Lätare / 4. Sonntag der Passionszeit (22. März 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Martin Weeber, Stuttgart [martin.weeber@elk-wue.de]

Jesaja 66, 10-14

IntentionWie eine gute Mutter stillt Gott großzügig unseren Lebenshunger.

66,10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. 14 Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

Vollkommenes GlückWenn der Säugling hungrig ist, dann schreit er und ist unruhig. Wenn er dann an der Mutterbrust ausreichend trinken darf, dann wird er nicht nur satt, sondern auch ruhig, still. Als „Stillen“ bezeichnet man daher diesen elementaren Vorgang. Wenn es klappt mit dem Stillen, dann ist in dem Moment und hinterher alles so, wie es sein soll: Vollkommenes Glück für Mutter und Kind. Nichts mehr fehlt in dem Moment dem Kind: Nähe, Geborgenheit, Zufriedenheit, die Wärme der Haut. Und die Mutter freut sich und ist zufrieden, glücklich.
Eine Mutter, die ihr Kind stillt: eine Szene so alt wie die Menschheit überhaupt. Die Mutter gibt, das Kind empfängt. Einerseits ein ganz natürlicher Vorgang. Andererseits eine schutzbedürftige Angelegenheit. Nicht immer klappt es so, wie es soll. Manche jungen Eltern wissen ein Lied davon zu singen. Aber wenn es gut geht, dann eben: Ruhe, Friede, Stille. Das Kind ist zufrieden, die Mutter ist erleichtert – und der Vater hoffentlich auch.
Für manche ist es unpassend, wenn eine Mutter ihr Kind öffentlich stillt. Andere finden da überhaupt nichts dabei. Solche Einschätzungen sind abhängig von der Zeit und von den Umständen, und sie ändern sich im Laufe der Zeiten.
Der Prophet, der unseren Predigttext verfasst hat, kennt da keine Scheu oder Scham: Ganz offen und sinnlich beschreibt er das Stillen und beschreibt die Quelle der Freude, die da dem Säugling zuteil wird: eine volle Mutterbrust. Und der Säugling saugt sich satt, und er wird liebkost, und er wird umhergetragen, innig und liebevoll – und er genießt.
Genussvolle, sättigende, wärmende, herzergreifende Zuwendung: vollkommenes Glück.
In diesem herrlichen Bild beschreibt der Prophet aber nun nicht einfach das zwischenmenschliche Glück.
Er beschreibt damit auch, wie er sich das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen vorstellt:
Genau so will Gott das haben: Er will die Menschen stillen, so wie eine Mutter ihr kleines Kind stillt. Er will ihnen geben, was sie brauchen. Und er will, dass sie sich freuen. Er will, dass sie seine Nähe spüren und dass sie seine Nähe genießen: Gott und Mensch Herz an Herz.

Innig und zartIch finde es großartig, dass die Bibel so elementar und anschaulich und sinnlich von der Liebe Gottes zu uns Menschen redet. Man wird ja fast ein wenig verlegen, wenn man den Vorgang des Stillens so liebevoll beschreiben möchte. Aber der Prophet hat hier, wie gesagt, keinerlei Scheu.
Wir finden in der Bibel vielerlei Bilder von Gott. Aber für mich ist keines so anrührend wie dieses.
Manche von uns haben noch die Meinung im Kopf, das sogenannte Alte Testament zeichne ein strenges und unnachgiebiges Bild von Gott: Hier jedenfalls begegnet uns das innigste und zarteste Bild von Gott überhaupt: Er stillt uns, wie eine Mutter ihr kleines Kind stillt.
Man kann über Gott sehr kompliziert nachdenken und von ihm reden. Das hat auch sein Recht und ist von einer gedanklichen Schönheit, die manche fasziniert.
Aber dieses wunderbare Bild von der stillenden Mutter und ihrem Kind geht doch viel direkter zum Herzen. Und trotzdem sagt es so viel über uns aus:
Wir sind bedürftig und angewiesen auf Unterstützung. Darauf, dass man uns nicht verhungern lässt. Darauf, dass jemand sich ansprechen lässt durch unsere Schwäche. Darauf, dass uns jemand nicht fallen lässt. Darauf, dass uns jemand seine Nähe spüren lässt. Und darauf, dass uns jemand all dies nicht nur widerwillig gibt, sondern freudig.
Wie schön, wenn wir uns genau so fühlen dürfen wie so ein Säugling, dem eine volle Mutterbrust Nahrung, Nähe und Wärme gibt.
Für den Propheten verbindet sich die Zuwendung Gottes mit der Stadt Jerusalem. Jerusalem ist für ihn der Ort der konkreten Zuwendung Gottes. Jerusalem ist für den Propheten damit der Sehnsuchtsort schlechthin. Hier spiegelt sich die Sehnsucht von Menschen wider, die lange fern ihrer Heimat leben mussten – in dem Wissen, dass es um ihre Heimat schlecht steht.
Nun aber geht es der „Mutterstadt“ Jerusalem wieder gut. Sie kann ihre Kindlein wieder nähren:
„Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.“

