Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (01. März 2020)

Autorin / Autor:
Dekan Michael Werner, Ludwigsburg [Dekanatamt.Ludwigsburg@elkw.de]

1. Mose 3, 1-19 (20-24)

IntentionDie Geschichte von den ersten Menschen im Garten Eden erzählt davon, wer wir sind. Wir wollen es wissen, wir überschreiten Grenzen, wir finden und verlieren uns. Am Ende sind wir jenseits von Eden – aber nicht ohne Gott.

3,1 Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hat-te, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?2 Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! 4 Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
6 Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. 7 Da wurden ihnen beiden die Augen auf-getan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.
8 Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäu-men im Garten. 9 Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? 10 Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. 11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? 12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß. 13 Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß. 14 Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. 15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. 16 Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. 17 Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.
(20 Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. 21 Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. 22 Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! 23 Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24 Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.)


Liebe Gemeinde,
wer sind wir? Urgeschichte nennen wir die Geschichten, mit denen die Bibel beginnt. Es sind Anfängergeschichten, die von unserem Anfang erzählen. Dabei sind sie nicht wirklich an un-serer Vergangenheit interessiert. Was früher einmal war, ist nicht ihr Ding. Jedenfalls nicht vorrangig. Ihr Ding ist vielmehr die Gegenwart. Ihr Ding sind wir. Die biblischen Geschichten vom Anfang meinen uns. Sie erzählen, wer wir sind und warum wir so sind wie wir sind. Und sie erzählen, warum die Welt, in der wir so sind wie wir sind, ihrerseits so ist, wie sie ist. Biblische Urgeschichten halten uns einen Spiegel vor. Damit uns die Augen geöffnet werden. So wie das auch in der Geschichte vom Sündenfall, wie wir sie immer noch nennen, geschieht.

Die Grenze in der MitteDabei fängt diese Geschichte nicht bei uns selbst an. Sie nähert sich uns in Gestalt einer Schlange. Klüger als alle anderen Tiere nennt sie die Geschichte. Wenn man uns kriegen und uns die Augen öffnen will, muss man klug sein. Und die Schlange ist klug. Sie weiß, wie man uns in ein Gespräch verstrickt und unsicher macht, was bisher fraglos war. „Sollte Gott gesagt haben?“ Nein, das hat Gott natürlich nicht gesagt. Nicht alle Bäume im Garten, nicht alle Früchte sind verboten. Nur eben dieser eine Baum. Der in der Mitte. Und schon ist er da. Unübersehbar. Der Baum. Verlockend anzusehen: „Eine Lust für die Augen“. Früchte, die klug machen und uns die Augen öffnen. Oder täuscht das? Sieht dieser eine Baum nur deshalb besonders gut und verlockend aus, weil seine Früchte unerreichbar sind? Weil sie uns etwas bieten, was wir noch nicht haben? Mehr haben wollen als wir haben und als uns gut tut, darin sieht bereits die antike Philosophie die Ursache vieler Schwierigkeiten, die wir uns und einander bereiten.

Aber wäre das nicht gut: Mit offenen Augen durch die Welt gehen. Wissen, was gut und was böse ist. Sein wie Gott. Also im Grund dem Bild, dem Ebenbild näher kommen, nach dem wir und zu dem wir geschaffen sind? Und ausgerechnet das soll die Grenze sein, mitten in unserer Welt, über die wir ohne Schaden nicht hinweggehen sollen? Keine Grenze an den Rändern. Keine Mauer, die irgendein „wir“ von einem „die andern“ trennt. „Die Grenze des Menschen ist in der Mitte seines Daseins, nicht am Rand“ (Dietrich Bonhoeffer). Es geht nicht um die Grenzen unserer Möglichkeiten, die wir mit technischen Entwicklungen und mit Forschung und Fortschritt verbinden. Die Grenze in der Mitte betrifft unser Menschsein: „Wir sollen Menschen sein, nicht Gott. Das ist die Summa“ (Martin Luther). Es geht, auch davon erzählt diese Geschichte, um das richtige Maß. Das menschliche Maß in dem, was wir sind und was wir tun. Grenzenlos leben kann keiner.

