, die unseren menschlichen Umgang mit dem göttlichen Wort ansprechen, schlage ich vor, zu der Frage zu predigen: Wie gehe ich mit den bitteren Seiten an Bibel und Glauben um, die mir auf Anhieb schwer verdaulich sind? Die mir nicht schmecken oder die ich bitter finde? Die meine Glaubenssicherheit in Frage stellen? Ezechiel als erster Hörer bzw. Leser beeindruckt. Er ist hörbereit. Er verdaut die Botschaft so, dass sie für ihn letztlich sogar süß wie Honig wird.

Liebe Gemeinde!
Wie soll ich das nur schaffen?
Zu beneiden ist er wirklich nicht, der Prophet. Seit ein paar Jahren ist Ezechiel nun schon weit weg von seiner Heimat. Zusammen mit anderen Israeliten befindet er sich in Babylonien – vom Feind dorthin verschleppt. Die Stimmung dort ist düster.
„Wer ist bloß schuld an unserem Elend?“
„Wir sind es nicht. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben keine Ahnung, wie es so weit kommen konnte. Wir sind Opfer.“
Sagen gerade diejenigen, die sich auf ihre eigene politische Kraft verlassen haben – und nicht auf Gott.
„Sicherlich können wir bald nach Jerusalem zurück. Der Tempel fehlt uns so sehr.“
„Gott wird schon dafür sorgen, dass uns nichts geschieht.“
Sagen sehnsüchtig gerade diejenigen, die sich gegen Gott aufgelehnt haben.
Sagen siegessicher diejenigen, die ihre eigene Schuld nicht erkennen.

Genau zu diesen Menschen soll Ezechiel sprechen. Zu Menschen, die sowieso schon wissen, wo es langgeht. Zu Menschen, die sich aber auch gar nichts sagen lassen. Denen soll er im Namen Gottes sagen:
„Euer geliebtes Jerusalem wird fallen.
Der Tempel wird zerstört werden.
Und: Es wird noch lange dauern, bis ihr wieder nach Hause könnt.
Und dann wird alles anders sein als jetzt.
So will es euer Gott.
Denn ihr habt Schuld auf euch geladen.“

Wie soll ich das nur schaffen?, fragt sich Ezechiel.
„Keine Angst, fürchte dich nicht“, spricht Gott.
„Die Israeliten sind tatsächlich total verhärtet. Sie widersprechen, wo sie nur können. Du wirst sie durch deine Worte vermutlich nicht weich bekommen. Das ist mir klar, sagt Gott zu Ezechiel. Ich will nur, dass du überhaupt mit ihnen sprichst. Sie sollen meinen Willen hören, und zwar durch dich. Niemand soll später mal sagen können: Wir haben’s ja nicht gewusst.“
„Ich weiß nicht so recht“, denkt Ezechiel. „Was du mit uns vorhast, ist eine harte Kost. Schwer verdaulich. Bitter für uns alle! Und ausgerechnet ich soll diese Botschaft überbringen? Sie werden mich dafür hassen. Ich traue mir das nicht zu.“

Bitteres wird süß bei GottLieber Ezechiel, widersprich nicht!
Du brauchst auch gar nicht gleich anzufangen mit der Unheilspredigt. Zuerst kommt etwas anderes:
Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. (V 8b)
Etwas zu essen? Von Gott?
Ezechiel sieht eine Hand. Die hält eine Schriftrolle. Ezechiel sieht, dass beide Seiten dieser Rolle beschriftet sind. Und er kann sogar einige Worte entziffern:
Klage. Ach. Weh.
Da ist Ezechiel klar, worum es sich handelt: In dieser Rolle steht genau das, was er seinen Leuten sagen soll. Das, was ihm so schwer fällt zu sagen. Wer überbringt schon gern solche Botschaften?
Klage. Ach. Weh.
Und diese Rolle soll er essen. Er zögert. Einen Gegenstand essen? Wie soll das denn gehen? Vertrage ich das überhaupt? Ist die Rolle wirklich essbar? Gott, meinst du das ernst?
Doch Ezechiel hört auf Gott. Dreimal fordert Gott ihn auf, bis er schließlich die Rolle verspeist. Er schluckt sie hinunter. Ohne dass ihm auch nur ein Bissen im Halse steckenbleibt. Und er behält alles bei sich. Klage, Ach und Weh gelangen in sein Innerstes. Sie werden ein Teil von ihm. Zwischen Ezechiel und der Botschaft Gottes kann nun nicht mehr unterschieden werden. Was an Worten künftig mal aus seinem Mund kommen wird, stammt von Gott. Aber bis dahin wird noch etwas Zeit vergehen. Ezechiel wird Klage, Ach und Weh erstmal gründlich verdauen. Er wird schweigen, sich sammeln, zuhören, bevor er dann später vor die Israeliten treten wird.
Ezechiel spürt: Klage, Ach und Weh – das kommt von Gott. Aber gerade weil es von Gott kommt, ist es nicht Gottes letztes Wort. Durch das Unheil hindurch wird es gut weitergehen.
Während er noch so denkt und isst, werden ihm Klage, Ach und Weh auf der Zunge süß wie Honig.
Bitteres wird süß bei Gott.