Freuet euchWer solches vor Augen hat, freut sich mit.
„Freuet euch“ – mit dieser Aufforderung beginnt unser Predigttext. „Freuet euch“ – auf lateinisch heißt das „Laetare“. Und von diesem Wort her hat der heutige Sonntag seinen Namen: ein Freudensonntag mitten in der Passionszeit.
Man kann sich darüber wundern, dass dieser schöne Text erst jetzt zum Predigttext gemacht worden ist. Vielleicht erschien früheren Zeiten das Bild der stillenden Mutter als ein zu weibliches Gottesbild? Vielleicht nahm man auch Anstoß daran, dass die Zuwendung Gottes hier so eng mit der Stadt Jerusalem verknüpft wird?
Wie dem auch sei: Ich freue mich sehr darüber, dass dieser wunderbare Bibelabschnitt nun in den Reigen unserer Predigttexte gehört. Und ich stimme auch nicht ein in die Kritik mancher Gelehrter, die es bemängeln, dass den Worten des Propheten ein Moment der Schadenfreude nicht fremd sei. In der Tat: Am Schluss ist die Rede davon, dass Gott zornig sei über seine Feinde. Und dieser Zorn zeige sich darin, dass es jetzt eben Gottes Freunden, seinen „Knechten“ jetzt so gut gehe. Diese allzu menschliche Anwandlung kann ich dem Propheten gut verzeihen: Ich stelle ihn mir einfach als einen sehr leidenschaftlichen Menschen vor. Und im Überschwang der Leidenschaft mag dann schon einmal die erlittene Kränkung kurz zur Sprache kommen. Das würde ich nicht zu hoch hängen.
Wofür ich den Propheten aber liebe, ist das wunderbare Gottesbild der großzügig tröstenden und versorgenden Mutter. Irgendwie schon auch mutig, so von Gott zu reden. Weder philosophisch-abstrakt noch in den gewohnten Bahnen der religiösen Sprache. Sondern ganz anschaulich: Wie eine Mutter stillt Gott großzügig unseren Lebenshunger. Es ist genug für uns da.
Wäre ich Lektor in einem Verlag (also jemand, der entscheidet, ob ein eingereichtes Manuskript gedruckt werden soll) oder wäre ich Chefredakteur einer Zeitung, dann würde ich sagen: „Diesen Autor müssen wir an uns binden. Der beherrscht sein Handwerk.“ Warum? Weil er die alte Autoren- und Journalistenregel beherrscht, die da heißt: „Beschreibe nicht etwas, sondern zeige es.“ Man hat doch sofort ein Bild vor Augen, wenn man das liest:
„Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Ihr werdet saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.“
Man muss da gar nicht groß aufgefordert werden, sich zu freuen: Man sieht es – und das Herz geht einem auf. Man spürt es geradezu, wie man selber getragen und liebkost und gestillt wird: Alles einfach wunderbar.
Endlich einmal keine Mühe, keine Anstrengung, kein Kampf: Was man braucht, wird einem gegönnt und gegeben.
Gewiss: All das gehört auch zum Leben – die Mühe, die Anstrengung, der Kampf. Wir leben nicht mehr im Paradies. Und in bitteren Momenten stimmen wir vielleicht zu, wenn jemand sagt: „Es wird dir nichts geschenkt im Leben.“ Manche Menschen haben es ja auch wirklich nicht leicht. Und in manchen Weltgegenden ist auch heute noch das Leben für die Menschen tatsächlich ein täglicher Kampf.
Für sie ist das, was der Prophet beschreibt, ein Traum, bestenfalls eine Verheißung, eine Sehnsucht, eine Hoffnung.

Großzügig beschenktFür uns aber ist es doch eine Erfahrung, die wir immer wieder machen durften und machen dürfen: Wie großzügig wird uns doch gegeben, was wir brauchen! Welch eine Fülle an Schönem und an Glück wird uns geschenkt!
Kinder, die verlässlich versorgt werden, die bilden ein vertrauensvolles Verhältnis zur Welt aus. Sie erwarten im Grundsatz Gutes. Das heißt nicht, dass sie nicht irgendwann auch merken müssen, dass sie manchmal auch vorsichtig sein sollten. Aber es geht darum, dass ihre Grundeinstellung zur Welt und zum Leben eine positive ist.
Um nichts anderes geht es letztlich auch im Glauben: Dass wir Gott zutrauen, dass seine Güte stärker ist als alles Bedrohliche und als alles Mangelhafte. In der Sprache der Psalmen: „Der Herr ist mein Hirte – mir wird nichts mangeln.“ In der Sprache des Propheten: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“
Amen.

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