Was uns zu Menschen machtAber was genau ist dieses menschliche Maß? Auch das stellt die Schlange und mit ihr die Geschichte von unserem Anfang in Frage. Gehört das nicht auch zu uns: Dass wir wissen wollen, was hinter den Dingen ist? Ja, zweifellos. Auch das sind wir. Menschen, die es wissen wollen. Immer schon. Von Anfang an. Man muss uns nur entsprechend fragen. Unser Interesse wecken. Unsere Neugier. Dann steht auf einmal auch die Grenze in der Mitte in Frage. Dieser eine Baum, dessen Früchte wir noch nicht kennen – dass es sich um Äpfel handelt, davon weiß die Geschichte übrigens nichts. Verlockend sind sie nicht, weil sie so makellos aussehen, als kämen sie aus dem Discounter. Sondern weil sie uns ein Mehr versprechen, das uns ganz nahe an den heranbringt, von dem wir herkommen. Sein wie Gott, liebe Gemeinde, ist keine abstrakte Definition von Sünde. Es ist die äußerste Möglichkeit, unser Leben zu steigern. Sein wie Gott heißt: gerade nicht mehr auf einen letzten Grund, der uns trägt, angewiesen zu sein. Nicht mehr „Gottes zu bedürfen“ (Sören Kierkegaard) und darin unsere eigentliche Bestimmung und Vollkommenheit zu sehen. Sondern selber wissen, was gut und böse ist. Sich selber gründen und verankern; sich selber Mitte sein.

Es ist kein Zufall, liebe Gemeinde, dass es mindestens zwei Deutungen dieser Geschichte über unseren Anfang gibt. Die eine, verlockende Variante sagt: Mit dem Griff nach der verbotenen Frucht ist der Weg in die Freiheit und in unser eigentliches Menschsein verbunden. „Der Anfang unseres moralischen Daseins“ (Friedrich Schiller). Wir sind Menschen, die es wissen wollen und deshalb aus dem Garten unserer „träumenden Unschuld“ heraustreten. Wir wissen um gut und böse und können entsprechend handeln. Wir sind frei und deshalb fähig, Verantwortung zu übernehmen. Für uns selbst. Für andere. Für die uns umgebende Welt. Der Baum der Erkenntnis hat eine große Tür zur Welt aufgemacht. Dahinter wartet eine Aufgabe, vor der wir bis heute stehen. Eigentlich ein Paradox: Ausgerechnet der Regelverstoß führt dazu, dass wir den letzten und zugleich notwendigen Schritt auf dem Weg zu unserem Menschsein finden.

Die andere Deutung ist zurückhaltender. Sie sieht, was dabei verloren geht und was wir zurücklassen. Die Bibel kritisiert unser Wissen-Wollen und unser Streben nach Erkenntnis und Weisheit ansonsten an keiner Stelle. Aber nüchtern bleibt sie doch. Und sie weiß um den Preis, den es hat, wenn wir um gut und böse wissen und ohne Gott wie Gott sein wollen. Auch davon erzählt die Geschichte.
Das Erste ist: Ja, wir sehen mehr. Wir sehen plötzlich, dass wir nackt sind. Das waren wir zwar schon zuvor. Aber wir haben es offensichtlich nicht bemerkt. Der Zustand, in dem ich mich einem andern Menschen gegenüber unvoreingenommen öffnen und mich so zeigen kann, wie ich bin, ohne Angst und ohne das ungute Gefühl: Was weiß der Andere dann über mich? Was denkt er über mich? Wird er ausnützen, was ich ihm anvertraut habe? Dieser Zustand liegt nun hinter uns. Wo wir ihn dennoch erfahren im gegenseitigen Vertrauen und in der Liebe, gewinnen wir ein Stück vom verlorenen Garten zurück. Ein Stück. Denn ganz frei von der Sorge um uns selbst und unsere Wahrnehmung durch andere ist niemand von uns. Was die Geschichte mit diesem unscheinbaren Hinweis sichtbar macht, ist ein Verlust. Ein Weniger an Vertrauen – auch das Vertrauen, das wir Glauben nennen – ist der erste Preis für unsere geöffneten Augen und für unseren Aufbruch in die Freiheit. Wir müssen es uns neu schenken lassen und nicht selten darum ringen. Daran erinnert die Jahreslosung in diesem Jahr: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9, 24)

Das Zweite ist: Nein, Freiheit und Verantwortung verstehen sich nicht von selbst. Wir sind nicht von Anfang an fähig, für das, was wir tun, gerade zu stehen und Verantwortung zu übernehmen. Im besten Fall üben wir noch. Und wir haben – wie alle Übenden – die Neigung, Verantwortung von uns zu schieben, wenn es ernst wird. Dann machen wir andere für unsere Lage verantwortlich. So wie die beiden Menschen im Garten: Die Frau ist schuld, die du mir zur Seite gestellt hast. Die Schlange war es, dein Geschöpf, das du geschaffen hast. Jede und jeder findet zum Glück noch einen, den er für sein Tun verantwortlich machen kann. Und in allem der kaum versteckte Vorwurf: Im Grund bist du, Gott, doch selbst an allem schuld. Du hast angefangen. Mit uns und mit dieser Welt. Trägt nicht der Schöpfer Verantwortung für sein Geschöpf? Wir sind bis heute gut darin, Schuld und Verantwortung großzügig weiterzureichen.