Schmecket und sehet, wie süß Gottes Wort istFür jüdische Kinder gibt es seit dem Mittelalter einen interessanten Brauch. Ich weiß nicht, ob er heute noch genauso oder ähnlich besteht. Aber er erinnert an Ezechiels Honigschmecken. Die Kinder sind in dem Alter, in dem sie anfangen, Lesen zu lernen. Sie erhalten in ihren ersten Unterrichtsstunden kleine Schiefertafeln. Auf denen stehen der Anfang und das Ende des hebräischen Alphabets. Der Lehrer liest den Kindern die vier ersten Buchstaben laut vor. Er beginnt mit Aleph, dann folgen Beth, Gimmel, Daleth. Die Kinder sprechen es ihm nach. Es folgen die letzten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets. Wiederum sprechen die kleinen Kinder dies laut nach. Dann beträufelt der Lehrer die Buchstaben auf der Tafel der Kinder mit Honig. Die Kinder lecken den Honig mit der Zunge von den Buchstaben. So schmecken sie, wie süß die Buchstaben sind. Außerdem gibt es Kuchen in Form von Buchstaben, aus Mehl, Honig, Öl und Milch gebacken. Dies erinnert nicht nur an Ezechiel, sondern auch an ein Wort aus Psalm 119: ‚Dein Wort ist in meinem Mund süßer als Honig.‘ (Psalm 119,103)
Lernen ist manchmal bitter. Das Leben auch. Selbst Gottes Wort erscheint manchmal bitter. Doch von Anfang ist da auch der süße Geschmack von Honig auf der Zunge. Die Kinder erfahren: Auch wenn ich vielleicht an etwas schwer zu schlucken habe – es besteht die Hoffnung, dass es süß wird. Heute bekommen die Kinder Schultüten mit Süßem zur Einschulung. Vielleicht ist das auch so ein Versuch, ihnen das Lernen zu versüßen, auch wenn es manchmal mühsam sein wird.

Durch Leid hindurch den Honig schmeckenWie gehe ich mit Dingen um, die mir schwer verdaulich sind? Die mir nicht schmecken oder die ich bitter finde? Wie bewältige ich Umstände, an denen ich schwer zu schlucken habe?
Eine Frau erzählt, wie schwer für sie das Leben mit ihrem dritten Kind ist. Es hat das Down-Syndrom. Sie liebt ihren Sohn, würde ihn auch nie hergeben wollen. Sie spricht von der Krise nach seiner Geburt vor etwa neun Jahren. Wie sie und ihr Mann bewusst Ja gesagt haben zu diesem Kind. Wie sie einfach das Beste daraus machen wollten. Und wie schwer es doch sei. „Mein Sohn ist kein ‚pflegeleichtes‘ Trisomiekind, das immer nur lacht und lieb ist“, sagt sie. „Im Gegenteil, er schreit meine Freundinnen an, er stört, er pöbelt. Und er ist eben kaum zu erziehen. Das Leben mit meinem Sohn ist bitter.“
Wie ist das mit dem Honig bei ihr? Bitteres wird süß bei Gott?!
Die Pfarrerin schweigt. Und hört zu. Nach einer Weile sagt sie: „Ihr Kind ist ein Geschöpf Gottes. Ich weiß nicht genau, was Gott Ihnen damit schenken will. Aber ich glaube tief und fest: Im Leben Ihres Sohnes gibt es – im Bild gesprochen – Süßes zu finden. Sicherlich nicht jeden Tag gleichviel. Aber schon.“
Sie denkt nach, bedankt sich und meint: „So habe ich das noch nie betrachtet.“
Und es ist klar: Nur sie selber kann den Honig in ihrem Leben und im Leben ihres Sohnes entdecken. Die Pfarrerin kann ihr nur sagen; es gibt ihn. Das ist ihr Glaube.

Mithilfe von Schrift(rollen) das Bittere süß werden lassenUnd wenn ich nun als Kind nicht mit Honig beim Lesenlernen erfahren habe, wie Anstrengendes süß werden kann?
Und wenn ich als Erwachsene/r einfach niemanden finde, der mir zuhört, der mich versteht, der mich berät, mir weiterhilft?
Was dann?
Dem Propheten Ezechiel hat eine Schriftrolle geholfen. Die hat er gegessen und gut verdaut. Heute helfen Bücher, Artikel in Zeitungen, Briefe … Viele Menschen schreiben auf, was ihnen in der Krise geholfen hat. Sie erzählen, wie sie Schritt für Schritt das Bittere verdauen konnten. Was ihnen dabei geholfen hat. Sie beschönigen nichts.
Wenn Sie gerade kein solches Buch zur Hand haben, dann empfehle ich Ihnen: Lesen Sie doch das Buch des Propheten Ezechiel. Es ist lang – 48 Kapitel. Sie können sich dafür gern viel Zeit nehmen. Sie müssen es nicht an einem Abend verschlingen. Und Sie werden selber schmecken: Bitteres wird süß bei Gott. Der Prophet verkündigt den Israeliten Klage, Ach und Weh. An ihrem Verhalten ändert sich dennoch nichts. Dann passiert es: Jerusalem wird tatsächlich zerstört. Der Tempel liegt in Schutt und Asche. Diese Nachricht dringt auch ins entfernte Babylonien durch, wo inzwischen noch viel mehr Israeliten hin verschleppt wurden. Klage, Ach und Weh sind wirklich geworden. Unübersehbar, spürbar für alle.
Und damit ändert sich die Aufgabe des Ezechiel. Nun hat er von Gott den Auftrag:
Die zerschlagenen Menschen aufrichten,
ihnen zu neuem Glauben verhelfen.
Verzweifelte Menschen trösten,
sie auf die neue Zukunft nach der Katastrophe vorbereiten. Auf eine Zukunft, in der das Leben weitergehen wird. Mit einem neuen Tempel. Mit einem Gott, der die Menschen nach wie vor liebt.
Amen.

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