Dabei geht es in dieser Geschichte auch um die Einsicht, dass ich mich der Frage, wer ich bin und wofür ich stehe, nicht entziehen kann. „Adam, wo bist du?“ fragt Gott, der uns auch dann noch nachgeht, wenn wir uns vor ihm verstecken. Wir dürfen an dieser Stelle bei pas-sender Gelegenheit übrigens ruhig unseren eigenen Namen einsetzen. „Wo bist du?“ Ja, wo bin ich eigentlich, wenn es um mich und mein Vertrauen, mein Glauben, Hoffen und Lieben, aber auch mein Tun und Lassen, meine Entscheidungen und deren Folgen geht?

Das Leben geht weiter„Wo bist du?“ Diese Frage geht mit. Denn das Leben geht ja am Ende weiter. Auch außerhalb des Gartens. Jenseits von Eden. Dort leben wir. Bis heute. Dass dieses Leben nicht ohne Verheißung ist, davon erzählt diese Geschichte auch. Auch wenn man es nicht gleich sieht.
Das Leben jenseits von Eden ist nicht einfach. Wir haben Kinder. Sie werden geboren und kommen zur Welt. Aber es geschieht unter Schmerzen. Eltern wissen: nicht nur bei der Geburt. Unser Leben ist verletzlich und gefährdet. Oft genug gefährden wir uns selbst.
Es bleibt die Gemeinschaft. Auch außerhalb des Gartens. Es gibt immer noch gelingende Beziehungen und Partnerschaft. Und doch geht ein Riss durch unsere Welt. Das Schöne ist nicht nur schön. Beziehungen scheitern. Wir werden einander nicht immer gerecht. Wir wissen nicht nur um gut und böse. Wir sind auch in beides verstrickt.
Arbeit gehört zum Leben jenseits von Eden. Sie ist notwendig. Zum Glück. Die meisten von uns bebauen und bewahren zwar nur kleinere Gärten. Aber es ist schön, etwas tun zu können. Arbeit, sinnhafte Arbeit ist wichtig. Sie ist mit Anstrengung verbunden. Und sie ist höchst ungleich verteilt. Es gibt nicht nur den Erfolg, wir ernten nicht nur, wo wir säen. Es gibt auch das Scheitern, die Erfahrung des Vergeblichen. Es gibt die vielfachen Gefährdungen unseres Lebens und unserer Welt, im Großen wie im Kleinen. Wir entkommen uns nicht. Und trotzdem: Wir sind uns nicht selbst überlassen.

…mit GottAuch das geht mit. Ebenbild Gottes, Gottes Bild nennt uns die Bibel ganz am Anfang und macht damit deutlich, dass man uns immer schon in einer letzten und besonderen Beziehung sehen muss, wenn man uns ganz sehen will. In dieser Beziehung liegt begründet, was wir un-sere Würde nennen. Die Geschichte vom Garten in Eden erzählt auf ihre Art davon, was es mit diesem Ebenbild im Allgemeinen und mit unserer Würde im Besonderen auf sich hat. Wer mit dieser Geschichte umgeht, bekommt eine Ahnung davon, wie gefährdet unsere Würde ist und wie sehr wir selbst diese Würde immer wieder gefährden. Was bei Adam und Eva beginnt, setzt sich bei Kain und Abel fort und geht dann weiter. Das Bild Gottes sieht man uns jedenfalls nicht an der Nasenspitze, auch nicht an der Haarfarbe oder an den Augen an. Oft kann man auch auf den zweiten und dritten Blick herzlich wenig davon erkennen. Und doch nimmt die Bibel nichts davon zurück. Im Gegenteil: Um unsere Würde zu wahren, macht Gott am Ende der Geschichte den beiden Menschen Röcke aus Fell für das Leben draußen. Das Leben soll nicht nur irgendwie weitergehen. Es soll gut weitergehen. Mit Gott. Dass ist, bei allen Deutungen, das eigentlich gute Ende dieser Geschichte. Amen.

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